Maryja Martysievič, geboren 1982 in Minsk, gehört zu den bekanntesten Stimmen der zeitgenössischen belarussischen Poesie. Sie hat mehrere Bücher vorgelegt und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, auch für ihre journalistische Arbeit und ihre Übersetzungen aus dem Polnischen, Tschechischen, Englischen oder Ukrainischen. In ihren lyrischen Arbeiten macht sie sich immer wieder auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Landsleute, wie in ihrem Langgedicht Sarmatia.
Auch in ihrem Essay für unser Projekt mit der S. Fischer Stiftung Spurensuche in der Zukunft begibt sie sich in die Tiefen belarussischer Rätselhaftigkeit und dekodiert sie mit den Mitteln der poetisch-literarischen Wahrheitserkundung.
„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Antanina Slabodchykava
Die Zukunft des Menschen muss man in seiner Vergangenheit suchen. Ich pflichte allen bei, die das sagen. Und vor allem teile ich Benedict Andersons Ironie, wenn er sagt, wann immer eine Gemeinschaft sich für eine Nation hält, beginnt sie – die Neugeborene – sofort Beweise für ihre archaische Abstammung auszugraben. Je archaischer diese Abstammung, desto selbstbewusster und glücklicher fühlt sich die Nation.
Die Vergangenheit der Menschheit ist eine Projektion ihrer Gegenwart. Das habe ich mir selbst ausgedacht, und viele stimmen mir darin zu. In Anlehnung an Yuval Noah Harari, der sagt, dass die Menschheit vernünftiger und geistreicher war, als alle noch Nomaden waren und sich gesund nomadisch ernährten, kommt nun schon meine eigene Ironie ins Spiel. Ein durch Jagd erbeutetes Steak würzten die Menschen mit selbst gesammelten Wurzeln. Die Menschheit hat also nur verloren, seit sie sich am Rande der Weizenfelder auf ihre vier Buchstaben gesetzt hat.
Mein Lieblingsinstrument aus dieser Oper ist die Neandertalerflöte. Ein Bärenknochen mit runden Löchern, gefunden in Divje Babe in Slowenien. Man sagt, sie wurde im Paläolithikum gefertigt. Andere primitive, vorhistorische Flöten sind neuer, sie wurden schon vom Homo Sapiens hergestellt. Die Flöte von Divje Babe beweist: Zu Unrecht brachten die Wissenschaftler früher die Neandertaler in Verruf – sie verfügten bereits über höhere Fähigkeiten und hatten ihre eigene, schöne Musik.
Heute sind Wissenschaftsblogger den Neandertalern gegenüber vorsichtig und wohlwollend eingestellt – wie vielen einstigen Minderheiten gegenüber, die von der Sapienshorde ausgelöscht wurden. Was heißt es, Europäer zu sein? Die Antwort auf diese bei den Denkern des 20. Jahrhunderts populäre Frage lautet im 21. Jahrhundert: 2 % Neandertaler-Genom in der DNA. Wie stellt man fest, welchen Anteil man hat? Im 21. Jahrhundert ist das gar keine Frage mehr.
Vor Kurzem hat die Genealogie-Plattform MyHeritage ihre DNA–Datenbanken aktualisiert, was die Kunden aus Belarus stark verwunderte. Bei jedem von ihnen verringerte sich der Anteil osteuropäischer Gene und der Prozentsatz in der Spalte baltisch wuchs. Bei vielen erschien ein neuer, schockierender Vermerk: balkanisch. Im Familiengedächtnis ist in der Regel nichts über Vorfahren vom Balkan gespeichert. Die Plattform gibt folgende verallgemeinerte Zahlen für die DNA von Menschen aus Belarus an: 90,6 Prozent – baltisch; 88,7 Prozent – osteuropäisch; 64,6 Prozent – balkanisch; 7,2 Prozent – aschkenasisch–jüdisch; 5,3 Prozent – finnisch.
Die jüdischen Gene – das ist noch ganz frische Geschichte, das Mittelalter in Belarus. Die anderen Zahlen hauten mich aber vom Hocker. Das war „alles schon bei den Simpsons“: Ich hatte davon in den Texten des Historikers Mikola Jermalowitsch gelesen.
Jermalowitsch war ein belarusischer sowjetischer Dissident, der für die Schublade historische Abhandlungen über die Herkunft der Nation und der Staatlichkeit verfasste. Neben Uladsimir Karatkewitsch war er genau der Gräber nach Beweisen für unser belarusisches Altertum, über die Anderson gewitzelt hatte. Jermalowitsch Buchreihe Starashytnaja Belarus (dt: Belarus im Altertum) wurde erst herausgegeben, als es möglich geworden war – zu Beginn der 1990er. Bis dahin hatten Zeitschriften Angst, seine Hypothesen zu drucken, die den in der UdSSR üblichen Postulaten von der osteuropäischen Dreifaltigkeit Belarus, Ukraine und Russland diametral entgegenstanden. Dieses Postulat entstand zu Zeiten des Russischen Imperiums, um dessen Dimensionen mit Ideologie zu untermauern, und wird aus irgendeinem Grund bis heute in der Welt als Wahrheit hingenommen.
Jermalowitsch ignorierte diese konstruierte These und beschloss, in seinen Arbeiten die Herkunft der Belarusen detailliert zu erforschen. In seine Abhandlungen muss man sich genauso einlesen, wie man sich in eine lateinamerikanische Telenovela einsehen muss, um zu verstehen, wer wessen Bruder, Schwiegervater oder uneheliche Enkelin ist. Denn bis zum 9. Jahrhundert zogen auf dem Gebiet des heutigen Belarus die Stämme mehr oder weniger ständig hin und her. Sie kamen, ließen sich nieder, dann standen sie wieder auf und zogen weiter, verdrängten und verschoben andere Stämme. Hauptsächlich waren es Balten: Litauische und Lettländische, – und Slawen: Kriwitschen, Dregowitschen, Radimitschen. Es gab noch viele andere Stämme, aber sie blieben Nebenschauplätze in der Serienhandlung. In die Lehrbücher des unabhängigen Belarus schafften es nur die genannten.
Jermalowitsch analysierte zwei zentrale Quellen: archäologische Daten und Orts– und Gewässernamen.
Mit den Slawen, so schrieb Jermalowitsch, passierte laut diesen Daten etwas Seltsames. Sie „saßen“ in aller Ruhe im zukünftigen Belarus, aber als sie im 5. Jahrhundert von den Balten vertrieben wurden, zogen sie in den Süden: jenseits der Donau, auf den Balkan. Ein Jahrhundert später überlegten sie es sich wieder anders und kehrten zurück. Auch die Finno-Ugren zogen in einem breiten Streifen durch Belarus.
Für einen Moment schien mir, die künstliche Intelligenz, die die DNA der Belarusen analysiert, habe ebenfalls Mikola Jermalowitsch gelesen.
Wegen Jermalowitsch wäre ich fast Historikerin geworden. Ich gewann die Silbermedaille bei der Kreisolympiade im Fach Geschichte. Ich wusste nicht, dass Jermalowitsch noch kurz zuvor ein Dissident gewesen war. Und erst recht konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jermalowitsch keine historische Ausbildung hatte. Er war Philologe und unterrichtete belarusische Literatur.
Bei der Kreisolympiade sollten wir zum einen Konzepte der Abstammung der Belarusen beschreiben, zum anderen die Ursachen der Kubakrise. Über die Abstammung der Belarusen hatte ich nur Jermalowitsch gelesen (damals lasen ihn alle), über die Kubakrise hatte ich einen Dokumentarfilm gesehen. Heute ist mir klar, dass ich die Medaille wegen meiner literarischen Fähigkeiten bekam. In meinem Essay hing die Existenz der Belarusen als Nation nämlich am seidenen Faden – aber dann wendete sich das Blatt: Die einen slawischen Völker waren rechtzeitig von jenseits der Donau zurückgekehrt und hatten sich in der richtigen Proportion mit dem Balten gemischt, den anderen (den Kriwitschen) hatte man in Nowgorod eine Klatsche verpasst, sodass sie zurückkamen und Polazk gründeten – wodurch für die Belarussen doch noch alles gut ausging. Dieselbe Dramaturgie hatte in meiner Nacherzählung auch die Kubakrise. Als Antwort auf die in der Türkei aufgetauchten amerikanischen Raketen steuerten sowjetische Flugzeugträger schnurstracks auf Kuba zu: „Jeden Moment konnte der rote Knopf gedrückt werden ...“
Bei der nächsten Etappe der Olympiade, dem Stadtausscheid, lasen offensichtlich weniger romantische Historiker meine Essays, denn die Nacherzählung der Jermalowitsch-Bücher brachte keine Punkte.
Als ich die DNA-Auswertungen belarusischer Blogger und meiner Facebook–Freunde sah, traute ich meinen Augen nicht. Nehmt das, Skeptiker! Mikola Jermalowitsch hatte recht. Die Genetiker bestätigen es.
Meine Euphorie währte bis zu dem Tag, an dem ein anderes Gentechniklabor – Colossal Biosciences – von der Wiedererweckung des archaischen Schattenwolfes (Aenocyon dirus) berichtete. Die Forscher hatten das Genom der längst ausgestorbenen Art genommen und auf der Grundlage des heutigen Wolfes restauriert.
Wissenschaftsblogger erläuterten sofort, dem Labor sei es dabei nicht um historische Genauigkeit gegangen. Sie sorgten sich weniger um die Wissenschaft als um das Äußere. Die Gentechniker hatten sich zum Ziel gesetzt, die neuerschaffenen Tiere möglichst genau den Wesen anzugleichen, die in Game of Thrones gezeigt worden waren.
Das bestärkte mich also wieder in der Vermutung, dass MyHeritage Belarus im Altertum von Mikola Jermalowitsch verarbeitet hatte. Ich las noch einmal die Seiten über die Ethnogenese und stellte mit Schrecken fest, dass Jermalowitsch auch von Wölfen geschrieben hatte! Einige Stämme unserer Vorfahren hießen Wilzen (Wölfe) oder Lutizen (Grausame). Natürlich kam im Buch auch das bekannte Herodot-Zitat vor, dass in unseren Gefilden einst die Neuri lebten, die sich „jedes Jahr für eine paar Tage in Wölfe verwandelten“.
Es kostet nicht wenig, aber man kann heutzutage seine DNA auf das Genom der Neandertaler testen lassen. Den Prozentsatz balkanisch-baltischer Gene in der eigenen Spirale zu bestimmen, ist hingegen einfacher. Seit der Aktualisierung der Datenbasis bei MyHeritage gibt es sogar Ermäßigungen. In wie vielen Jahren wird es wohl möglich sein und wie viel wird es kosten, bei sich den Anteil wölfischer Gene bestimmen zu lassen? Wie lange wird die Wissenschaft brauchen, um unsere Abstammung von den Fischen nachzuvollziehen?
Ende der 1980er Jahre wollten junge Belarusen durch die Bank weg Historiker werden. Zu Beginn der 2020er studieren alle jungen Belarusen Biochemie.
Ich habe kein Profil bei MyHeritage oder ähnlichen Anbietern. Selbst jetzt nicht, wo es Ermäßigungen gibt. Die Genlabore schicken ihre Testkits nicht nach Belarus. Mit einer belarusischen Geldkarte kann man ihre Dienstleistung nicht bezahlen. Ich weiß nicht, ob Patrycja aus Białystok und ich wirklich einen gemeinsamen Urgroßvater haben und in welchem Verhältnis Pawel aus Wien zu mir steht, dessen Großvater nur einen Wald von meinem entfernt geboren wurde. Wir haben uns im Internet über unseren Familiennamen gefunden. Mir ist noch immer ein Rätsel, warum die eine Linie meiner Vorfahren im Dorf Turki (Türken) genannt wurde und ob ich vielleicht daher meine dunklen Augen und Haare habe. Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, in das Dorf an der russischen Grenze zu fahren und dem Verwandten ein Wattestäbchen in den Mund zu stecken, dessen Biomaterial uns erzählen kann, ob wirklich einer unserer Vorfahren aus Preußen stammte. Und wenn dem so ist, woher genau? In welcher Hafenstadt an der Ostsee findet sich der entfernte Onkel, der mir seinen Stammbaum in der genetischen Datenbank nicht freigibt, weil ich „Kommunistin“ oder „Russin“ bin? Oder werden mir andere Stereotype der Gegenwart den Zugang zur Vergangenheit verschließen, und damit auch zur Zukunft? Belarusen, die ihre DNA testen ließen, berichten auch von solchen Fällen.
Einmal erzählte ich in der traditionellen Unterrichtsstunde Woher wir stammen die Familienlegende über die Turki. Die Lehrerin musste lachen und sagte, ich hätte diese Geschichte abgekupfert. Kurz darauf fand ich heraus, dass Michails Scholochows Stiller Don mit dieser Legende beginnt.
Deshalb werde ich irgendwann diesen Test machen. Ich will alle Familiengeschichten in Zahlen verkörpert sehen.
Ich denke, die massenhafte DNA-Testung wird bald die globalen Identitäten verändern. Schon heute beeinflusst sie die Lebensgestaltung der Menschen. Facebook-Freunde beschließen, Finnisch zu lernen oder fahren in den Urlaub nach Ljubljana, nachdem sie auf MyHeritage ihre Wurzeln entdeckt haben.
Unsere Vergangenheit ist die gegenwärtige Projektion auf Netflix oder Youtube. Bei Jermalowitsch stolpere ich über das Verb „gingen“. Er verwendet es, weil es schon der Verfasser der Nestorchronik tat. Die Slowenen „gingen her und ließen sich nieder“. Die Kriwitschen „gingen her und ließen sich nieder“. Inwiefern ist „gingen her“ eine Metapher? Gingen sie, wie bei den Matrosen die Ladung geht und nicht schwimmt, oder bei den Lokführern die Züge pünktlich gehen, statt zu fahren? Ich habe vor Augen, wie das Volk Israel durch die Wüste geht, denn die Bibel wurde mehrfach verfilmt. Aber wie gingen die Slawen? Das Rad war schon längst erfunden. Fuhren sie also auf Wagen? Oder fuhr auf den Wagen ihr Hab und Gut, während sie nebenherliefen? Erwiesen ist, dass sie sich auf Flüssen fortbewegten. Fuhren sie auf Flößen? Mit Booten? Oder zogen sie, wie die Treidler an der Wolga auf Ilja Repins Gemälde, die Boote an Seilen? Jermalowitsch schreibt nichts darüber, und andere Autoren habe ich nicht gelesen.
Gingen sie in großen Gruppen, oder zu zweit, oder als Familie? Wenn zum Beispiel eine junge Frau und ein junger Mann heirateten, zogen sie dann zu zweit den Fluss hinauf, bauten ein Haus, bekamen Kinder und kehrten später zurück, um die Eltern zu sich zu holen? Oder hatten die Stämme Kundschafter und Gesandte? Wie genau verdrängte ein Stamm den anderen? Gingen die Stämme in Marschkleidung oder trugen sie Paradefibeln, Gürtel, Ringe und Anhänger in Entenform, wie Archäologen sie in Grabhügeln fanden? Damit die Fremden, denen sie begegneten, an diesen Zeichen ihre Herkunft erkennen konnten?
Nein, DNA-Tests können nicht alle meine Fragen beantworten. Mit der Radiokarbonmethode könnte es vielleicht klappen.
Alle, die wissen wollten, wie ich die Zukunft von Belarus sehe, haben vielleicht eine andere Perspektive von mir erwartet – mehr aktuelle Prognosen, frische News, ein Gemälde der Stimmungen im Land. Vielleicht sollte ich erklären, dass Rus und Russland nicht dasselbe ist. Sagen, was ich über Belarus‘ Aussichten auf der Weltkarte denke. Wird es Krieg oder Frieden geben? Freiheit oder Diktatur? Soll eine Frau oder ein Mann an der Spitze des Landes stehen? Wie viele Menschen sprechen heute Belarusisch? Aber dafür bin ich wohl nicht die passende Autorin. Ich denke, Jermalowitsch gefällt mir, weil ich auch ich so eine versessene Vergangenheitsgräberin bin, über die Anderson sich lustig macht.
Eine wichtige Nachricht in Belarus war im letzten Jahr, dass Archäologen bei Ausgrabungen in der alten Wallburg Stary Mensk Hüttenkonstruktionen aus Eichenstämmen aus dem 9. Jahrhundert entdeckt hatten. Sowohl die Machthaber, die die Repressionen absichern, als auch die Repressierten teilten dieselben Emotionen: Wir haben uralte Wurzeln, noch im Altertum, wir hatten hier einst eine Hauptstadt, die handelte, kämpfte und mit Knochenfiguren Schach spielte. Eine Schachfigur aus der Ausgrabung wird in einer Vitrine gezeigt, eine Kopie kann man im Museumsshop kaufen. Ebenso können Belarusen, die nach Slowenien fahren, um ihren balkanischen Wurzeln nachzuspüren, im Nationalmuseum in Ljubljana die Neandertalerflöte betrachten und sich im Souvenirgeschäft eine Kopie kaufen.
MyHeritage ist eine israelische Seite, deshalb gibt es in der aktualisierten Datenbank 15 ethnische Gruppen von Juden. Genetische Plattformen sind häufig auf Kunden spezialisiert, die aus Europa nach Israel oder in die USA emigriert sind und dafür bezahlen, die Wege ihrer Vorfahren über die Kontinente nachzuvollziehen. Die Belarusen sind eine eher unerwartete Nutzergruppe, an der man sich kaum ausrichtet. Die Belarusen sind an eine konkrete Fläche auf der Landkarte gebunden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Machtwechsel oder gar der Verlust der Unabhängigkeit daran etwas ändern würde. Denn diese Umrisse wurden von Wissenschaftlern definiert: Linguisten, Ethnografen, Publizisten. Und nun auch von Biochemikern.
Wie schon ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Jauchim Karski, in seiner Abhandlung Belorusy (dt. Die Belarusen), beginnt Mikola Jermalowitsch das Gespräch über den Ethnos mit einem Topos. Belarus – das ist ein historisches Charakteristikum, das auf ein geografisches Charakteristikum zurückgeht. Die Belarusen heute, das sind jene, deren Vorfahren „hergingen und sich niederließen“ in Wäldern und an Flussquellen. Belarus ist dort, wo die Wälder sind, und seine Grenzen sind von allen Seiten durch Sümpfe markiert. Karski schreibt sogar, dass die großen Umsiedlungen der Völker im Russischen Imperium nichts an dieser Gewohnheit änderten. Die Belarusen erkannte man ihm zufolge daran, dass sie selbst in Steppenregionen Bäume fanden und sich zwischen ihnen niederließen. Daher erhielten sie auch diese Bezeichnung von ihren Nachbarn: Paleschuki [zu Palesje, Wald- und Sumpflandschaft]. Das sind Menschen, für die offene Landschaften Gefahr bedeuten. Eine Skyline aus Wald hingegen gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit.
Jede Gegenwart hat ihre eigene Version der Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert erklärten Historiker und Ideologen den Namen Belaja Rus damit, dass unsere Gebiete nicht von Tataren erobert wurden, und die Haare der Menschen deshalb weiß wie Leinen und die Religion christlich blieben. Meiner Ansicht nach ist das eine sehr eugenische Deutung. Heute sind die Historiker zu Karskis geografischem Ansatz zurückgekehrt. „Weiß“ hieß auf der indoeuropäischen Weltkarte „oben“. Die Weiße Rus ist der Teil des Territoriums der Rus, der an den Oberläufen der Flüsse liegt. Dwina, Dnepr, Njoman und Wolga – die Ursprünge dieser Flüsse bezeichnet Karski als die Urheimat der Kriwitschen, die man im Russischen Reich später dann als Belarusen bezeichnete.
Jetzt habe ich mich also zu diesem Gedanken durchgegraben. Je mehr Bäume entlang der Flüsse und Seen stehen – desto mehr Belarus.
Ich habe kein Profil bei MyHeritage, aber ich bin Teil des belarusischen genetischen Strangs. Einmal brachte ich DNA–Tests nach Vilnius, die Verwandte einer Freundin in Polazk gemacht hatten. Die Freundin darf nicht nach Belarus reisen, da ihr Gefängnis droht. Den Test schickten sie mir aus Polazk per Post. Die Schachtel mit dem biologischen Material war sicher an einer Packung Dörrfisch befestigt. Solche Geschenke halten die Familie über Grenzen zusammen. „Ich habe den Test auf der Post abgeholt“, schreibe ich der Freundin, „er wird aber vielleicht ergeben, dass deine Polazker Vorfahren Amphibienmenschen waren.“
Und vielleicht wird das ein sehr exaktes Ergebnis sein.
Minsk, April 2025
Maryja Martysievič (geboren 1982 in Minsk), Lyrikerin, Übersetzerin, Publizistin, Organisatorin literarischer Projekte. Erste Schritte als Herausgeberin mit den Buchreihen Amerykanka und Hradus. Autorin von sechs Lyrikbänden: Цмокі лятуць на нераст: эсэ ў вершах і прозе [Drachen fliegen zur Brut: Essays in Lyrik und Prosa] (2008), Амбасада: вершы свае і чужыя [Die Botschaft: Eigene und fremde Gedichte] (2011), Сарматыя [Sarmatia] (2018), Як пазбыцца Маматута [Wie werde ich das Mamatut los] (2020), Водападзел [Wasserscheide] (2022) und Хагі Вагі [Huggy Wuggy] (2025). Sie erhielt zwei Preise für Сарматыя [Sarmatia] und 2019 den Publikumspreis des Václav-Burian-Preises in Olomouc (CZ). Maryja Martysievič lebt in Minsk und Bronnaja Hara.
ANMERKUNG DER REDAKTION
Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.