Die Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse war in den 2000er Jahren das erklärte Hauptziel der russischen Politik. Tatsächlich verbesserte sich die wirtschaftliche Lage des Landes in den ersten zwei Amtszeiten Putins erheblich. Die Stabilisierung als politisches Projekt ging jedoch mit einer Konzentration der Macht in den Händen des Präsidenten einher.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 schrumpfte die Wirtschaft bis 1998 um über 40 Prozent1, das verfügbare Einkommen der Bürger halbierte sich, der Staat war hochverschuldet und die politischen Eliten waren in wirtschaftliche und politische Machtkämpfe verstrickt.2 All das bescherte den Schlagwörtern der 1990er Jahre – „Reformen“, „Märkte“ und auch „Demokratie“ – gegen Ende des Jahrzehnts eine zunehmend negative Konnotation. Dagegen formte sich die „Stabilisierung“ als neuer politischer Auftrag.
Die Finanzkrise von 1998 bildete sowohl den wirtschaftlichen Tiefpunkt als auch den Anstoß zur Verbesserung der Lage. Erstens schwächte sie die Oligarchen, die in den 1990ern um politischen Einfluss gerungen und den Zentralstaat destabilisiert hatten. Zweitens begünstigte die Abwertung des Rubels den Schuldenabbau und setzte durch verteuerte Importe einen Anreiz zur Stärkung der heimischen Produktion. Ein steigender Ölpreis (zwischen 2000 und 2008 stieg der Rohölpreis um über 200 Prozent) und ausländische Direktinvestitionen, die infolge der monetären Stabilisierung ins Land flossen, trugen dazu bei, dass die Löhne rasant anstiegen. Im Jahr 2007, nach acht Jahren konstanten Wirtschaftswachstums, lag das Bruttoinlandsprodukt wieder auf dem Niveau von 1990.
Unter Präsident Putin war die Fiskal- und Wirtschaftspolitik dezidiert auf eine Stabilisierung ausgelegt.3 Die Inflationsrate wurde zwischen 9 und 14 Prozent gehalten, und auch der Wechselkurs des Rubels blieb im Vergleich zu Euro und US-Dollar relativ stabil. Im Jahr 2004 wurde ein Stabilitätsfonds geschaffen, der überschüssige Rohstoffeinnahmen zur Finanzierung des Staatsbudgets in Krisenzeiten anlegte. Gleichzeitig versäumte es die Politik in den Jahren des wirtschaftlichen Booms jedoch, die Wirtschaft aus ihrer Rohstoffabhängigkeit zu befreien.
Das Programm der Stabilisierung wurde auch politisch umgesetzt. So verfolgte die Regierung gezielt die Entpolitisierung der Wirtschaft, indem sie einflussreiche Unternehmer zur Loyalität animierte, bei Widerstand deren Konzerne unter Druck setzte und teilweise zerschlug und verstaatlichte. Die politische Stabilisierung äußerte sich ferner in der Errichtung einer Machtvertikale, in der alle staatlichen Einrichtungen faktisch dem Präsidenten untergeordnet wurden. Laut dem Politikwissenschaftler Wladimir Gelman befindet sich das politische System durch den Stabilitätszwang in einer „Institutionenfalle“: Stabilität sei ein Zweck an sich geworden, der jede Reforminitiative ersticke.4 Auch auf gesellschaftlicher Ebene wirkte ein ungeschriebener Pakt: Die Bürger kamen zwar in den Genuss wirtschaftlicher Verbesserungen, mussten im Gegenzug aber massive Einschränkungen bei ihren Mitspracherechten sowie im Bereich der politischen Freiheiten hinnehmen.
Die Stabilisierungspolitik hatte noch einen weiteren Preis. Im Austausch für politische Loyalität konnten zentrale Akteure in Wirtschaft und Politik ungestört ihr Vermögen in sogenannten „Offshore-Standorten“ wie Zypern und den British Virgin Islands unterbringen. Diese Steueroasen werden genutzt, um dem Zugriff des russischen Staates zu entgehen und um durch Korruption erzielte Gewinne zu „waschen“. Im Jahr 2011 lagerte laut offiziellen Statistiken russisches Kapital in Höhe von 106 Milliarden US-Dollar außerhalb der Landesgrenzen.6 Das entsprach etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Indem er stets die kausale Verbindung von Zentralisierungspolitik und wirtschaftlichen Verbesserungen herausstellte, gewann Putin aus der Stabilitätsdoktrin erhebliches politisches Kapital. Seit jedoch in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 das rasante Wirtschaftswachstum zum Erliegen kam und Putins Beliebtheit vorübergehend abnahm, legitimiert sich das System zunehmend durch den Rekurs auf äußere Feinde – etwa beim Vorgehen gegen ausländische Nichtregierungsorganisationen und im Krieg im Südosten der Ukraine.