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Neues belarussisches Wörterbuch

Sorge um Maria Kolesnikowa: Eine Augenzeugin hatte am Montagmorgen im Zentrum von Minsk beobachtet, wie die letzte im Land verbliebene Mitstreiterin aus dem Frauentrio um Swetlana Tichanowskaja von maskierten Männern in Zivil in einen dunklen Kleinbus gezerrt wurde. Im Lauf des Tages waren auch zwei weitere Mitglieder des Koordinationsrates – Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow – nicht mehr erreichbar und galten als vermisst. Von letzteren beiden gibt es nun ein Lebenszeichen aus der Ukraine – sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach gegen ihren Willen außer Landes gebracht. 
Der Staatssender Belarus 1 hatte berichtet, die beiden Männer seien ins Ausland geflohen. Kolesnikowa sei verhaftet worden – beim illegalen Versuch, die Grenze zu überqueren.
Dem widersprechen nicht nur frühere Aussagen Kolesnikowas, sondern auch eine Meldung von Interfax-Ukraine: Demnach hat Kolesnikowa an der Grenze ihren Pass zerrissen, um nicht gegen eigenen Willen außer Landes gebracht zu werden.
Über ihren Verbleib herrscht derzeit Unklarheit. Das unabhängige belarussische Medium tut.by veröffentlichte ein Interview mit einem belarussischen Grenzbeamten, der darin aussagt, Kolesnikowa sei an der belarussisch-ukrainischen Grenze festgenommen worden. 
Alexander Lukaschenko hatte in den 1990er Jahren mehrfach politische Gegner gewaltsam verschwinden und höchstwahrscheinlich ermorden lassen. Der freie Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher weist auf seinem Facebook-Account darauf hin, dass die Taten damals „wenn es denn Zeugen gab, von Personen in Zivil“ ausgeführt wurden. 
Es waren häufig auch Männer in Zivilkleidung und mit Masken, die in den vergangenen Tagen gewaltsam gegen Demonstrierende vorgegangen sind.

Die Gewalt der letzten Tage und Wochen, aber auch die Hoffnung der Demonstrierenden – all das hat Eingang in die belarussische Sprache gefunden. Mikita Ilintschik hat ein Wörterbuch zu Belarus im Wandel auf Republic zusammengestellt.

Quelle Republic

Lukaschenko, ab in den Awtosak!“ (russ. Lukaschenko w awtosak!) In Belarus, genau wie in Russland, ist der Awtosak (der Gefangenentransporter) eines der Symbole staatlicher Gewalt. Er dient als Angstmacher und ist häufig anzutreffen: Oft stehen mehrere davon im Stadtzentrum oder fahren durch die Straßen von Minsk. Andererseits finden sie auch Anwendung im Marketing, auf Magneten und T-Shirts, und in der modernen Kunst. Die obige Losung des Sommers 2020 fordert unmissverständlich, dass das Objekt seinem Zweck gemäß zum Einsatz kommt: Verbrecher gehören in den Awtosak, nicht Bürger, die friedlich ihre Meinung kundtun oder einfach zufällig vorbeikommen.

Chapun (böser Geist der slawischen Mythologie, der vornehmlich Juden und Kinder entführt): bezeichnet eine Taktik der belarussischen Slabowiki (siehe unten), die sich durch einen überraschenden und aggressiven Verhaftungsstil auszeichnet. Chapun ist eine Massenerscheinung und geschieht unerwartet. Das Prinzip ist folgendes: Ein Awtosak (siehe oben) kommt aus dem Nichts, aus dem Nichts stürmen die OMON-Kräfte auf die Straße und nehmen die Menschen mit ins Nirgendwo. Die Sicherheitskräfte nennen keinen Grund für die Verhaftung und tragen keine Erkennungsmarken. Die Bürger werden in Autos ohne Nummernschilder oder in den Awtosak gesteckt. 

„Es lebe Belarus!“ (belaruss. Shiwe Belarus!) ist die mittlerweile weltweit bekannte Losung der belarussischen Opposition von 2020. Genau so hieß übrigens auch die offizielle Hymne des unabhängigen Belarus bis 1995. 1995 hielt Lukaschenko ein Referendum zur Wiedereinführung sowjetischer Staatssymbole ab. Flagge, Wappen und Hymne wurden mit geringen Änderungen wiedereingeführt. Auch deswegen ruft Shiwe Belarus! Assoziationen an ein Belarus ohne Lukaschenko wach, an die Geburt eines belarussischen Staates – sowohl 1918 als auch 1991

Lustig ist, dass die Losung zwei gegensätzliche Bedeutungen gleichzeitig hat: Einerseits gibt es sie im offiziellen Sprachgebrauch (zum Beispiel erscheint das Organ des Belarussischen Parlaments, die Narodnaja Gazeta, mit dem Slogan Shiwe Belarus! im Logotyp). Andererseits wurde sie zur Losung der Opposition. Die Situation geriet zur Farce, als der Slogan de facto verboten wurde: Es kam zu Verhaftungen, Verurteilungen und Gefängnisstrafen, in den Protokollen hieß es: „Die Person hat die staatsfeindliche Losung Shiwe Belarus! gerufen.“ 

Genügsamkeit (belaruss. pamjarkoŭnasz). Psychophysischer Massenzustand der Bürgerinnen und Bürger der Republik Belarus von 1994 bis 2020. Umfasst Gedanken über Demokratie und Freiheit genauso wie chronische Depressionen, Lustlosigkeit oder Unfähigkeit zu entschiedenen Handlungen, Angst vor Veränderungen, Wandel ist unmöglich, mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Kurz, das Wort beschreibt den Geisteszustand der Nation, der durch die Politik Lukaschenkos die letzten 26 Jahre geschaffen wurde. 

„Glauben! Können! Siegen!“ (belaruss. Werym! Mosham! Peramosham!) ist eine der wichtigsten Losungen des belаrussischen Protests im Jahr 2020. Woher sie stammt, ist unbekannt. Es gibt auch schon eine neue Version: „Glauben! Lieben! Siegen!“ [sic. Geläufiger ist allerdings Ljubim! Mosham! Peramosham!, „Lieben! Können! Siegen!“ – dek]. Hier steht der friedliche Charakter der Proteste im Mittelpunkt.

Henkersknechte (russ. karateli) sind Angehörige bewaffneter Einheiten (gewöhnlich von Besatzern), die für die Repressionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen des besetzten oder unterworfenen Gebiets zuständig sind. In der Nacht vom 9. auf den 10. August 2020, gleich nach dem Ende der Wahl, haben die belarussischen OMON-Kräfte Grausamkeit walten lassen, nicht nur bei Festnahmen, sondern auch bei Verhören. Ungeheuerlich waren auch die Haftbedingungen der Festgenommenen. Für viele kam diese Grausamkeit völlig unerwartet. So hielt karateli, ein seit dem Großen Vaterländischen Krieg vergessener Begriff, wieder Einzug in das belarussische Wörterbuch. Und sollte das Wort „Faschisten“ es geschafft haben, in der ehemaligen Sowjetunion zu einem Sprachklischee zu werden, das sowohl Demonstranten nutzen als auch die offizielle Propaganda, so klingt das Wort „Henkersknecht“ im Jahr 2020 einfach nur hart und grausam.
Ganz zu schweigen von all dem, was bewiesen ist: Das Internet ist voll von Dokumenten und Belegen der Gräueltaten des Lukaschenko-Regimes. Festgenommenen Männern wurden die Hoden abgequetscht, Rippen gebrochen, Frauen Haare ausgerissen. Sowohl Männer als auch Frauen waren sexueller Gewalt und brutalen Schlägen ausgesetzt. Gegen friedliche Demonstranten kamen Gummigeschosse und Wasserwerfer zum Einsatz. Verhaftete bekamen Elektroschocks, wurden entkleidet, mit Wasser übergossen, 50 Leute wurden in eine kleine Zelle gepfercht, mit Spraydosen farblich markiert: Die unterschiedlichen Farben standen für die unterschiedlichen Grausamkeitsstufen, denen die Festgenommenen ausgesetzt wurden. Die Assoziation zu den faschistischen Besatzern kam ganz von selbst auf, und damit auch das Wort. Ich möchte daran erinnern, dass Karateli (dt.: Henkersknechte) ein Werk des berühmten belarussischen Schriftstellers Ales Adamowitsch ist.

Okrestina. Dorthin werden die Aufständischen im Awtosak (siehe oben) kutschiert. Okrestina ist das Zentrum zur Isolierung von Gesetzesbrechern (ZIP), eine Einrichtung der Hauptverwaltung des Inneren von Minsk. Adresse: Perwy Pereulok Okrestina 36. Während der Massenverhaftungen, in der Nacht auf den 10. August, wurden die Menschen im Awtosak ins ZIP gebracht. In Sechser-Zellen fanden sich mehrere Dutzend zusammengeschlagener Leute – bis zu 60 Festgenommene saßen in einer Zelle. Entsprechend wurde die Okrestina ein Synonym für „Folterkammer“. 
Schrecklich ist auch das Schicksal des Namensgebers: Boris Okrestin, nach dem die Straße, in der sich das Gefängnis befindet, benannt ist, war ein sowjetischer Pilot, der in der Nähe von Minsk umkam, als er sein brennendes Flugzeug in Flieger der Faschisten hineinsteuerte.

Sascha 3 %. Im Mai 2020 wurden auf vielen Internetplattformen Wahlumfragen durchgeführt, bei denen die Nutzer für unterschiedliche belarussische Präsidentschaftskandidaten abstimmen konnten. Alexander Lukaschenko bekam in der Regel um die 3 Prozent. Daraufhin verbot der Staat derartige Internet-Umfragen. Nachwahlbefragungen an Wahllokalen im Ausland kamen zu denselben Ergebnissen, um die 3 Prozent. An keinem Wahlbüro in Ländern, in denen Nachwahlbefragungen erlaubt sind, erzielte Lukaschenko mehr als 10 Prozent. Insofern etablierte sich das Meme Sascha 3 % als wichtigster Indikator der tatsächlichen Popularität von Lukaschenko.

Schmarotzer (belaruss. darmajed abgeleitet von darma, einfach so, und jest, essen). Im sowjetischen Gesetz war „Parasitentum“ von 1961 bis 1991 ein Verbrechen, das darin bestand, dass „eine volljährige, arbeitsfähige Person langfristig keine gesellschaftlich sinnvolle Arbeit erfüllt und von anderweitig erworbenen Einkünften lebt“. Lukaschenko hat als Fan des sowjetischen Systems 2015 eine Steuer auf Parasitentum eingeführt: Sie muss von Bürgerinnen und Bürgern der Republik Belarus gezahlt werden, die offiziell nicht in der belarussischen Wirtschaft beschäftigt sind. Außerdem wurden für diese Menschen höhere Tarife für kommunale Dienstleistungen eingeführt.
Einerseits hat man so die Arbeitslosigkeit bekämpft, andererseits bedeutete es eine erzwungene Anwerbung von Bürgern zur Arbeit in den unprofitablen Staatsbetrieben – und außerdem ein weiteres Steuermanöver, von dem der Staat profitierte.
Auch aktuell geht die Welle von Unruhen laut Lukaschenko von „Junkies, Prostituierten und Schmarotzern“ aus. Deswegen hört man von den Protestierenden regelmäßig ironische Verdrehungen: „Schmarotzer?“ „Hier.“ „Junkies?“ „Hier.“ „Prostituierte?“ „Hier.“

Slabowiki (von russ. slabo, schwach) ist ein von dem sehr beliebten Telegram-Kanal Nexta eingeführter und auch sonst schon seit langem immer häufiger verwendeter Terminus. Die bis an die Zähne bewaffneten und ausgerüsteten Diener des Regimes, die friedliche Bürger schlagen, kann man nicht als Silo-wiki bezeichnen (von russ. sila Kraft, Gewalt), das wäre zu ehrenvoll. Der neue Terminus zeigt den Lakaien ihren Platz.

Strafgerichtshof/Tribunal (von lat. tribunal, Richterstuhl, Gerichtshof) ist ein außerordentliches Gericht, häufig (aber nicht unbedingt) ein Kriegsgericht und auf jeden Fall abgesetzt vom ordentlichen Gericht der allgemeinen Jurisprudenz. Nach dem Muster des Internationalen Kriegstribunals in Nürnberg, das über die Verbrechen des Hitlerregimes urteilte, wurden auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda so genannt. Belarus ist heute wahrscheinlich weltweit führend, was die Menge an Gesetzesbrüchen in den unterschiedlichsten Bereichen betrifft: Von Wahlfälschungen über unbegründete barbarische Gesetze bis hin zur Gewaltanwendung gegenüber Menschen. Wenn die Zentrale Wahlkommission ZIK ganz offensichtlich lügt, die Gerichte lügen, der Präsident lügt (und unterstützt das Lügen gewaltsam), dann bleibt den Bürgern nur, eine höhere Instanz der Gerechtigkeit zu fordern: Einen Strafgerichtshof. 

Tichari (von russ. ticho, still, leise) sind Miliz-Angehörige in Zivil (ja, in Belarus gibt es immer noch die Miliz). Es gibt eine ganze Armee von Tichari, ihre genaue Funktion ist jedoch nicht bekannt. Am häufigsten beobachten sie Demonstranten. Einen Tichar zeichnet sein unauffälliges Erscheinungsbild aus. Unerlässlich ist die Herrenhandtasche, die über der Schulter hängt, klassisches Schuhwerk und Trainingshose. Die stillen Genossen schleichen nicht nur im Zentrum herum, sondern auch in Wohngebieten. Manche Tichari haben Kameras, mit denen sie die Proteste aufzeichnen. Tichari können Menschen verhaften und sie in Awtosaks stecken. Sie sind wortkarg. Außerdem kann man sie an ihrer Maske erkennen: Obwohl es in Belarus keine Corona-Maßnahmen gab, halten sich dieTichari an die Hygienestandards.

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Gnose

Viktor Zoi

Am 15. August vor 32 Jahren kam Viktor Zoi bei einem Autounfall ums Leben. Schon damals war er ein Idol der sowjetischen Jugend in der Zeit der großen Veränderungen. Der Erinnerungskult um ihn hält aber bis heute an. Seine Lieder, in denen er die Wende in der Sowjetunion anstrebte, sind noch immer Hymnen der Veränderungen in vielen postsowjetischen Ländern, nicht zuletzt in Belarus 2020. Ingo Grabowsky über den mythenumwobenen Rockstar, den sein Tod gleichsam unsterblich machte. 

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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