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„Wir haben absolut nichts gegen Russland“

Seit dem 9. August dauern die Proteste in Belarus an – am Wochenende gingen wieder zehntausende in Minsk auf die Straße, auch am Mittwoch hat es massive Proteste gegeben: Nach der im Geheimen durchgeführten Vereidigung Lukaschenkos ist die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen. Von Anfang an waren die Demonstrationen weder antirussisch noch pro-westlich, sondern richteten sich gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl und gegen Lukaschenko. So fordern die Demonstranten, Swetlana Tichanowskaja als eigentliche Wahlsiegerin anzuerkennen.

Unterdessen ergibt sich in einem gewissen Sinne dennoch eine Lagerbildung: Lukaschenko bat Russland um Hilfe, während Swetlana Tichanowskaja im EU-Ausland Exil suchen musste. Vergangene Woche hat Alexander Lukaschenko sich in Sotschi mit Putin getroffen, der Belarus einen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar gewährte. 
Eine Woche später trafen die EU-Außenminister Swetlana Tichanowskaja in Brüssel – allein, dass sie sich mit ihr an einen Tisch setzen, hat hohen Symbolwert. Geplante und von Tichanowskaja geforderte Sanktionen gegen das belarussische Regime scheitern jedoch bislang am Veto Zyperns. Moskau verurteilte das Treffen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus.

Das russische Wirtschaftsmagazin RBC, das seinen einstigen Ruf als Vorreiter des unabhängigen Journalismus nach einem Eigentümerwechsel inzwischen eingebüßt hat, hat Tichanowskaja vor dem Brüsseler Treffen online interviewt. Tichanowskaja spricht dabei über ihre eigene Rolle – sie sei mit dem Versprechen für Neuwahlen angetreten, nicht als künftige Präsidentin. Gleichzeitig kann man an einzelnen Äußerungen Tichanowskajas in dem russischen Medium durchaus ablesen, dass sie das „Einmaleins der Diplomatie“ inzwischen beherrscht – wie sie selbst ganz offen sagt. 

Quelle RBC

Alexander Atassunzew: Sie hatten bislang noch keinen Kontakt zu offiziellen Vertretern aus Moskau. Warum?

Swetlana Tichanowskaja: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das entscheidet ja jedes Land selbst. Die einen unterstützen uns, andere nicht. Aber natürlich ist Russland ein befreundetes Land, und ich weiß, dass die Russen, das heißt die Menschen dort, die Belarussen unterstützen. Wir bedauern es natürlich sehr, dass Herr Putin Lukaschenko unterstützt hat und nicht das belarussische Volk. Doch wir sind immer offen, unser Koordinationsrat ist immer offen für einen Dialog. Auch ich bin offen für einen Dialog mit Vertretern der Russischen Föderation.

Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten

Warum sieht Moskau in der Politik von Swetlana Tichanowskaja nicht das, worauf man bauen will? Worin besteht Ihrer Meinung nach das Problem?

Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten. Mein Wahlprogramm bestand aus drei Punkten, von denen der wichtigste die Durchführung neuer, ehrlicher und transparenter Wahlen war. Und erst bei diesen Wahlen wird der Präsident gewählt. Ich bin mir sicher, dies wird eine äußerst starke Führungspersönlichkeit sein, mit der Herr Putin gemeinsame Verhandlungs- und Gesprächsthemen auf Augenhöhe finden wird, falls er mich nicht als Menschen sieht, mit dem er sprechen kann.

Worin besteht der Sinn der regelmäßigen und recht häufigen Treffen mit Vertretern der Europäischen Union? Als Reaktion intensiviert Lukaschenko doch nur die Bindung an Russland, schließt die Grenzen zur EU und kontrolliert die Grenzen zur Ukraine stärker. Meinen Sie nicht, dass Ihre ständigen Kontakte zur EU Moskau verschrecken und Anlass geben zu sagen, dass Ihnen da jemand den Rücken stärkt.

Ich würde nicht sagen, dass es häufige Treffen sind. Sie finden je nach Notwendigkeit und Bedarf statt. Treffen mit Staatsoberhäuptern gibt es nicht täglich, nicht mal wöchentlich. Ich glaube nicht, dass Russland da etwas befürchtet.

Unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert

Ich sehe auch keine Verbindung zwischen diesen Treffen und Lukaschenkos Verschärfung der repressiven Maßnahmen, denn unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert. Doch wir sind gezwungen, adäquat zu reagieren, denn uns geht es vor allem um die Unterdrückung der Menschenrechte in Belarus. Die Repressionen gehen weiter und werden stärker, denn die Belarussen sind aufgewacht und haben beschlossen, für ihre Rechte zu kämpfen. Denn genau aus diesem Grund können sie nicht länger so leben und nicht aus dem Grund, weil wir uns mit Vertretern der Europäischen Union treffen.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass Herr Lukaschenko uns noch vor ein paar Monaten [während des Wahlkampfs – dek] beschuldigt hat, wir würden aus Russland gelenkt werden und dass der Kreml uns in der Hand habe. Und jetzt hat dieser Mensch seine Meinung um 180 Grad geändert. Plötzlich finanzieren uns angeblich die USA und diverse andere Strippenzieher, Lettland, Polen, und jetzt ist auch schon die Ukraine mit von der Partie.

Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind. Und er weiß genau, dass wir immer gesagt haben: Wir sind offen für einen Dialog. Und dass wir, ich meine das belarussische Volk, niemals Russland den Rücken zukehren würden. Wir sind befreundete Länder, und das wollen wir auch bleiben.

Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind

Wir hätten gern von allen Ländern Unterstützung in unserem Kampf dafür, dass das Volk über die Zukunft des Landes entscheidet. Denn wir kämpfen für das Recht zu wählen, mit wem wir unser Land aufbauen wollen. Das ist kein prowestlicher oder prorussischer Kampf, das ist das Aufstehen gegen einen Mann, zu dem unsere Leute das Vertrauen und vor dem sie die Achtung verloren haben und mit dem wir weder weiter leben noch weiter arbeiten wollen. Das hat weder etwas mit Herrn Putin noch mit der Ukraine noch mit irgendwelchen anderen Ländern zu tun. 

Sprechen Sie denn auf den Treffen mit den EU-Vertretern über mögliche Wirtschaftshilfen für Belarus, etwa durch einen Stabilisierungskredit für den Fall, dass die Opposition siegen sollte? Und wenn ja, wie und zu welchen Bedingungen soll das geschehen?

Ja. Belarus wird für die Stabilisierung und die wirtschaftliche Entwicklung Hilfe brauchen. Wir haben darüber mit vielen Staatsoberhäuptern und internationalen Organisationen gesprochen, auch mit potentiellen Investoren. Es gibt Interesse und den Wunsch zu helfen. Der Ministerpräsident von Polen machte den Vorschlag eines Marschallplans für Belarus. Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die Bedingungen und Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.

Warum sind auf Ihrer Website Links aufgetaucht zu einem Reanimationsmaßnahmen-Paket, das unter anderem den Austritt von Belarus aus der OVKS vorsieht, aus der Russisch-Belarussischen Union, der Eurasischen Wirtschaftsunion und so weiter? 

Da verblüffen Sie mich jetzt aber, denn es kann nicht sein, dass von unserer Website, die für Swetlana Tichanowskaja und ihren Wahlkampf erstellt wurde, auf so etwas verlinkt wurde – das hätte ich nicht zugelassen, und ich habe auch nichts davon gehört. Von solchen Ideen habe ich erstmals von Staatsbeamten gehört, die diesen Unsinn verbreitet haben. Das kann jedenfalls nicht stimmen. Mein Programm besteht aus drei Punkten. Wenn irgendwann irgendwo irgendwas aufgetaucht ist, dann hat das mit mir überhaupt nichts zu tun. 

Finden Sie die Ideen des Reanimationsmaßnahmen-Pakets gut? Entrussifizierung, Austritt des Landes aus Bündnissen mit Russland und so weiter?

Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn bei solchen Fragen muss das belarussische Volk mitentscheiden. Es gibt viele Fragen, in die die Meinung der Menschen einfließt, und wenn der neue Präsident der Republik Belarus einmal solche Entscheidungen treffen muss, dann werden die Menschen darüber abstimmen, sie werden ihre Meinung äußern, und Entscheidungen werden nur unter Berücksichtigung dieser Meinung getroffen werden. 

Wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen

Vor dem Treffen von Putin und Lukaschenko [in Sotschi am 13. September 2020 – dek] haben Sie angekündigt, dass alle Verträge, die Moskau und Minsk jetzt schließen, ihre Gültigkeit verlieren, falls Sie an die Macht kommen. 

Ich habe gesagt, dass ich sie überprüfen werde. Weil das belarussische Volk jetzt kein Vertrauen zu Herrn Lukaschenko hat. Sie betrachten ihn nicht als ihren Präsidenten. Sobald ein neuer, gesetzlich gewählter Präsident sein Amt antritt, werden diese Abkommen, wenn sie Belarus, der belarussischen Wirtschaft oder dem belarussischen Volk irgendwie schaden, natürlich abgeändert. Der zukünftige, gesetzlich gewählte Präsident wird natürlich das Recht haben, Abkommen mit allen Ländern neu zu verhandeln. Wir wollen jetzt nicht ins Detail gehen, ob Russland, die Ukraine oder sonst ein Land – das gilt für alle Länder. 
Sie müssen verstehen, wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen. 

Es geht um die Verträge, die nach dem 9. August 2020 [dem Tag der belarussischen Präsidentschaftswahl – dek] abgeschlossen wurden. Ist das der Zeitpunkt, ab dem sich, wie Sie sagen, das Volk von Alexander Lukaschenko abgewandt hat?

Ganz genau. 

Sie haben außerdem erklärt, die zukünftigen belarussischen Machthaber hätten das Recht, den jetzt von Russland gewährten Kredit über 1,5 Milliarden Dollar nicht zurückzuzahlen. Finden Sie das wirklich?

In den Augen der Menschen hat Lukaschenko keine Legitimität, sie haben ihn nicht gewählt. Wenn dieser Mensch einen Kredit aufnimmt und die Belarussen sollen ihn zurückzahlen, obwohl sie diese Person gar nicht anerkannt haben und nicht anerkennen werden, wovon reden wir dann? Natürlich ist das ein emotionales Statement, kann sein, aber ich habe es gemacht, weil wir in Wirklichkeit alle wissen, wofür dieses Geld verwendet wird. Für die Vernichtung der eigenen Leute. Sie kaufen damit kugelsichere Westen. Gegen wen müsst ihr euch verteidigen? Gegen unbewaffnete Menschen?

Dieses emotionale Statement habe ich gemacht, weil wir wissen, dass dieses Geld für die Vernichtung der eigenen Leute ausgegeben wird

„Den Kredit zahlen wir nicht ab, die Abkommen erkennen wir nicht an“ und so weiter – glauben Sie nicht, dass Ihre Aussagen Moskau erst recht anspornen, Lukaschenko vorbehaltlos zu unterstützen? 

Das weise Moskau denkt nicht so. Denen ist klar, dass man heutzutage alles im Dialog lösen kann, zu dem wir die derzeitige sogenannte Staatsmacht von Belarus gerade einladen. Und genauso werden alle anderen Fragen im Dialog gelöst werden. Zwischenstaatliche Fragen und Fragen bezüglich der Abkommen, die in diesem Zeitraum geschlossen wurden. Das heißt nicht, dass wir alle Verpflichtungen ignorieren, keineswegs. Aber der Punkt ist, dass nur der Dialog aus dieser Situation herausführen kann. Und für uns, die Mehrheit, ist es natürlich schwer zu sagen, dass Wladimir Putin die Meinung der belarussischen Mehrheit nicht berücksichtigt hat. Weil ihm klar sein muss, dass Lukaschenko die Situation nicht mehr im Griff hat. Und als weiser Anführer sieht Herr Putin das alles.
Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen. Weil dieses Problem ohne äußere Einmischung viel schneller zu lösen wäre. 

Warum sprechen Sie von der Weisheit Moskaus und schließen aus, dass Wladimir Putin annimmt, dass Sie in der Minderheit sind oder dass Sie NATO-Stützpunkte in Belarus wollen?

Ich könnte auch etwas anderes sagen, aber ich habe mir das Einmaleins der Diplomatie schon ein wenig angeeignet – das musste ich –, daher sage ich es genau so.

In einem Interview sagten Sie, Lukaschenko bekäme im Fall seines friedlichen Rücktritts eine Garantie auf Immunität. In einem anderen Interview sagten Sie dagegen, er hätte sich für die Verbrechen der Silowiki zu verantworten. Welche Zukunft sehen Sie denn nun für Lukaschenko? 

Bei dieser Frage gerate ich immer ein wenig ins Schlingern, weil ich auch nur ein Mensch bin und meine eigene Haltung dazu habe. Aber ich verstehe, dass es Leute gibt, die von den Ereignissen seit dem 9. August besonders betroffen sind, deren Angehörige getötet wurden, die diesem Menschen niemals verzeihen werden, und sie wären absolut dagegen, dass er diese Garantie bekommt. Und daher schlagen bei dieser Frage immer zwei Herzen in meiner Brust. Was kann ich da antworten als Vertreterin aller und für mich persönlich?

Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen

Wahrscheinlich ist die richtige Antwort: Wenn es keine weiteren Opfer gibt, dann kann und wird diese Frage zum Gegenstand von Verhandlungen werden. Wenn wir uns an einen Tisch setzen, können wir das alles diskutieren. 

Sie werden das letzte Wort haben, wenn Sie Präsidentin werden.

Nein, das letzte Wort wird ein faires Gericht haben. 

Wie kann es ein Gericht geben, wenn eine Garantie auf Immunität gewährt wird?

Da sehen Sie es, es ist klar, dass solche Verbrechen unverzeihlich sind. Wir wollen nicht, dass auch nur ein Tropfen Blut fließt. Daher sind unsere Demonstrationen prinzipiell friedlich. Daher kann die Frage der Immunität unter der Bedingung, dass es keine weiteren Opfer gibt, Gegenstand von Verhandlungen werden. 

Warum kehren Sie nicht nach Belarus zurück?

Ich fühle mich dort nicht sicher. Sogar wenn man sich in keiner Weise schuldig macht, denken sie sich irgendeinen Paragrafen für dich aus, dazu braucht es nicht viel. Ich bin ja nicht aus freien Stücken im Ausland. Wenn man bei uns offen reden und seine Position zum Ausdruck bringen könnte, glauben Sie, dann würde irgendjemand auswandern? Es würden natürlich alle in ihrer Heimat bleiben und von dort aus predigen und ihre Meinung kundtun. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, glauben Sie mir, ich wäre geblieben, ich hätte keine Minute überlegt. 

Finden Sie nicht, dass Sie sich seit dem Wahltag stark verändert haben? Am 9. August haben die Menschen für eine Swetlana Tichanowskaja gestimmt, die ihnen eine Volksabstimmung versprochen hat. Jetzt sind Sie zur Politikerin geworden mit eigener Meinung zu vielen internationalen Fragen. Obwohl die Belarussen damals eigentlich keine Politikerin gewählt haben. 

Natürlich war ich gezwungen, in sehr kurzer Zeit einiges zu lernen, und ich lerne weiter, das Leben verlangt mir das gerade ab. Aber meine Position in Bezug auf Belarus hat sich überhaupt nicht verändert. Dass wir beginnen müssen, gemeinsam mit den Menschen ein neues, demokratisches Land aufzubauen, das sehe ich nach wie vor so. Und ich weiß, dass mich die Leute als Symbol für den Wandel gewählt haben, auch wenn das pathetisch klingt. Weil alle wussten, dass ich mein Versprechen halten würde, dass, wenn sie Tichanowskaja wählen, was die Mehrheit auch gemacht hat, es Neuwahlen geben wird, in denen sie einen richtig starken Ökonomen, einen Politiker wählen. Das wird dann ein Wettkampf unterschiedlicher Programme sein, aber er wird fair und transparent sein. 

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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