Die Präsidentschaftswahl im Jahr 1994 gewann Alexander Lukaschenko unter anderem mit seinem Schlachtruf, der Korruption in Belarus endgültig das Handwerk zu legen. Seitdem hat er allerdings ein System geschaffen, in dem Korruption ein zentrales Instrument der Machterhaltung ist. Sie wird auf allem möglichen Ebenen geduldet – in der Beamtenschaft, in Staatsunternehmen, bei den Silowiki, im Gesundheits- oder Bildungssystem – solange sie nicht zum Problem für die Mächtigen selbst wird. So ist sie immer auch ein Hebel, um unliebsame Personen auszutauschen, indem man sie eben der Korruption bezichtigt.
Warum die Korruption im Apparat von Lukaschenko systemimmanent ist und wie dieses System funktioniert, erklärt der Politologe Waleri Karbalewitsch in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk.
Alexander Lukaschenko hat dafür gesorgt, dass der Prozess zur „Milch-Affäre“ noch mehr Aufsehen erregt. Verdächtigt werden 26 Personen, von denen 15 in Untersuchungshaft sitzen. Der Hauptverdächtigte ist Gennadij Skitow, Generaldirektor des Unternehmens Babuschkina Krynka mit Standort in Mahiljou. Im Zusammenhang mit dem Verfahren wurde auch der ehemalige Landwirtschaftsminister und spätere Berater von Lukaschenko, der Inspektor des Gebiets Wizebsk Igor Brylo festgenommen.
Der Beamte entscheidet alles
1994 hatte sich Lukaschenko bekanntermaßen die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen seines Präsidentschaftswahlkampfes geschrieben. Er versprach, dieser Hydra den Kopf abzuschlagen und die mafiösen Clans auszumerzen. Das Bild des unversöhnlichen Kämpfers gegen die Korruption wurde zum Aushängeschild des belarussischen Präsidenten. Er versicherte russischen Journalisten wiederholt, dass es bei uns keine Korruption im großen Stil wie in Russland geben würde, weil er angeblich selbst nicht stehle und auch seine Beamten nicht davonkommen lasse. 2018 erklärte Lukaschenko bei einem Besuch in Sluzk: „Ich habe schon bei den ersten Präsidentschaftswahlen dem Volk klar gesagt, dass es in Belarus schlichtweg keine Korruption geben kann.“
Seit vielen Jahren liegt dem offiziellen ideologischen Konstrukt die These von einem starken Staat zugrunde, der für Ordnung sorgt. Nach dem Motto: Das Regime mag zwar autoritär sein, aber dafür kämpft es für Gerechtigkeit. Die staatlichen Güter würden nicht geplündert, es herrschte keine Willkür bei Privatunternehmern. Dabei gibt es in Belarus ganze neun Behörden, die mit Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen befasst sind. Trotz alledem gedeiht die Korruption in unserem Land. Woran auch Lukaschenko nicht müde wird zu erinnern, indem er immer wieder neue Fakten über solche Vergehen enthüllt.
Warum? Weil der Boden für Korruption in Belarus in Wirklichkeit sehr fruchtbar ist. Schon das Gesellschaftsmodell selbst begünstigt Korruptionsprozesse. Schließlich ist ein System, in dem der Staat (also die Beamten) alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontrolliert und der staatliche Sektor eine immense Rolle in der Wirtschaft spielt, wie geschaffen für Korruption.
Während sich in den meisten Ländern die sozialen und wirtschaftlichen Prozesse selbst regulieren, wird in Belarus alles von Beamten entschieden. Die riesige Macht der Bürokratie in einem geschlossenen, intransparenten System, in dem jede Information für geheim erklärt wird und es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, führt dazu, dass die Korruption in einem solchen Land vorprogrammiert und quasi genetisch angelegt ist.
Der Fisch stinkt vom Kopf her
Die Instrumente zur Korruptionsbekämpfung sind seit langem bekannt: Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben; Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft; eine starke Opposition und Zivilgesellschaft sowie unabhängige Medien, die jeden Schritt der Bürokratie verfolgen; und ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten.
In Belarus gibt es das alles nicht. Schließlich kann die Kontrolle der Beamten durch die Gesellschaft schlecht durch deren Kontrolle durch einen autoritären Herrscher ersetzt werden. Selbst wenn dieser aufrichtig interessiert daran sein sollte, dieses Übel zu beseitigen.
Schauen wir nur, wie in Belarus das System der „Rechtsprechung“ – verzeihen Sie den Ausdruck – funktioniert. Es reicht, dass der Vorsitzende des KGB oder der Leiter der Staatlichen Kontrollkommission Lukaschenko einen Bericht über einen x-beliebigen Bürger vorlegt. Der Herrscher segnet es ab, und das war’s. Das Schicksal des Betreffenden ist besiegelt. Er bekommt keine Chance, sich zu verteidigen. Der Gerichtsprozess ist nichts weiter als eine Inszenierung, eine Fiktion. Das Gericht erlässt keine Freisprüche. Wenn man allerdings Geld hat, kann man sich freikaufen, was viele Reiche auch tun.
Auch das Verhalten von Lukaschenko selbst, der alle anderen zur Bescheidenheit und zum Dienst am Staate aufruft, taugt nicht als gutes Beispiel. Auf Staatskosten alle möglichen Marotten zu befriedigen, angefangen bei 16 Residenzen bis hin zum alljährlichen internationalen Eishockeyturnier zu Ehren seiner selbst – das korrumpiert die Beamten mehr als alles andere.
So drängt sich der Schluss auf, dass die korrupteste Behörde in Belarus das Präsidialamt selbst ist. Drei ihrer Leiter sind jeweils unter großem Aufsehen wegen Korruptionsvorwürfen entlassen worden. Die Einstellung zur Korruption in den Machteliten lässt sich anschaulich an der bekannten Siedlung im Minsker Stadtteil Drasdy demonstrieren, in der sich traditionell hohe Amtsträger des Staates niederlassen. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Deshalb stellt sich sofort die Frage, mit welchem Geld sich die Staatsbeamten in Drasdy und Wjasnjanka Häuser bauen, die eine Million Dollar kosten?
Lukaschenko scheint bei der Korruption in seiner Umgebung mitunter doch ein Auge zuzudrücken. Vielleicht deshalb, weil Menschen, gegen die man ernstzunehmendes Kompromat (kompromittierendes Material) in der Hand hat, am zuverlässigsten und loyalsten sind. Die können das U-Boot nicht verlassen.
Lukaschenko hat mehrfach erklärt, dass bei der Ernennung von Kandidaten für Posten aus dem Präsidialregister diese durch den KGB und anderen „zuständigen Behörden“ überprüft würden. Allem Anschein nach gibt es über jeden Beamten ein Dossier mit kompromittierendem Material. Manchmal kommt dieses Kompromat durchaus zum Einsatz. Oftmals geht es darum, dass hohe Beamte ihre eigenen, unabhängigen und Lukaschenko nicht bekannten Einnahmequellen haben, was bereits als Revolte gilt, weil es bedeutet, sich der Kontrolle zu entziehen. Und das muss bestraft werden.
Die Justiz funktioniert nicht. Es gibt keine gesellschaftliche Kontrolle
Ein weiteres schädliches Element ist, dass immer wieder Amtsträger begnadigt werden, die wegen Korruption im Gefängnis sitzen. Viele kommen sehr schnell wieder frei. Sie werden dann etwa dazu verdammt, rückständige Agrarbetriebe zu leiten. Den Beamten wird der Gedanke anerzogen, dass im Land allein der Wille Lukaschenkos gilt, und nicht das Gesetz. Und wenn man große Reue zeigt und ein Bittschreiben an den Zaren richtet, in dem man ganz besonders betont, wie barmherzig er ist, dann kommt man unter Umständen schnell frei.
Da wäre noch ein weiterer Umstand, der Korruption in Belarus begünstigt: Hier gilt ein sehr widersprüchliches Wirtschaftsrecht. Es gibt keine einheitlichen Regeln für wirtschaftliche Betätigung, die für alle gelten würden.
In jeder Region gibt es freie Wirtschaftszonen mit besonderen Steuerbestimmungen. Es gibt den Hightech-Park und den Industriepark Weliki Kamen. Steuerrechtlich sind das im Grunde Offshore-Gebiete. Im Kreis Orscha wurden per Dekret von Lukaschenko exklusive Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Staatsunternehmen erhalten bei staatlichen Banken Kredite zu vergünstigten Zinssätzen und müssen sie meist nicht zurückzahlen. Ausländische Investoren versuchen, mittels Lobbyarbeit exklusive Wirtschaftsbedingungen für sich herauszuschlagen. Und so weiter und so fort. Die Grenzen sind hier fließend.
Zudem ist die Auslegung von Rechtsverstößen seitens Polizei und Justiz sehr subjektiv, beispielsweise bei Steuerhinterziehung. Dabei ist es unmöglich, deren Vorgehen anzufechten. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen eine reiche Person hinter Gitter wandert und die Summe des Lösegelds genannt wird. Zahlt er, kommt er frei und es wird kein Strafverfahren eingeleitet. Es erübrigt sich, unter diesen Umständen von Recht zu sprechen.
Das Fehlen von gesellschaftlicher Kontrolle über die Arbeit staatlicher Einrichtungen, die Intransparenz, die starke Neigung des staatlichen Verwaltungssystems zur Geheimhaltung, das Justizchaos, die Abhängigkeit der Gerichte von der Exekutive, die Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetz – all das sind Zutaten für den Korruptionscocktail. Und solange das System sich nicht ändert, werden der Hydra immer neue Köpfe wachsen.