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Wer auf dem Tiger reitet

In Belarus wütet weiter die vierte Corona-Welle. Während der Staat in den vergangenen Wochen proaktiver auf die Herausforderungen der Pandemie zu reagieren schien und beispielsweise erstmals eine Maskenpflicht verfügte, forderte Alexander Lukaschenko bei einer Tagung zur aktuellen Covid-Lage, keinen Druck auf die Menschen auszuüben, Schutzmasken tragen zu müssen oder sich impfen zu lassen. Prompt wurde die Maskenpflicht wieder abgeschafft

In einem Text für das Online-Medium Naviny.by analysiert der Journalist Alexander Klaskowski die widersprüchlichen Aussagen und Entscheidungen von staatlicher Seite und hinterfragt generell den Schlingerkurs der Autoritäten in Bezug auf die Pandemie im Land. Zudem geht er der Frage nach, in welchem Zusammenhang das Misstrauen der Bevölkerung bei der Impfbereitschaft mit dem Protestwillen und der Kritik der Belarussen an den Machthabern stehen könnte. Schließlich kam es kürzlich wieder mal zu einer Rochade in den Strukturen der Silowiki, als Lukaschenko zwölf Posten neu besetzte. Für Klaskowski möglicherweise ein Zeichen dafür, dass sich die Machthaber doch nicht so siegesgewiss fühlen, wie es das harte Vorgehen gegen Proteste, Widerstand, Medien und NGOs glauben machen könnte.

Quelle BelaPAN/Naviny.by

Obwohl die vierte Welle noch heftiger ist als die zuvor, kam Lukaschenko nicht einmal auf der Corona-Konferenz am 19. Oktober ohne Seitenhiebe auf die Feinde aus, die niemals schlafen. Um so mehr, da er schon am Vortag ihre Bedeutung betont hatte, als er, wie sein Pressesprecher bekanntgab, „Personalentscheidungen im System der staatlichen Sicherheit“ getroffen hatte (es spricht Bände, dass die ernannten Personen anonym bleiben).

Als am 19. Oktober die Rede auf den Westen kam, verkündete Lukaschenko: „Unsere Protestler werden von denen permanent mit Geld und sonstwas angetrieben, von wegen: Kommt, macht Belarus nieder, stürzen wir die Machthaber bei diesen Anti-Corona-Veranstaltungen.“

Am 18. Oktober, dem Tag der Personalentscheidungen, rief der Führer des politischen Regimes allen ins Gedächtnis, dass „die Situation immer noch angespannt ist und wir uns nicht zurücklehnen dürfen.“

„Sie wissen besser als alle anderen“, sagte Lukaschenko zu den Leuten mit Schulterklappen, deren Gesichter im TV-Bericht verpixelt wurden, „dass sich an den Plänen des Gegners durch den missglückten Umsturzversuch nichts geändert hat. Der kollektive Westen mischt sich auch weiterhin in die inneren Angelegenheiten unseres Landes ein und zielt auf einen Machtwechsel.“

Lukaschenko enthüllte zudem die konkreten Pläne der Feinde: „Als ein mögliches Datum für den nächsten Revolutionsversuch (Tag X, wie es heißt) ziehen sie die Zeit des Verfassungsreferendums in Betracht.“

Versuch mal, vom Tiger abzusteigen

Der Führer des politischen Regimes schlug zwar bezeichnenderweise mehr als einmal selber vor, ein neues Kapitel aufzuschlagen, und versicherte, die Proteste seien zuverlässig niedergeschlagen. Dennoch mahnte er seine Untergebenen immer wieder, nicht nachzulassen, denn der Feind schlafe nicht und spinne neue Intrigen. 

Die Regierungsspitze glaubt also selbst nicht an den zweifellosen und endgültigen Sieg über die „Protestheinis“. Dabei scheint doch alles unterdrückt: Von den Regierungsgegnern werden die einen eingesperrt, die anderen aus dem Land gedrängt, und die, die noch da sind, sitzen mucksmäuschenstill und bauen darauf, dass man sie vergisst. 

Und trotzdem ist da diese innere Unruhe. Man kann mit Schlagstöcken auf Leute einprügeln (wovon die Sicherheitskräfte im vergangenen Jahr auch reichlich Gebrauch machten), man kann sie einschüchtern, aber die kritischen Gedanken kann man aus ihnen nicht rausprügeln. Menschen, die den Sturz der Regierung und faire Wahlen wollen, beißen die Zähne zusammen und warten auf die nächste Stunde, in der es die Chance gibt, dass sich die Situation grundlegend verändert.

Kein Wunder, dass die unabhängige Meinungsforschung im Land mundtot gemacht wurde. Denn sie könnte womöglich zeigen, dass die vermeintlich einstimmige Unterstützung des Volkes für den Machthaber (und die angeblich mickrige Minderheit der Weißrotweißen, die eigentlich gar keine Menschen sind, wenn man es genau nimmt) nichts als ein Mythos der Propaganda darstellen.

Deswegen traute sich die Regierung auch nach den niedergeknüppelten Protesten nicht, die Lokalwahlen und das Verfassungsreferendum gleichzeitig durchzuführen, wie es eigentlich geplant war. Als scheinheilige Begründung für einen Aufschub der Wahlen um fast zwei Jahre, auf den Herbst 2023, musste ein Gesetz zum einen Wahltag herhalten. Zu diesem Zweck haben die Parlamentarier sogar extra (ohne viel Aufsehen) eine Verfassungsänderung vorgenommen, und natürlich stellte das Verfassungsgericht in der Vertagung der Wahlen keine Verletzung der Wählerrechte fest. 

Und doch ist die Führungsriege offenbar beunruhigt. Dabei halten unabhängige Experten Massenproteste während des Referendums, das für Ende Februar angesetzt ist, für unwahrscheinlich. Das derzeitige Regime, das jegliche Moral längst über Bord geworfen hat, hätte keinerlei Hemmungen, jeden zu zerschmettern, der es wagt, nur einen Fuß auf die Straße zu setzen. An Brutalität und Hass würde es ihnen in den kommenden Monaten sicher nicht mangeln.

Dabei scheint es unter den Regierungsgegnern gar keinen Plan zu geben, wie man beim Referendum vorgehen soll. Eine alternative „Volksverfassung“ würde die Regierung gar nicht erst zur Wahl stellen. An einem Boykott sind die Leute schon einmal gescheitert, und Boykotts haben in den belarussischen Verhältnissen sowieso noch nie funktioniert.

Soll man die Stimmzettel beschädigen, fotografieren und auf einer online-Plattform sammeln, um eine parallele Auszählung zu machen? Die Regierung scheut vor nichts zurück, sie könnte sogar so weit gehen, Wahlkabinen ohne Vorhänge einzuführen.  („Ich fotografier dich hier gleich“, sagt dann ein Polizist mit Nachdruck.) Die alternative Plattform würde sicherlich gesperrt und die parallele Auszählung sowieso als Lüge diffamiert.

Kurz gesagt, Lukaschenko scheint über den Tag X mehr zu wissen als die Leute, die ihn loswerden wollen. Und obwohl das alles nur Phobien sind, werden sie dazu führen, dass die Daumenschrauben nochmal angezogen und der letzte Rest an Kritik bis hin zum Referendum ausgemerzt werden. 

Anschließend wird die Regierungsspitze eventuell darüber nachdenken, wie sie mit dem Westen umgehen soll. Aber dieselben Phobien werden sie auch hier daran hindern, auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen. 

Es ist ein Teufelskreis: Die Regierung hat sich in permanente Repressionen manövriert, und je brutaler die Repressionen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass selbst homöopathische Lockerungen Prozesse in Gang setzen, die für die Regierung verheerend wären. Ganz wie in dem chinesischen Sprichwort: Wer auf dem Tiger reitet, kann schlecht absteigen.

Der Versuch, das Image eines Corona-Leugners loszuwerden

Bei der Corona-Konferenz räumte Lukaschenko ein, die Pandemie hätte bei der letzten Präsidentschaftswahl das politische Verhalten der Belarussen beeinflusst: „Der wichtigste Trigger war Covid. Hat dazu noch jemand Fragen?“ Aber „bei der aktuellen Welle beginnt grad politische Erpressung und eine Instrumentalisierung [der Pandemie gegen die Regierung]“.

Man muss hinzufügen, dass die Regierung im vergangenen Jahr selbst für die Unzufriedenheit der Menschen sorgte, auch derer, die eigentlich unpolitisch waren. Alle wissen noch, wer den Leuten geraten hatte, das Virus mit Banja, Wodka, Traktorfahren und Streicheln weißer Zicklein zu bekämpfen, und wer behauptet hat, die Verstorbenen seien selbst schuld: Der eine war zu dick, der andere hat sich auf der Straße rumgetrieben (wobei die Menschen zur Arbeit gehen mussten, weil es keinen Lockdown gab). 

Bei der Konferenz am 19. Oktober versuchte Lukaschenko nun, das Image des Corona-Leugners, das sich als unvorteilhaft erwiesen hat, loszuwerden. Er wies den Gesundheitsminister und weitere Beamte an, strenge Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und insbesondere alter Menschen zu ergreifen, versprach etwas Geld aus dem Fonds des Präsidenten beizusteuern, „um unsere Ärzte zu unterstützen und reichlich Medikamente und sonstiges Material einzukaufen“. 

Gleichzeitig trugen die meisten Konferenzteilnehmer keine Masken („Maulkörbe“, wie der Machthaber sie mal bezeichnet hat). Obendrein rügte Lukaschenko seine Untergebenen, die vorgehabt hatten, Maskenverweigerer zu verfolgen: „Wer gibt euch denn das Recht, Geldstrafen zu verhängen? Wo, in welchem Gesetz steht, dass ihr Menschen zu Geldstrafen verdonnern dürft?“

Er empörte sich darüber, dass Menschen „schon mit Gewalt, mit dem Knie auf der Brust, zur Impfung gezwungen werden“. Eine maßlose Übertreibung. Zudem war das Knie auf der Brust wohl eher ein typisches Bild von den Protesten, die niedergeknüppelt wurden.

Die Menschen glauben der Regierung einfach nicht

Kurzum, der strenge Machthaber demonstrierte plötzlich einen untypischen Hauch von Menschlichkeit und Liberalismus (die ihm auch in anderen politischen Kernfragen nicht schaden würden): „Keinerlei Druck auf die Menschen. Wenn ich mitbekomme, dass Menschen aus Einkaufszentren, U-Bahnen oder Bussen rausgeschmissen werden, gibt’s Ärger. Dann wird es ein politisches Problem.“

Der Innenminister Iwan Kurbakow musste rhetorische Fragen über sich ergehen lassen: „Haben Sie nichts Besseres zu tun? Warum verstoßen Sie gegen Gesetze? So ein Gesetz haben wir nicht. Wem spielen Sie da in die Hände?“

Wobei Lukaschenko im Herbst letzten Jahres selbst noch den Staatsanwälten erklärt hatte: Wenn es Proteste zu unterdrücken gilt, „sind Gesetze zweitrangig“. Diesen Freifahrtschein haben die Spezialeinheiten dann auch kräftig ausgenutzt. Man will sich gar nicht vorstellen, welch heilloses Chaos nun in den Köpfen unter den Polizeimützen tobt (und den Hüten der Beamten in zivil). Denn eigentlich schien die Linie ja klar zu sein: Je härter, desto besser. Und plötzlich verkündet der Chef, man solle nicht übertreiben und behutsam mit den Menschen umgehen. 

Aber Lukaschenko hat natürlich immer die potenzielle Bedrohung seiner Macht im Auge. Er betonte, dass Feinde aus dem Ausland versuchten, das Land zu destabilisieren, indem sie Fakes und Gerüchte über die Situation in Belarus verbreiten.

Aber das Problem ist nicht, dass die Feinde sich so ins Zeug legen, sondern dass die Bürger ihrer Regierung nicht glauben: Zu oft haben sie diese bei, milde gesagt, Schwindeleien ertappt. Glaubt man den sozialen Netzwerken und Alltagsdebatten, halten viele die offiziellen Corona-Zahlen für stark untertrieben.

Im Grunde genommen brachte auch das Misstrauen an offiziellen Zahlen, den Wahlergebnissen, die Menschen im August letzten Jahres auf die Straße. Und wie hat die Regierung das Vertrauen wieder „gestärkt“? Mit Schlagstöcken und Gefängnis.

Darum wird jetzt auch keine Konferenz – mit noch so besorgten Gesichtern ohne Masken – einen plötzlichen Vertrauenszuwachs und ein positives Verhältnis zur Obrigkeit bewirken. 
 

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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