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Tod eines Handlungsreisenden

Wladimir Makei, belarussischer Außenminister, verstarb unerwartet am vergangenen Samstag. Eine bestätigte Todesursache gibt es noch nicht; verschiedene Quellen aus seinem Umfeld vermuten, der hochrangige Diplomat könnte einem Herzinfarkt erlegen sein. 

Makei war vor allem für westliche Staaten das langjährige außenpolitische Gesicht des Systems von Alexander Lukaschenko, dem er bis zuletzt loyal diente. Bis zu den historischen Protesten im Jahr 2020, über die sich Makei vielfach abfällig äußerte, galt er in Teilen der Bevölkerung, die sich für ein unabhängiges und demokratisches Belarus einsetzte, als „progressiv“. Makei sprach fließend Belarussisch und betonte immer wieder die kulturhistorische Unabhängigkeit von Belarus, was ihm Argwohn von russischer Seite einbrachte. Allerdings hatte er in seiner früheren Funktion als Leiter der Präsidialverwaltung auch mitgetragen, dass die Proteste infolge der Präsidentschaftswahlen 2010 niedergeschlagen wurden. Zudem hatte er so die darauf folgende Welle der Repressionen mitverantwortet.

In einem Beitrag für Posirk, dem Nachfolgemedium von Naviny, analysiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski das diplomatische Vermächtnis einer widersprüchlichen Figur im autokratischen Machtapparat Lukaschenkos.

Quelle BelaPAN/Naviny.by

Als das Lukaschenko-Regime noch einen auf „sanfte Belarusifizierung“ machte, posierte Außenminister Makei vor den Kameras gerne im Folklorehemd [Wyschywanka]. Unter anderen historischen Bedingungen hätte er vermutlich eine wichtige Rolle bei der Stärkung der belarussischen Unabhängigkeit und der europäischen Integration des Landes spielen können.

Doch in diesem von Lukaschenko geschaffenen System waren Makeis Möglichkeiten begrenzt. Er diente anstandslos einer Diktatur, die zum heutigen Tag eine europäische Ausrichtung des Landes blockiert, es zu einer katastrophalen Abhängigkeit vom Kreml verurteilt und zum Mittäter einer imperialen Aggression gemacht hat. 

Meisterhaftes Spiel auf einem Feld mit vielen Vektoren

Als Makei 2012 zum Leiter der belarussischen Diplomatie ernannt wurde, hatte er bereits Arbeitserfahrung als Gehilfe Lukaschenkos, dessen Präsidialverwaltungsleiter er war. Der Führer des Regimes  musste damals die Beziehungen zum Westen auftauen, nachdem im Jahr 2010 die Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und einige Dutzend politische Gegner inhaftiert worden waren (heute wirken diese Zahlen vor dem Hintergrund von fast 1500 politischen Gefangenen blass). 

Und Makei gelang das nahezu Unmögliche. Natürlich wurden die grundlegenden Entscheidungen vom Machthaber getroffen, doch anzunehmen ist, dass auch die Rolle des Chefs des Außenministeriums nicht unbedeutend war.

Minsk konnte sich von der russischen Annexion der Krim distanzieren. Das Treffen des Normandie-Quartetts in Minsk im Februar 2015 wurde zu Lukaschenkos Sternstunde: „auf ein Käffchen“ (nachher prahlte er, man habe „mehrere Kübel Kaffee getrunken“) kamen die Regierungschefs der wichtigsten EU-Staaten zu ihm, Angela Merkel und François Hollande. 

Danach wurden die EU-Sanktionen aufgehoben und der Staatschef gefiel sich im Gewand des Friedensstifters, versprach Belarus eine Perspektive als „Schweiz des Ostens“. Das Außenministerium machte sich daran, Belarus als Garanten regionaler Stabilität zu vermarkten und trieb die Idee eines neuen Helsinki-Prozesses in Minsk voran. Für ein Land am Rande eines geopolitischen Bebens war dies geradezu ein außenpolitischer Triumph.

Minsker Außenpolitik: Triumph und Tragödie

Den multivektoralen Ansatz beförderte die – gelinde gesagt – komplizierte Beziehung zum Kreml. Bei all der falschen Rhetorik über die Jahrhundertbruderschaft, uneigennützige Freundschaft und leuchtende Perspektiven der Unionspartnerschaft spürte die belarussische Regierungselite stets die Moskauer Schlinge am Hals und sondierte Möglichkeiten, diese zu lockern

Makei war ein wichtiger Spieler auf dem Feld der Multivektoralität. In Moskau mochten ihn viele nicht, hielten ihn für einen Agenten unter westlichem Einfluss. Die Personalpolitik Makeis war zumindest nicht anrüchig. 2020 verließ, erschüttert von den Repressionen, eine Reihe von Mitarbeitern zum Zeichen des Protests das Außenministerium,  – sie traten auf die Seite des Volkes, wie oppositionelle Medien damals pathetisch schrieben. Diese Leute erwiesen sich als nationalbewusst und schlicht als Bürger mit Gewissen. 

In den Jahren der Entspannung leistete das Außenministerium viel. Heute schwer zu glauben, aber am 1. Februar 2020 empfing Lukaschenko in Minsk den US-amerikanischen Außenminister Mike Pompeo und man einigte sich auf Lieferungen amerikanischen Erdöls (Moskau hatte gerade wieder einmal den Hahn zugedreht).

Am 4. Februar desselben Jahres konnte der Autor dieses Textes mit eigenen Augen beobachten, wie offen sich Makei mit den Botschaftern Polens und der USA sowie dem Außenminister Litauens unterhielt, bei einem Festempfang in Minsk anlässlich des 274. Geburtstags Tadeusz Kościuszkos – dem Anführer des Aufstandes gegen den russischen Zarismus. Der antiimperialistische Subtext der Veranstaltung war offensichtlich. Makei hielt eine Rede über die Notwendigkeit der Vertiefung der Partnerschaft mit Polen, Litauen und den USA. 

Heute dämonisiert die belarussische Führung all diese Staaten, den gesamten „kollektiven Westen“, beschuldigt sie des Nazismus und aggressiver Pläne. Ein Wunder ist nicht geschehen. Als Millionen Belarussen Freiheit forderten, wählte die Führungselite den Weg des Selbstschutzes und unterdrückte diesen Ausbruch. Dies führte zur Isolation des Landes aus der demokratischen Staatengemeinschaft und zu neuen Sanktionen. Die Moskauer Schlinge zog sich noch fester zu.

Letztlich zeigte das Regime sein wahres Gesicht, opferte nationale Interessen dem Machterhalt. Makei blieb dabei stets ein treuer Diener des Systems. Es war seine Stimme, die im Frühjahr 2021 das Urteil über die Strukturen aussprach, in denen sich freidenkende Bürger des Landes organisierten: „Jegliche weitere Verschärfung der Sanktionen wird dazu führen, dass die Zivilgesellschaft aufhört zu existieren.“

Im Zeichen der Niederlage

Die Ereignisse des Jahres 2020 brachen der belarussischen Außenpolitik das Rückgrat – sie begann praktisch zu Makeis Lebzeiten zu sterben. 

Es ist bezeichnend, dass ihn sein letzter Amtsbesuch im ferneren Ausland in den Iran führte. Minsk bleibt nicht viel übrig, als Brücken zu anderen international Geächteten zu bauen.

Vor Kurzem musste Makei zum OVKS-Gipfel nach Jerewan mit einer militärischen Transportmaschine fliegen. In der Boeing von Lukaschenko hatte sich kein Platz gefunden. Auch das hat Symbolcharakter.

Auch verschwörungstheoretische Ansätze zu Makeis Todesursache machen bereits die Runde. Stellt man die klassische Frage „Cui bono?“, neigen sich die Köpfe in östliche Richtung. 

In jedem Fall ist es wahrscheinlich, dass an der Spitze des Außenministeriums eine weniger talentierte und stärker prorussisch orientierte Person auftauchen wird. Bedauerlicher ist jedoch: Wen auch immer Lukaschenko zum Nachfolger bestimmt, und sei es der erfahrenste, begabteste Diplomat – es ist so viel Porzellan zu Bruch gegangen, dass an eine multivektorale Politik nicht mehr zu denken ist. Für ein Spiel mit dem Westen gibt es praktisch keine Ressourcen.

Theoretisch gibt es sie natürlich noch. Tatsächlich hatte Makei im September am Rande der UNO-Versammlung in New York bei Treffen mit Vertretern des Westens die Grundlagen für eine Wiederbelebung des Dialogs sondiert. Doch Wurzeln geschlagen haben die offensichtlich nicht. Für den Führer des Regimes ist die Schwelle für den Eintritt in einen Dialog mit dem Westen im Moment unrealistisch hoch. Die politischen Gefangenen zu entlassen macht ihm Angst, dem Kreml gegenüber den Rückzug der russischen Truppen von belarussischem Territorium anzusprechen – noch viel mehr. Die Anbindung des Regimes an den imperialen Streitwagen wirkt zunehmend fatal. 

Die Epoche Makei in der belarussischen Diplomatie endet unter dem Vorzeichen einer kapitalen Niederlage. Makei selbst war ein außergewöhnlicher Mensch und hätte in anderem Kontext in die belarussische Geschichte eingehen können. Doch er erwies sich als treuer Diener eines bösartigen Systems.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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