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„Wenn es zur Demokratisierung kommt, dann aus Versehen“

Am 10. Mai 2021 hat Alexander Lukaschenko das Dekret „Zum Schutz der Souveränität und der verfassungsmäßigen Ordnung“ unterschrieben, über das bereits in den vergangenen Wochen in der belarussischen und internationalen Presse spekuliert worden war. Das Dekret regelt einen neuen Machtübergang, abseits des Weges, den die Verfassung vorsieht. Im Falle eines gewaltsamen Todes von Lukaschenko übergeht die präsidiale Macht nun nicht mehr an den Premierminister, sondern an den Sicherheitsrat. Dieser kann dann beispielsweise den Kriegszustand ausrufen, der die Durchführung von Demonstrationen oder Streiks unmöglich macht. Der Sicherheitsrat hat neben dem Präsidenten aktuell acht weitere Mitglieder, so unter anderem den Premierminister, den Vorsitzenden des KGB, den Chef der Präsidialverwaltung sowie Innen- und Verteidigungsminister. Der Politologe Waleri Karbalewitsch beispielsweise sieht in der neuen Regelung eine klare Stärkung der Silowiki

Aber natürlich braucht es nicht nur Beamte der Sicherheitsstrukturen, um den autoritären Staatsapparat am Laufen zu halten. In einem Interview für das belarussische Medium Belorusy i rynok befasst sich der politische Analyst und Journalist Artyom Shraibman mit dem Beamtenapparat des Lukaschenko-Staates und mit Fragen, die für das weitere Überleben des Systems eine immanent wichtige Rolle spielen. 

Quelle Belorusy i Rynok

Nach welchen Kriterien erfolgt in Belarus die Auswahl von Staatsbeamten?

In politisch sensiblen Strukturen wie dem KGB, dem operativ-analytischen Zentrum OAZ oder dem Innenministerium war das Hauptkriterium schon immer die Loyalität zur Regierung. In anderen Behörden war die politische Komponente früher weniger wichtig: Im Gesundheitsministerium, dem Katastrophenschutzministerium oder dem Außenministerium war bis vor kurzem noch ein gewisses Ausmaß an Freigeist zulässig. In diesen Behörden wurde mit dem Aufstieg auf der Karriereleiter immer stärker ausgesiebt. Ein solider Fachmann konnte beispielsweise bis zum Posten des Verwaltungschefs aufsteigen, danach wurden seine Karrierechancen mit dem KGB, der Präsidialadministration und anderen Behörden abgestimmt. Menschen mit einem „falschen“ politischen Lebenslauf blieb der Aufstieg verwehrt.

Ich denke, das war der entscheidende Faktor, warum sich die Regierung nach den Ereignissen im August halten konnte: Das System hatte den Aufstieg der meisten unabhängig denkenden Menschen verhindert. In höheren Ämtern haben nur einige wenige offen oder halboffen Kritik geäußert. In der Mitte und dem unteren Teil des Staatsapparates sah es schon ganz anders aus.

Derzeit werden alle Anwärter für Staatsämter unabhängig von der Stellung und Behörde danach durchleuchtet, ob sie politisch vertrauenswürdig und loyal zur gegenwärtigen Regierung sind. Aus zuverlässigen Quellen weiß ich, dass Mitarbeiter des Innenministeriums und des Ermittlungskomitees unter Einsatz eines Lügendetektors befragt werden, um diejenigen auszusieben, die bei den Wahlen für den „falschen“ Kandidaten gestimmt hatten – ihre Verträge werden nicht verlängert. Die Regierung hat die enorme Bedeutung der politischen Loyalität von Beamten auf allen Ebenen klar erkannt.

In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch

Aber das trifft nicht nur auf Ministerien zu. Sogar in kleineren Staatsunternehmen werden Geschäfts- und Abteilungsleiter ersetzt. 

Da greift aber ein anderes Prinzip. Ich denke nicht, dass diese Menschen sich in irgendeiner Form als illoyal gezeigt hatten. Vielmehr waren sie nicht aktiv genug bei der Verfolgung von Dissidenten in ihren Unternehmen. Sie hatten ihre Unternehmen nicht von „aufwieglerisch Denkenden“ gesäubert und mussten den Preis dafür zahlen. Würde sich der August wiederholen, würde es zu Streiks kommen und sich ein Fabrikleiter seinen Arbeitern anschließen, wäre das katastrophal für die Regierung. Wenn sie mich also nach einer Tendenz fragen, dann lässt sich eine Abwanderung von qualifizierten Fachkräften und von Menschen mit einem Gewissen beobachten, und an ihre Stelle treten Aufseher.

Welche Konsequenzen hat es, wenn erfahrene Fachleute durch einfach nur regimetreue Menschen ausgetauscht werden?

Auf kurze Sicht stärkt es das Regime. Das System besteht nur noch aus besonders gehorsamen und loyalen Menschen, die keine Bedenken bei der Ausführung jedweder Anweisungen haben. Aber langfristig sägt man damit den Ast ab, auf dem man sitzt, denn solche Leute sind vor allem darauf bedacht, sich anzudienen und berücksichtigen keine langfristigen Konsequenzen. Sie treffen realitätsferne Entscheidungen, sie glauben, das Recht zu haben, ideologisch Druck auf Menschen auszuüben, ihre Mitarbeiter dreist zu behandeln, harte Entscheidungen zu treffen, ohne sie mit der Belegschaft abzustimmen. Letztendlich verliert das gesamte System an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen. 

Außerdem zerstört diese „negative Selektion“ jegliche Chancen auf einen positiven politischen Wandel in Belarus. Je mehr sich das System abschottet, desto weniger Möglichkeiten hat es, in Krisenzeiten vernünftige Entscheidungen zu treffen. Unter diesen Umständen wird ein Wandel nicht als eine Evolution, sondern durch eine politische Katastrophe passieren, sprich durch einen Zusammenbruch der gesamten politischen Struktur. 

Wann wird die kurzfristige Phase enden, und wann werden die Konsequenzen eintreten, von denen Sie sprechen?

Das hängt davon ab, wann der Regierung die Mittel für die brutale autoritäre Kontrolle von jedem gesellschaftlichen Bereich ausgehen und davon, wie sehr sie die Daumenschrauben noch anzieht. 

In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch. Die Regierung hat sich potentieller Überläufer entledigt, und sie hat finanzielle Reserven, zumindest für die nächste Zeit. Ich denke, die Konsequenzen werden zutage treten, sobald es konstitutionelle Veränderungen gibt – selbst wenn die Regierung davon überzeugt ist, den Nachfolger oder die führende Partei vollkommen unter Kontrolle zu haben. In diesem System reicht eine Prise Freiheit und es bricht wegen seiner flächendeckenden Inkompetenz und seiner Unfähigkeit, vorauszudenken, in sich zusammen.

Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen

Was motiviert die Fachleute derzeit noch in diesem System zu bleiben? Denen ist ja sicher klar, wie falsch alles war, was in den letzten sieben Monaten passiert ist?

Teilweise hält sie dort die Angst um ihre eigene Zukunft, um die Zukunft ihrer Familien, die materielle Abhängigkeit von der Anstellung, vielleicht auch Kredite oder Wohnraum, der ihnen als Beamten im Staatsdienst zur Verfügung gestellt wird.

Denkbar ist auch, dass manche von ihnen noch hoffen, das Regime würde sich von selbst reformieren. Sie reden sich ein, dass es besser sei, Teil des Staatsapparates zu bleiben, denn „wenn wir gehen, nehmen völlige Obskuranten unsere Plätze ein, wir lenken das Land wenigstens in die richtige Richtung“. Mit solchen Illusionen beruhigen sie ihr Gewissen. Sie glauben, Alexander Lukaschenko wäre allen Ernstes zu demokratischen Reformen und Fortschritt bereit, und wollen ihn darin unterstützen. Solche Menschen gibt es noch im Innenministerium und in den Finanzbehörden. Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen. Wenn es zu einer Demokratisierung kommt, dann aus Versehen. Die Regierung wird mit Veränderungen experimentieren und die Kontrolle über diese Vorgänge verlieren. So etwas ist in vergleichbaren Fällen auch in anderen Ländern passiert. 

Die andere Möglichkeit ist, dass die Demokratisierung durch einen Zusammenbruch kommt: Wenn es zu einer neuen Welle der Gewalt oder einem Wirtschaftskollaps kommt – dann fegt der Sturm alles weg. Diese zwei Varianten halte ich für wahrscheinlich. Aber eine gesteuerte Modernisierung, die sich diese Menschen womöglich erhoffen, wird es ganz sicher nicht geben.

Die Oppositionsführer haben einen offenen Brief im Namen der Staatsbeamten aufgesetzt, den sie veröffentlichen wollen, wenn über 5000 Unterschriften zusammenkommen. Wie stehen die Chancen, dass die Opposition die Unterstützung so vieler Beamter bekommt?

Es ist schwer, das Ausmaß des Dissidententums innerhalb des Systems zu beurteilen. Viele Menschen, bei denen der August wirklich dauerhafte Spuren hinterlassen hat, hatten im letzten halben Jahr genug Gelegenheit zu gehen. Manche taten es leise, ohne großes öffentliches Aufsehen. Wie der stellvertretende Finanzminister Andrej Belkowez, der seinen Posten verließ, ohne dass es medial Beachtung fand. Er stellte an dem Tag, als Roman Bondarenko starb, in den sozialen Netzwerken eine Kerze als Profilbild ein; da war allen klar, dass er seinen Posten nicht einfach so aufgegeben hatte. Ich denke, es gab einige solche Menschen auf verschiedenen Regierungsebenen, die ohne viel Aufsehen ihre Stellung verlassen haben.

Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat

Den anderen ist es irgendwie gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie in diesem System weiterarbeiten sollten: Das geht uns nichts an; wir sind nicht dafür verantwortlich, was die OMON-Kräfte machen; die andere Seite trägt eine Mitschuld und so weiter. Da greifen dann psychologische Schutzmechanismen. Und ein Mensch, bei dem die einsetzen, hat keine Zweifel mehr: Wozu soll er denn so einen Brief unterschreiben? Er hat doch seinen Seelenfrieden schon erreicht oder ist auf dem besten Weg dorthin. Deswegen bin ich mir nicht sicher, ob sich im Beamtenapparat noch 5000 Menschen finden, die ihr Gewissen plagt, die aber noch im Amt sind. Wir werden es an den Unterschriften sehen. 

Es heißt oft, ein Volk hätte den Herrscher, den es verdient – das ließe sich doch auch auf die Beamten übertragen. Was denken sie darüber?

Jedes Volk, auch das belarussische, verdient es, seine Regierung und seine Amtsträger frei zu wählen. Würde das Volk auch bei freien Wahlen weiterhin Populisten und inkompetente Leute wählen, könnte man vermutlich sagen, es habe sich dafür entschieden und dementsprechend seine Wahl verdient. Aber es ist nun mal so, dass das belarussische Volk schon lange keine Wahl mehr hatte.

In den 1990er Jahren entsprach das Wertesystem der Regierung den durchschnittlichen Forderungen der Belarussen, deswegen konnte sich Lukaschenko mit seinen Werten bei fairen Wahlen durchsetzen. Aber das belarussische Volk ist gewachsen, es hat ein Generationswechsel und eine Werterevolution im Bewusstsein der Belarussen stattgefunden, wie einige Umfragen belegen. Die Ansichten der Belarussen über Marktwirtschaft, Toleranz und Meinungsfreiheit haben sich geändert. Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat. 

Wann haben wir aufgehört, diese Regierung zu verdienen? Wann sind wir über sie hinausgewachsen? Diese Fragen zu beantworten ist unmöglich. Genau wie die Frage, wann ein Junge zu einem Mann wird. Das kann niemand sagen. Solche Prozesse haben nicht den einen Wendepunkt. Man kann ja auch nicht sagen, am Morgen vor dem Fall der Berliner Mauer hatten die Ostdeutschen die kommunistische Regierung noch verdient und am Tag darauf sind sie ein Volk gewesen, dass eine bessere Regierung verdient. So funktioniert das nicht. 

Verdient Maria Kolesnikowa, die ihren Pass an der Grenze zerrissen hat, etwa unsere Regierung? Oder Dimitri Daschkewitsch, der für seine Überzeugungen insgesamt mehr Zeit im Gefängnis gesessen hat als die meisten unserer Abgeordneten an der Universität? Verdienen all die anderen politischen Gefangenen und Menschen, die bei friedlichen Protesten festgenommen wurden, etwa diesen Umgang? Ich denke, unser Volk verdient viel bessere Verwaltungsbeamte als die, die es gerade hat.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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