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Sound des belarussischen Protests

„Kak oschtschuschtschenija?“ (dt. „Wie ist die Stimmung?“) rufen die Demonstranten in Richtung des belarussischen Präsidentenpalastes und tanzen zu den Beats von DJ Papa Bo – inmitten eines riesigen Protestmarsches. Diese Frage greift auch die Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies) in ihrem neuen Kultclip auf. Dort singt sie in Anspielung auf die bizarren Bilder von Lukaschenko mit Sturmgewehr: „Hubschrauber gelandet, wollte alle abknallen; Kolja in Kampfmontur; Stimmung: geht so!“ 

Auch an diesem Sonntag, dem 13. September, marschierten wieder über hunderttausend Menschen nicht nur in der Hauptstadt von Belarus – und das trotz massiven Gewalteinsatzes seitens der Silowiki und zahlreicher Festnahmen bereits vor dem eigentlichen Beginn. Am Vortag des geplanten Treffens zwischen Lukaschenko und Putin in Sotschi zeigten die Demonstranten, dass von einem Abflauen der Proteste nicht die Rede sein kann.

Mit dabei waren zahlreiche Musiker mit Trommeln und anderen Instrumenten. Musik spielte in der belarussischen Protestkultur schon immer eine zentrale Rolle. Meduza hat einen aktuellen Soundtrack der Revolte zusammengestellt.

Quelle Meduza

Der musikalische Protest-Slogan in Belarus ist und bleibt – wie übrigens die letzten dreißig Jahre im gesamten postsowjetischen Raum – Viktor Zois Song Peremen (dt. Veränderung). Doch auch die belarussische Musikszene, die sich über all die Jahre unter ein und demselben autoritären Regime entwickelt hat, hat etliche Helden und Hymnen hervorgebracht, die das Volk zusammenschweißen. Wir haben hingehört, worüber Belarus derzeit singt, und können nur bestätigen: Veränderung ist gefragt wie noch nie.  

Max Korzh: Wremena (Zeiten), Teplo (Wärme)

Als in Minsk massenhafte und unverhältnismäßig brutale Festnahmen in vollem Gange waren, appellierte der berühmteste Rapper von Belarus Max Korzh etwas ungeschickt auf Instagram, die Protestierenden sollten bitte aufhören. Später erklärte er: nur für einen Tag, um Blutvergießen zu verhindern. Er wurde zu wörtlich genommen und kritisiert. Parallel dazu veröffentlichte Korzh gleich zwei neue Lieder. Ohne direkte Aussagen, aber die Anspielungen sind klar. In Wremena singt er, dass „die Freiheit jetzt teurer als Gold“ sei, und in Teplo von einem alten Weisen, der den Menschen die Sonne wegnimmt, damit „gar niemand erst ein Problem sieht und alles seine Ordnung hat“. Am 15. August kam der Musiker zum Gefängnis Okrestina, wo Demonstranten, die auf Protestaktionen verhaftet wurden, festgehalten (und grausam misshandelt) werden, und er nahm am Abschied von Alexander Tarajkowski teil, der bei der Auflösung der Demonstration an der U-Bahnstation Puschkinskaja umgekommen war.



Petlja Pristrastija (Schlinge der Leidenschaft): Norma (Norm)

Eine der großartigsten belarussischen Rockbands der Gegenwart zeichnet klarer als viele andere die stillen Grässlichkeiten des postsowjetischen Alltags und hat sich noch nie durch einen besonders optimistischen Blick auf die Welt hervorgetan („Ich glaube an Gomorrha, ich glaube an Sodom, an ein besseres Morgen glaub ich aber kaum“). Erst im Frühling haben sie die erschreckende Antiutopie der heranrollenden totalitären Gesellschaft in einen Song verpackt. Damals wurde das Lied eher in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie gebracht, jetzt wird es zur Unterstützung der Protestbewegung verwendet.

Naka featuring Dzieciuki, Petlja Pristrastija, Rasbitaje Serza Pazana (Das gebrochene Herz eines Homies) und Rostany: Wam (Für euch)

Der Leader von Petlja, Ilja Tscherepko-Samochwalow, machte auch bei einem Projekt der Minsker Gruppe Naka mit: bei einem Lied zum Gedicht des dissidentischen Lyrikers Wladimir Nekljajew, in dem dieser zornig alle anprangert, die dem Regime dienen. Diese Zeilen wurden schon 2010 verfasst, als Nekljajew eine Kandidatur als Präsident von Belarus riskierte (allerdings wurden sie erst zehn Jahre später unters Volk gebracht). Sofort nach der Abstimmung wurde Nekljajew verprügelt, der Organisation von Massenunruhen beschuldigt und verhaftet. Für seine Befreiung setzten sich die EU und die USA ein. In der Folge wurde die Anklage gegen Nekljajew abgemildert, er wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

Dai darohu! (Aus dem Weg!): Baju-bai (in etwa: Heia popeia)

Die Punkband aus Brest singt dieses Lied, eine Reaktion auf die Festnahme der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, aus der Sicht eines Bullen, dessen Ziel es ist, den Gefängnistransporter vollzukriegen – sein schlimmster Albtraum ist ein Machtwechsel. Der Clip sieht aus wie die Zombie-Apokalypse: Der Bulle jagt im Mähdrescher friedliche Bürger übers Feld, OMON-Männer verprügeln eine Rentnerin und führen teuflische Tänze auf, und am Ende ergeben die gemähten Streifen im Feld ein infernales Porträt des Batka.  
In der Nacht auf den 16. August wurde der Leader von Dai dorogu!, Juri Stylski, in Brest verhaftet – er hatte tags zuvor eine Kolonne von mehreren tausend Menschen angeführt, die durch die ganze Stadt marschierte, und das live auf Instagram gesendet.

Sirop (Sirup): Rodina (Heimat), Spasibo, Sascha (Danke, Sascha)

Der Rapper Alexej Sagorin, ehemaliger Wiederholungstäter und Gründungsmitglied der Band Ljapis Trubezkoi, macht kein Hehl aus seiner oppositionellen Haltung zur Staatsmacht. Vor den Präsidentschaftswahlen nahm er einen Track auf mit Motiven aus Juri Schewtschuks Rodina. Im Videoclip zieht Sirop als Tod verkleidet durch Minsk, in dem das Volk demonstriert, und bleibt vor dem Präsidentenpalast stehen. Danach folgte der Song Spasibo, Sascha, in dem der Musiker von seinem schweren Leben in Belarus erzählt. 

Tor Band: My ne narodez (Wir sind kein Völkchen)

Die junge Rockband aus Rogatschew schreibt geradlinige und simple, aber ins Schwarze treffende Agitationslieder mit den klassischen Losungen Uchodi (Geh weg) und Shiwe (Es lebe). Mit diesem Lied reagieren die Musiker auf eine der kränkendsten Beleidigungen seitens des Präsidenten, der die Belarussen als Völkchen bezeichnete, als sie wegen Gerüchten über einen möglichen Wertverlust massenhaft Devisen aufkauften.

Naviband: Inschymi (Als andere)

Ein Eurovision-Teilnehmer aus Belarus: 2017 war Naviband die erste Gruppe in der Geschichte des Wettbewerbs, die ein Lied in belarussischer Sprache sang. Xenija Shuk und Artjom Lukjanenko betonen immer, dass sie mit Politik nichts am Hut haben. Aber jetzt sind auch sie „als andere aufgewacht“. „Wir können diese Brutalität und Gewalt gegen ganz normale Menschen nicht fassen. Wir kriegen Angst. Dazu kann man nicht mehr schweigen!“, kommentierten die Musiker ihre neue Single.

Steny ruchnut (Mauern stürzen ein)

Der Song, mit dem jede Veranstaltung von Swetlana Tichanowskaja endet, hat eine lange Protestgeschichte. Er wurde 1968 vom katalanischen Sänger Lluís Llach als Reaktion auf die Franco-Diktatur geschrieben. Zehn Jahre später übersetzte ihn der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski, und unter dem Namen Mury wurde er zur Hymne der Solidarność. Die belarussische Version stammt vom Musiker Dimitri Woitjuschkewitsch und dem Dichter Andrej Chadanowitsch und wurde erstmals bei den Dezemberprotesten nach der Präsidentschaftswahl 2010 auf dem Unabhängigkeitsplatz präsentiert. Es gibt auch eine russische Version, 2012 von der Moskauer Band Arkadi Koz geschrieben. Auf Tichanowskajas Kundgebungen hört man sowohl die russische, als auch die belarussische Version. Wobei es von zweiterer eine Aufnahme mit der Stimme von Tichanowskajas Mann Sergej gibt, der bei den Wahlen kandidieren wollte und während des Wahlkampfes festgenommen wurde. Um die Hymne zu modernisieren, gab die Postpunk-Band Akute aus Mahiljou kürzlich ein Cover von Mury mit neuer Musik heraus. 



Sergej Michalok: Woiny sweta (Krieger des Lichts), Grai (Spiel)

Paraphrasiert man einen alten sowjetischen Witz, dann ist Alexander Lukaschenko ein unbedeutender Politiker in der Ära Sergej Michalok. In der Regierungszeit des belarussischen Präsidenten hatte Michalok schon drei verschiedene Bands (Ljapis Trubezkoi, Brutto, Drezden) und wechselte mehrmals gründlich sein Image, doch blieb er immer ideeller Gegenspieler von Lukaschenko. Schon vor zehn Jahren nannte er nach den Wahlen den Präsidenten unverblümt einen Lügner, Dieb und Hinterwäldler, wofür er von der Staatsanwaltschaft vorgeladen wurde und emigrieren musste.  
Belarus Freedom, Woiny sweta, Grai, Soratschki (Sternchen), Ne byz skotam! (Kein Vieh sein!) – die Lieder Michaloks sind längst fest im kulturellen Code der belarussischen Nation verankert.



N.R.M.: Try tscharapachi (Drei Schildkröten)

N.R.M. ist eine weitere, für die belarussische Kultur extrem wichtige Rockband aus Minsk, die nicht nur einmal auf den schwarzen Listen der Behörden landete. Ihr Name ist die Abkürzung für Nesaleshnaja Respublika Mroja – unabhängige Traumrepublik.   
Der bekannteste Hit der Band handelt von drei Schildkröten und erklingt regelmäßig bei Protestaktionen. Vor Kurzem trafen sich die Bandmitglieder, die zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, wieder in ihrer klassischen Besetzung im Studio und spielten dieses Lied. „Wir haben die Solidarität des belarussischen Volkes gesehen, den inspirierenden Zusammenhalt der Menschen als Antwort auf Ungerechtigkeit. Wir haben Leute gesehen, die auf den Straßen Try tscharapachi sangen und beschlossen, auf unsere Art Einheit zu demonstrieren“, erzählte der ehemalige Frontman von N.R.M., Lavon Volski.




N.R.M.-Gitarrist Pit Paulau „stürmt“ den Präsidentenpalast in Minsk

Peremen

Noch mal zurück zu Zoi. Peremen ist im belarussischen Radio seit vielen Jahren verboten. Umso häufiger wird der Song von Autofahrern aufgedreht und von Straßenmusikern gesungen. Am wirkungsvollsten war seine Verwendung für den Wahlkampf 2020 bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung am 6. August auf dem Kiew-Platz in Minsk, die anberaumt wurde, um eine geplante Kundgebung von Tichanowskaja zu vereiteln. Als Zeichen des Protests drehten die Tonmeister Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowski plötzlich eine Aufnahme der Band Kino auf und hielten weiße Bänder hoch. Das Publikum reagierte auf ihre Zivilcourage mit Beifall. Nach ungefähr einer Minute machte der Vorsteher des Minsker Stadtbezirks Zentralny Dimitri Petruscha den Ton aus. Am nächsten Tag bekamen die jungen Männer je zehn Tage Haft für minderschweres Rowdytum und Ungehorsam gegen Amtspersonen.



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Viktor Zoi

Am 15. August vor 32 Jahren kam Viktor Zoi bei einem Autounfall ums Leben. Schon damals war er ein Idol der sowjetischen Jugend in der Zeit der großen Veränderungen. Der Erinnerungskult um ihn hält aber bis heute an. Seine Lieder, in denen er die Wende in der Sowjetunion anstrebte, sind noch immer Hymnen der Veränderungen in vielen postsowjetischen Ländern, nicht zuletzt in Belarus 2020. Ingo Grabowsky über den mythenumwobenen Rockstar, den sein Tod gleichsam unsterblich machte. 

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Viktor Zoi

Als am 6. August 2020, kurz vor der Präsidentschaftswahl in Belarus, hunderte Einwohner von Minsk – Familien, Alte und Jugendliche – zu dem Platz kamen, auf dem ein staatlich organisiertes Familienfest stattfand, geschah plötzlich etwas Außergewöhnliches: Ein bekanntes, unverwechselbares Gitarrenriff dröhnte aus den Boxen, viele Menschen streckten die Fäuste gen Himmel und spätestens beim Refrain stimmten fast alle auf dem Platz mit ein: „Peremen, my shdjom peremen“ („Wandel, wir warten auf den Wandel!“). Die Besucher der Veranstaltung waren hauptsächlich Anhänger der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sonst keinen Platz für eine geplante Kundgebung erhalten haben: All die wenigen Plätze, die in Minsk für politische Aktionen vorgesehen sind, wurden von ähnlichen staatlich organisierten Veranstaltungen besetzt. Die beiden DJs des Familienfestes drückten ihre Solidarität mit den Anhängern Tichanowskajas aus, indem sie dieses Lied auflegten: Chotschu peremen (dt. Ich will den Wandel) von Kino stammt aus dem Jahr 1986 und gilt vielfach als Hymne der Perestroika. Und Viktor Zoi, Sänger der Kultband, galt schon damals als Idol der sowjetischen Jugend. Nachdem er am 15. August 1990 durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, nahmen sich Dutzende Jugendliche das Leben. Sein früher Tod leistete der Legendenbildung Vorschub: Bis heute hält sich um den Sänger ein Erinnerungskult, der von Jugendgeneration zu Jugendgeneration weitergegeben wird. Und seine Lieder sind mehr als nur ein Denkmal ihrer Zeit. Sie sind zum Symbol politischer Veränderungen im postsowjetischen Raum geworden. Die beiden DJs, die das Lied in Minsk im Vorfeld der Präsidentschaftswahl abspielten, wurden jeweils zu zehn Tagen Haft verurteilt.

Heute lassen sich die Lieder Zois als akustisches Symbol für eine Zeit hören, in der Veränderungen möglich schienen. Das gilt vor allem für sein Lied Chotschu peremen, das 1986 im Leningrader Rock-Klubmit seiner Wut wie eine Bombe“ (Olga Caspers) einschlug. Zwar gibt es vereinzelte Stimmen, die die Bedeutung Zois eher in seiner Beschreibung des Kriegs „als dem natürlichen Zustand der Menschheit“ (Iwan Martynenko) sehen. Dazu passt, dass Zoi als Jugendlicher Bruce Lee bewunderte und asiatischen Kampfsport betrieb. Doch nichtsdestoweniger gilt auch für Popmusik die Feststellung, dass ihre Bedeutung vor allem darin liegt, wie sie vom Publikum wahrgenommen wird – und nicht so sehr darin, was sie vielleicht aussagen wollte. Daher nimmt das Lied Chotschu peremen im überschaubaren, gut 100 Lieder umfassenden Schaffen von Zoi eine Sonderstellung ein. Im übrigen gibt es einige andere Lieder, die aus diesem Themenbecken schöpfen.  

Generation der Straßenfeger und Wächter

Viktor Zoi wurde am 21. Juni 1962 in Leningrad als Sohn eines koreanischstämmigen Ingenieurs und einer russischen Sportlehrerin geboren. Künstlerisch inspirierten ihn englische Bands wie die Beatles und die Rolling Stones, aber auch sowjetische Sänger und Schauspieler wie Michail Bojarski und Wladimir Wyssozki. Bereits als Jugendlicher spielte Zoi in einer Schülerband, etwas später auch in einer der ersten sowjetischen Punk-Bands mit. Seine Schullaufbahn verlief entsprechend den Bedingungen im Sowjetstaat: Aufgrund eines Konflikts mit einem Lehrer über die Geschichte der Kommunistischen Partei musste Zoi die Schule verlassen und den Beruf eines Holzschnitzers erlernen. Später übte Zoi lange Jahre den Beruf eines Heizers aus, selbst als er bereits ein Star in der Sowjetunion war. Wie viele andere Rockmusiker der „Generation der Straßenfeger und Wächter“, wie sie Grebenschtschikow in einem Lied nannte, konnte er unter den Bedingungen des Kommunismus von seiner Kunst nicht leben. 

Das erste Konzert mit einer neugegründeten Band spielte Viktor Zoi im Sommer 1981 auf der Krim. Im Winter 1981/82 erhielt seine neue Gruppe den Namen Kino, den sie bis zu Zois Tod und der darauf folgenden Auflösung der Gruppe behielt. Kino wurde Teil des legendären Leningrader Rock-Klubs, in dem die Gruppe 1982 ihr erstes Konzert gab. Bei diesem spielte unter anderem Boris Grebenschtschikow mit, der mit seiner Gruppe Aquarium vermutlich wichtigste Protagonist der alternativen Pop- und Rockmusik

Ausdruck der sowjetischen Jugend

In dieser Zeit nahm Zoi mit Kino sein erstes Kassettenalbum auf. Es erhielt den Titel 45, weil es genau 45 Minuten lang war. Grebenschtschikow und Musiker von Aquarium beteiligten sich an diesem Album. In den Liedern von 45 drückte Zoi ganz unmittelbar und neuartig das Empfinden sowjetischer Jugendlicher aus. Das Stück Elektritschka lässt sich zum Beispiel als Metapher auf den Sowjetkommunismus lesen und ironisiert dabei die eng mit dem Glauben an den technischen Fortschritt verknüpften ideologischen Schablonen des Sowjetkommunismus: „Die Elektritschka bringt dich dorthin, wo du gar nicht hin möchtest.“  

Aber auch alltägliche, die Langeweile und zeitweilige Trostlosigkeit der Jugend widerspiegelnde Situationen werden auf dem Album beschrieben: 

Deutsch
Original
Du gehst allein die Straße entlang.  
Du gehst zu irgendeinem von deinen Freunden.  
Ohne Grund besuchst du jemanden  
und fragst nach Neuigkeiten.
Du willst einfach nur wissen, wo und was gerade so los ist. 
Идешь по улице один.
Идешь к кому-то из друзей.
Заходишь в гости без причин
И просишь свежих новостей.

Langeweile und Ziellosigkeit – das waren Kategorien, die im hergebrachten sowjetischen Unterhaltungsgenre Estrada bis dahin keinen Platz hatten.

Auch wenn die musikalische Qualität des mit einfachen Mitteln aufgenommenen Albums etwas zu wünschen übrig lässt: Die Einfachheit der Aufnahme macht ihren Charme und ihre Unmittelbarkeit aus. 45 ist eines der ersten sowjetischen Alben, auf dem ein Drum-Computer eingesetzt wurde, und zwar aus reiner Not: für die Aufnahmen fehlte ein Schlagzeuger. In der Folge wurde die Nutzung des Drum-Computers stilbildend für die Gruppe und machte den besonderen Klang der Band aus, der zwischen Punk, New Wave, Rock'n'Roll und Synthie-Pop schwankt. Prägend für die Songs von Kino war zudem der ganz eigene Charakter des Gesangs von Viktor Zoi, der zugleich melancholisch und klar war.   

Auf dem Höhepunkt der Popularität 

Die Lieder der Gruppe wurden in der Mitte der 1980er Jahre immer politischer: Beim zweiten Leningrader Rock-Festival 1984 spielte die Gruppe das Antikriegslied Ja objawljaju swoi dom mit der Textzeile „Ich erkläre mein Haus zur atomfreien Zone“. Damit gewann Kino den Preis des Rock-Klubs. 

Die Perestroika-Politik der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ermöglichte Zoi, sein Schaffen nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren: An seinem Album Natschalnik Kamtschatki (dt. Der Kommandeur von Kamtschatka) wirkte erneut Boris Grebenschtschikow mit. Die Lieder wurden politischer, die Texte aber auch komplexer. Die Lieder besangen das einsame Individuum – eine neue Note im sowjetischen Zusammenhang. Rasch erschienen weitere Alben mit Hits wie Mama – anarchija (dt. Mama ist die Anarchie). 

Viktor Zoi, Sänger der Band Kino, galt schon vor seinem frühen Tod als Symbol der sowjetischen Jugend / Foto © Galina Kmit / Sputnik

Zoi beschränkte sich nicht auf die Musik. Als Schauspieler wirkte er 1988 unter anderem an den Filmen Assa von Sergei Solowjow und Igla (dt. Die Nadel) von Raschid Nugmanow mit. Teil des Soundtracks von Assa war das Lied Chotschu peremen. Der Film Igla und das ebenfalls 1988 erschienene Album Gruppa krowi (dt. Blutgruppe), das auch im Ausland auf den Markt kam, erzeugten in der Sowjetunion eine regelrechte Kinomanie. Die Band trat nun auch in Ländern des Westens auf, in Dänemark, Frankreich und Italien. 

Die Auftritte der Gruppe wurden immer größer – Viktor Zoi war zum Star geworden. Am 24. Juni 1990 gaben Kino im Moskauer Stadion Lushniki vor 62.000 Zuschauern ihr bis dahin größtes und zugleich letztes Konzert. Im Anschluss an diesen Triumph machte sich Zoi mit dem Gitarristen Juri Kasparjan auf einer Datscha bei Jurmala (Lettland) an die Arbeit an einem neuen Album. 

Früher Tod und Legendenbildung

Am 15. August 1990 kam Viktor Zoi bei einem Autounfall in der Nähe des lettischen Tukums mit nur 28 Jahren ums Leben. Der Unfall bildete unter anderem auch den Anlass für Verschwörungstheorien: Noch heute gibt es Gerüchte, Zoi sei nicht verunglückt, sondern ermordet worden – eine angesichts anderer Operationen östlicher Geheimdienste nicht unwahrscheinlich anmutende Version des Todes. Zur Legende gehört auch die Erzählung, das Band mit der Aufnahme des Gesangs von Zoi habe den Unfall unversehrt überstanden, obgleich das Auto ansonsten völlig zerstört gewesen sei. Der Gitarrist Juri Kasparjan korrigierte diesen Mythos jedoch bereits 2002 in einem Interview.3 Postum erschien das Tschorny Albom (dt. Schwarzes Album), dessen Gesangsspur Zoi bereits eingesungen hatte. 

Vielleicht stimmt die Auffassung, gerade der frühe Tod Zois habe bewirkt, dass der Sänger nachhaltig zur Legende wurde – Viktor Zoi also gleichsam als russischer James Dean. Andrej Tropillo, der als Toningenieur unter anderem das erste Album von Kino aufgenommen hatte, meinte im Nachhinein, Zoi sei gerade „rechtzeitig“ gestorben: Der Zenit seines Schaffens sei bereits überschritten gewesen, die letzten Alben seien künstlerisch bereits schwächer geraten als die ersten.4 Ganz gleich, ob diese etwas zynisch anmutende Sicht der Wirklichkeit nahekommt, in einem Punkt hat Tropillo zweifellos recht: Die Legendenbildung um Zoi hat der frühe Tod des Sängers erst ermöglicht. 

Erinnerungskult

Noch heute wird Zoi in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nahezu kultisch verehrt. Symbolhaft steht er für die Zeit der Perestroika, in der Veränderungen nicht nur wünschenswert, sondern auch – anders als vielleicht heute – möglich schienen. Das Gedenken trägt besondere Züge, und es hält bis heute an: Der Regisseur Kirill Serebrennikow verarbeitete das Leben Zois 2018 in dem biographischen Spielfilm Leto (dt. Sommer), der mit einem Europäischen Filmpreis gewürdigt wurde. Die Preisübergabe in Cannes konnte allerdings nicht stattfinden, weil sich Serebrennikow damals in Moskau in Hausarrest befand. 

Auf dem Moskauer Arbat etwa gibt es eine inoffizielle Zoi-Gedenkmauer mit Graffitis, die an den Sänger erinnern. Auch in anderen Städten der früheren Sowjetunion sind ähnliche Mauern zu finden. Den Status eines Naturdenkmals erhielt im Februar 2020 eine Zoi-Trauerweide in Kiew. Am Unfallort selbst, aber auch an anderen Plätzen in den Ländern der früheren Sowjetunion, erinnern Denkmale an Viktor Zoi, den sein Tod gleichsam unsterblich machte.


1.Zvezda po imeni Viktor Zoj: Interv'ju s Juriem Kasparjanom, in: Tinejdžer, № 54, 21. bis 27. Juni 2002 
2.topdialog.ru: «Vovremja ujti — eto pravil'no. Russkij narod očen' ljubit mertwecov»: Andrej Tropillo o Viktore Coe 
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