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Der heimliche König von Sankt Petersburg

Die Schattenwirtschaft ist in Russland seit Jahren rückläufig. In den 1990er Jahren betrug ihr Anteil am gesamten Bruttoinlandsprodukt noch etwa bis zu 50 Prozent. 2018 lag er laut Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring bei rund 20 Prozent.
Obwohl der Schattensektor für eine Volkswirtschaft zumeist schädlich ist, wird er in Russland vielerorts geduldet – auch, weil viele Mitarbeiter staatlicher Stellen daran verdienen, dass sie die illegalen Unternehmer gewähren lassen. Diese zahlen dann zwar keine Steuern, dafür aber eine Abgabe an die Kryscha.
Kryscha bedeutet wörtlich übersetzt Dach. Im kriminellen Jargon ist damit eine Organisation oder eine Person gemeint, die einem Händler oder einem Unternehmen gegen Geldzahlungen „Schutz“ gewährt. 
Als eine solche Kryscha gilt Alexander Konowalow. Gegen eine Abogebühr verspricht er, „Probleme zu lösen“: Probleme, die Sankt Petersburger Straßenhändler mit den Kontrollbehörden haben, einschließlich der Polizei.

Im Interview mit Meduza spricht Konowalow über seine Tätigkeit, wie er dazu kam und warum er der Meinung ist, dass Putin alles in Ordnung gebracht hat.

Quelle Meduza

Der „heimliche König von Sankt Petersburg“ Alexander Konowalow im Juni 2019 / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza

Im September 2016 wurde in der Wirtschaftszeitung Delowoi Peterburg ein Investigativtext mit dem Titel Ein-Mann-Betrieb von der Größe einer Stadt veröffentlicht. Thema war der illegale Straßenhandel in Sankt Petersburg, dessen Marktvolumen auf etwa 40 Milliarden Rubel [circa 550 Millionen Euro – dek] geschätzt wird. Quellen des Artikels zufolge wird dieser Markt seit den frühen 2000er Jahren von ehemaligen Mitarbeitern des Innenministeriums kontrolliert.

Ein zentraler Akteur sei der Petersburger Alexander Konowalow, der auch ein Mitarbeiter des Innenministeriums war. Viele Unternehmer, die in Petersburg Straßenhandel betreiben, sind bei ihrer Arbeit auf ihn angewiesen: Gegen eine Abogebühr (ab 1000 Rubel pro Tag [etwa 15 Euro – dek]) verspricht Konowalow, „Probleme zu lösen“, Probleme mit den Kontrollbehörden, einschließlich der Polizei. 

Aufgewachsen ist Alexander Konowalow in einer Militärfamilie in der Region Murmansk, in der geschlossenen Stadt Gadshijewo, wo sich die Marinebasis der Nordflotte befindet. Die Familie lebte sehr bescheiden. „Das Gehalt wurde [dem Vater in den 1990er Jahren] manchmal ein halbes Jahr lang nicht ausgezahlt, Fleisch habe ich erst mit 17 zum ersten Mal probiert“, erzählt Konowalow Meduza. Auf dem Höhepunkt der Krise von 1998 zog die Familie nach Sankt Petersburg: „In der Stadt gab es damals weder Essen noch Kleidung.“ Alexander begann ein Studium an der Universität des Innenministeriums in Sankt Petersburg. Nach seinem Abschluss ging er zur Polizei.

Mit 17 Jahren habe ich zum ersten Mal Fleisch probiert

Alexej Loschtschilow: Was war Ihre Motivation, für die Behörden zu arbeiten?

Alexander Konowalow: Es klingt vielleicht verrückt, aber stellen Sie sich einmal vor: Sie sind 21 und verkörpern faktisch die Staatsmacht, Sie sind bewaffnet und repräsentieren den Staat. Als Fahndungsbulle fühlst du dich endlich sicher. Das war damals wichtig, heute ist das schwer zu verstehen, weil man auf der Straße nicht mehr zusammengeschlagen wird. 

Warum haben Sie nur knapp ein Jahr für die Polizei gearbeitet?

2002 war auch die Polizei noch ganz anders als heute, als Fahndungsbulle hast du dich immer am Rand der Legalität bewegt. Natürlich sagen viele, man solle sich stets an die Gesetze halten, aber im Leben läuft es anders.

Ich habe selbst gekündigt, weil ich gegen die Arbeitsnormen verstoßen habe. Das war eine ganz lustige Geschichte. 

Wir hatten einen Mann verhaftet, früher war der schon mal wegen Vergewaltigung verurteilt worden, und nun wurde er wegen einer langen Verbrechensserie gesucht. Er hatte auf der Straße jungen Frauen Mobiltelefone [die sie an einer Kordel trugen] vom Hals und Schmuck von den Ohren gerissen. Wir verhafteten ihn, aber dann war der Kommissar abgelenkt, ich suchte irgendwo anders nach Unterlagen, und der Mann sprang aus dem ersten Stock und lief weg. Später rief er an und sagte, dass wir ihn nicht mehr kriegen würden. Ich stand als Schuldiger da und bekam Schwierigkeiten deswegen. Wir haben ewig nach ihm gesucht. Wie sich herausstellte, war er auch noch pädophil, ein 13-jähriger Geliebter hat ihn ausgeliefert. Er wurde gefunden und verhaftet. Ich kam von der Datscha angerauscht und ging mit einem Gummiknüppel zu ihm in die Zelle.

Ich kam von der Datscha angerauscht und ging mit einem Gummiknüppel zu ihm in die Zelle

Er hat ordentlich eins drüber bekommen, und das hatte sogar einen positiven Effekt. Ein paar Jahre später, als ich schon nicht mehr als Bulle arbeitete, kam ich einmal aus geschäftlichen Gründen aufs Revier, und da saß wieder dieser Typ. Als er mich erblickte, schrieb er sofort ein Geständnis.

Hat Ihnen die Arbeit gefallen?

Es ist eine wunderbare Arbeit. Wenn es meine Frau nicht gegeben hätte – ich habe sie mit 18 geheiratet – wäre ich vielleicht geblieben. Sie machte mir die Hölle heiß, weil ich rund um die Uhr arbeitete. Die Arbeit bei der Polizei war früher eine hochkreative Tätigkeit, wie es jetzt ist, weiß ich nicht.

Die Arbeit bei der Polizei war früher eine hochkreative Tätigkeit

Seine ersten Schritte als Unternehmer machte Alexander Konowalow bereits Ende der 1990er Jahre, nach dem Umzug nach Sankt Petersburg und während des Studiums an der Universität des Innenministeriums, das er 2002 abschloss. Er sagt, er habe eigentlich nie beabsichtigt, Unternehmer zu werden, die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau aber habe alles verändert. Konowalow war 18, und „ich musste irgendwie was verdienen, um sie wenigstens ins Kino einladen zu können“. „Das Stipendium betrug damals 40 Dollar, bei der Polizei waren es etwa 80 Dollar“, erinnert er sich.

Sein erstes größeres Geld verdiente Konowalow bei Kommunalwahlen in Sankt Petersburg, unter anderem im Wahlkampf für den Einzug ins Stadtparlament. Er heuerte in den Teams von gleich einem Dutzend Kandidaten an und erhielt überall Geld dafür, dass er Werbematerial der Konkurrenten vernichtete. 

Er bekam Geld dafür, dass er Werbematerial der Konkurrenten vernichtete

Der nächste Schritt war Handel mit Mobiltelefonen, die in den späten 1990er Jahren sogar in Petersburg noch Seltenheitswert hatten. Das Geschäft war lukrativ, kam aber bald zum Erliegen. „Spekulanten wurden unter Druck gesetzt, die Nachfrage begann zu sinken. Es war wichtig, einen Laden zu eröffnen, erzählt Konowalow. Bei Abschluss des Studiums betrieb er bereits eine Kette von elf Läden und verdiente im Monat das Zehnfache eines durchschnittlichen Polizisten.

„Handel ist schwierig, wenn keine Nachfrage besteht, aber damals war sie sehr groß. Zugegeben, alle elf Läden hatten mit Schwierigkeiten zu kämpfen, so tauchten etwa drei Tage nach der Eröffnung des ersten [Ladens] Beamte der Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität bei mir auf und beschlagnahmten sämtliche Handys wegen Schmuggels. Damals waren ja alle Mobiltelefone geschmuggelt“, erinnert er sich.

Damals waren ja alle Mobiltelefone geschmuggelt

2003 haben Sie eine Stelle in einem Supermarkt angetreten. Warum?

Nachdem ich bei der Polizei gekündigt hatte, eskalierten die Schwierigkeiten mit Banditen und Ähnlichem, ich konnte mein Business [den Verkauf von Telefonen] nicht mehr schützen. Davor hatte sich für alle Probleme eine Lösung gefunden, denn wie hätte man einem Mitarbeiter der Polizei was abpressen können. Nach der Kündigung wurden meine Verkaufsstellen angezündet und ausgeraubt. Kurz, nach den fetten folgten magere Jahre. Ich wurde stellvertretender Filialleiter im Supermarkt Pjatorotschka, arbeitete in vier oder fünf Filialen, wurde aber zweimal gefeuert.

Warum?

Beim ersten Mal hatte ich einen Ladendieb gestellt, aus Gewohnheit. Er fing an, die Mitarbeiter zu beleidigen und leistete Widerstand, und so goss ich ihm Wasser über den Kopf und sperrte ihn im Kühllager ein. Ich hatte einen hektischen Tag und vergaß ihn. Er wurde von Lieferanten gefunden, eine halbe Stunde später, und er wäre tot gewesen. Ich bekam einen Riesenschreck. Und wurde mit Schimpf und Schande gefeuert.

Aber ich hatte gern in diesem Team gearbeitet und setzte alle Hebel in Bewegung, um zurückkehren zu können. Was auch gelang, aber dann haben sie mich erneut gefeuert. Schicksal. Seither habe ich nie mehr als Angestellter gearbeitet.

Der Dieb leistete Widerstand, ich goss ihm Wasser über den Kopf und sperrte ihn im Kühllager ein

Die Zahl unternehmerischer Projekte in Kooperation mit Geschäftspartnern wuchs. Neben den elf Handyläden baute der ehemalige Polizist auch die größte Schönheitssalonkette Petersburgs auf, Lady (heute umfasst sie 53 Läden). Er eröffnete mit Partnern Bars und Restaurants, Saunen und Pyschetschnyje-Cafés. Viele Projekte liefen nur ein paar Jahre.

2016 schätzte Delowoi Peterburg den Jahresumsatz der mit Konowalow verbundenen Unternehmen auf 3 bis 4 Milliarden Rubel [40-80 Millionen Euro – dek]. 2016/17 führte die Zeitung Konowalow im Rating der Petersburger Milliardäre auf, mit einem vermuteten Vermögen von 1,23 bis 1,33 Milliarden Rubel [rund 17 Millionen Euro – dek].

Ich musste Geschäfte eröffnen – nicht um Oligarch zu werden, sondern um mich über Wasser zu halten

Haben Sie alle Projekte selbst finanziert?

Die meisten zusammen mit Geschäftspartnern. Es war einfach unabdingbar, Geschäfte zu eröffnen – nicht weil ich Oligarch werden wollte oder so, sondern um mich über Wasser zu halten. Ich muss ja die Schulden zurückzahlen, die ich gemacht hatte, um einen neuen Salon oder eine Pyschetschnaja zu eröffnen. 2008, in der Krise, hatte ich zwei Millionen Dollar Schulden, mal abgesehen von den Krediten bei den Banken. Ich bin immer noch dabei, diese Schulden abzuzahlen. Allein an Zinsen kommen jeden Monat 700.000 Rubel [rund 10.000 Euro – dek] zusammen.

Sind Sie reich? Sie waren ein paar Mal in der Rangliste der Milliardäre aufgeführt.

Das ist Quatsch. Aber ich bin dem Journalisten, der das geschrieben hat, bis heute dankbar – es war hilfreich für die Kommunikation mit jungen Damen und potenziellen Geschäftspartnern. Ich führe ein normales Leben, habe eine Frau, drei Kinder – monatlich geben wir 200.000 bis 300.000 Rubel [rund 4000 Euro – dek] für den Lebensunterhalt aus.

Sie haben also keine Milliarde?

Offiziell läuft fast nichts auf meinen Namen. Konkret ist es schwierig, den Wert [der Aktiva] einzuschätzen – jede Einschätzung ist subjektiv. Der Jahresumsatz bewegt sich ungefähr in diesem Bereich. Aber ich habe keine freien Mittel. Alles fließt ins Geschäft.

Die Behörden wollten mir mal eins überziehen

Konowalow sagt, er habe ursprünglich versucht, sich beim Aufbau seiner Unternehmen an die Gesetze zu halten. Aber es sei ihm nicht gelungen – seinen Angaben zufolge wurde er bis 2019 in fünf Fällen verurteilt (Meduza fand bestätigende Informationen über drei Fälle). Die erste Strafe erhielt er 2009, nach Artikel 238 des russischen Strafgesetzbuches (Nichteinhaltung von Sicherheitsvorschriften beim Erbringen von Dienstleistungen). In einer der Kneipen von Konowalow hatte man Verstöße gegen die Hygienevorschriften gefunden. Zuerst wurde ein Protokoll über einen administrativen Rechtsverstoß aufgenommen, als sich die Sache wiederholte, wurde ein Strafverfahren angestrengt. Konowalow ist überzeugt, dass es nur deswegen so weit kam, weil „die Behörden mir mal eins überziehen wollten“. 

„Das Ganze endete mit einer Strafe, aber ich konnte es kaum fassen, dass man wegen einer solchen Lappalie verurteilt werden kann. Ich wurde dafür verurteilt, dass wir statt der sechs [gesetzlich vorgeschriebenen] Waschbecken nur zwei hatten. Das ist völlig absurd, *** [furchtbar]“, sagt er.

Damit waren die Probleme nicht behoben, die Kontrollbehörden fanden weiterhin Verstöße. Nach Konowalows Bekunden ist das der Grund, warum er zu einem „Verfechter der inoffiziellen Arbeit“ wurde – das heißt er beschloss, sich den Vorschriften nicht mehr unterzuordnen.

In den folgenden zehn Jahren wurde der Petersburger dann weitere vier Male verurteilt.

Konowalow wurde zu einem „Verfechter der inoffiziellen Arbeit“ – Vorschriften galten für ihn nicht mehr 

In den Medien war zu lesen, dass Sie Unternehmern dabei helfen, „Probleme“ mit der Polizei zu „lösen“. Warum ist Ihnen das bei Ihren eigenen Strafverfahren nicht gelungen?

Meine Rede. Die Medien stellen mich als einflussreichen Korruptionär dar, aber wenn ich das wirklich wäre, hätte ich meine eigenen Probleme doch lösen können, oder? Zumindest hätte ich die Strafverfahren abwenden können. 

Jede Sekunde besteht die Gefahr, ins Straflager zu wandern. Man kann mir jederzeit wieder einen „Knüppel“ zwischen die Beine werfen – manche der Vorschriften für Unternehmen sind einfach absurd. Sie können gar nicht erfüllt werden. Wenn man die Leute einfach mal arbeiten lassen würde! All die Regelungen für jedes kleinste Detail werden den Leuten in fünf Jahren verrückt vorkommen, wie heute die Stalinzeit, als Leute wegen eines Witzes erschossen wurden.

Jede Sekunde besteht die Gefahr, dass ich ins Straflager wandere 

Die Medien bezeichnen Alexander Konowalow als „Kurator des illegalen Handels in Sankt Petersburg“ und als „zentralen Player“ dieses Marktes. Mit dem Straßenhandel begann Konowalow vor etwa zehn Jahren. Zusammen mit Geschäftspartnern platzierte er Minivans an Kreuzungen, die Coffee to go verkauften. Das Format erwies sich als erfolgreich, 2016 standen im Zentrum Petersburgs 20 solcher Autos. Diese rollenden Kaffeebars entsprachen in keiner Weise den Vorschriften der Behörden. Auf die direkte Frage, ob er Schmiergelder bezahlt habe, um auf der Straße arbeiten zu können, antwortet Konowalow ausweichend: „Bestechung ist ein heikles Thema. Wenn man darüber redet, kann man leicht etwas Falsches sagen. Der eine zahlt was, ein anderer nicht.“
Darüber hinaus eröffnete Konowalow nicht genehmigte Verkaufsstellen für Zuckerwatte, kandierte Äpfel, Fische und andere Lebensmittel. Bekannt ist er aber nicht vorrangig dafür.

Laut RBC und Delowoi Peterburg kontrolliert Konowalow schon seit mehreren Jahren einen bedeutenden Teil der Straßenhändler Sankt Petersburgs. Demnach müssten sie ihm mindestens 1000 Rubel pro Tag bezahlen, um arbeiten zu können – andernfalls würden sie von den verschiedenen Ämtern intensiv kontrolliert und müssten ihre Arbeit aufgeben. Nach Angaben der Journalisten ziehen die Polizei und andere Behörden es oft vor, mit Konowalow verbandelte Verkaufsstellen zu übersehen.

Allerdings werden auch diese Verkaufsstellen mit Strafen belegt, gemäß der Datenbank des Gerichtsvollzugsdienstes wurden gegen Konowalow allein in Sankt Petersburg mehrere hundert Verstöße zu Protokoll genommen. Die Zusammenarbeit mit den Händlern funktioniert folgendermaßen: Sie arbeiten über Konowalows Einzelunternehmen, und dementsprechend landen sämtliche Strafen und sonstige Forderungen bei ihm. Unternehmer, die mit ihm zusammengearbeitet haben, erzählen, dass er einen Teil der Probleme ohne Bußgelder „lösen“ kann – dank seiner Beziehungen.

Die Medien bezeichnen Alexander Konowalow als „Kurator des illegalen Handels in Sankt Petersburg“ / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza

Legal arbeitende Straßenhändler, die über eine Arbeitserlaubnis verfügen, bestätigen, dass Konowalows Aktivitäten faktisch den fairen Wettbewerb zerstören und ungünstige Bedingungen für legale Unternehmen schaffen. Schätzungen der Gesprächspartner von RBC zufolge zahlen illegale Verkaufsstellen in Sankt Petersburg jährlich insgesamt mindestens 6,6 Milliarden Rubel [knapp 100 Millionen Euro – dek] an Alexander Konowalow und ähnliche Vermittler.

Das ist keine Korruption, sondern eine Partnerschaft

Wann haben Sie damit angefangen, für andere illegale Straßenhändler Probleme zu lösen?

Streng genommen ist es nicht so, dass ich für andere „Probleme löse“. Das wird oft fälschlicherweise behauptet. Wir sind Partner und für unterschiedliche Bereiche der Arbeit zuständig. Ich kümmere mich um Organisatorisches und Technisches, der Geschäftspartner um den Einkauf und den Verkauf. Man kann auch ohne mich arbeiten.

In den Medien hieß es aber, dass das nicht funktioniert, weil man wegen der Kontrollen durch die Polizei und andere Behörden sofort schließen müsse. Würden sich die Leute hingegen an Sie wenden, können sie ungestört weitermachen.

Es ist so: Man kann allein arbeiten, aber dann kriegt man wegen der Kontrollen Probleme. Wenn sich jemand an mich wendet, läuft die Arbeit über mein Einzelunternehmen, und ich übernehme alle Strafen und so weiter. Das ist keine Korruption, sondern eine Partnerschaft.

Warum können die Leute dasselbe nicht einfach ohne Sie tun?

Wahrscheinlich wollen sie weiterarbeiten, aber keine fünf Strafverfahren und ein Ausreiseverbot am Hals haben wie ich.

Für Ihre Dienste nehmen Sie ab 1000  Rubel [etwa 15 Euro –​ dek] am Tag. Stimmt diese Zahl?

Ja, aber der größte Teil davon geht für Strafen und so weiter drauf.

Wie viele Straßenhändler arbeiten auf diese Weise mit Ihnen zusammen?

Im Moment sind es etwa 30. Zu Spitzenzeiten waren es 200. Jetzt sind es weniger, weil die Ware oft [von Kontrolleuren] beschlagnahmt wird.

Warum bezeichnen die Medien Sie als zentralen Player im Straßenhandel Petersburgs? Analysten zufolge gibt es in der Stadt einige tausend illegale Straßenhändler.

Das weiß ich nicht. Es gibt Leute, die dasselbe in größerem Maßstab tun. Nur arbeite ich unter meinem Namen und verstecke mich im Gegensatz zu anderen nicht hinter irgendwelchen dubiosen Kaschemmen oder Scheinfirmen.

Man kann sich ja auch die Mühe machen, alle Genehmigungen zu besorgen und legal zu arbeiten.

Da ich mich schon lange mit diesem Thema befasse, habe ich alles quasi unter dem Mikroskop betrachtet. Wir würden gern legal arbeiten, aber es ist sozusagen unmöglich, wirklich absolut alle Vorschriften und Normen zu erfüllen. Bei jedem finden sich Verstöße. Und das ist nicht normal.

Wir würden gern legal arbeiten, aber es ist unmöglich, alle Vorschriften zu erfüllen

Nicht nur illegale Straßenhändler arbeiten mit Konowalow zusammen. Nach dem gleichen Schema werden seit den frühen 2010er Jahren in Sankt Petersburg Dutzende von Kneipen, Restaurants, Nachtclubs und Shisha-Bars betrieben. Konowalows Dienste sind auch in Moskau und anderen Städten gefragt. Nach eigener Aussage kooperieren hunderte unterschiedliche Firmen in mehreren Dutzend russischen Städten mit ihm. Viele davon werden wegen Verstößen ganz unterschiedlicher Art – von Nachtlärm bis zum Verkauf von Alkohol ohne Lizenz – regelmäßig mit Geldstrafen belegt.

Meiner Meinung nach ist es besser, wenn eine Kneipe Alkohol ausschenkt und überlebt, als wenn sie zumacht

Es ist bekannt, dass beispielsweise gewisse Bars und Restaurants dank der Zusammenarbeit mit Ihnen Alkohol ohne Lizenz ausschenken.

Das stimmt. Aus der Sicht des Normalbürgers ist das schrecklich. Man könnte glauben, dass sich alle eine Vergiftung holen und daran sterben werden, aber damit hat das nichts zu tun. Keiner wird sterben – das ließe sich mit allen Beziehungen der Welt nicht verbergen. Meiner Meinung nach ist es besser, wenn eine Kneipe Alkohol ausschenkt und überlebt, als wenn sie zumacht.

Es gibt aber auch eine Menge Betriebe mit Lizenz. Glauben Sie nicht, dass Ihre Tätigkeit nicht nur eine Gefahr für die Gäste darstellt, sondern auch den Wettbewerb behindert? Es läuft darauf hinaus, dass sich die einen an die Gesetze halten müssen und die anderen nicht.

In einer idealen Welt verkörpert ein Gesetz den Mehrheitswillen. Wenn die Mehrheit der Betriebe aufhört, sich an idiotische Normen zu halten, wird es aufgehoben.

An ein falsches Gesetz braucht man sich also nicht zu halten?

Natürlich nicht, und die Entscheidung liegt bei der Mehrheit. Nehmen wir etwa die Verkehrsregeln. Wenn sich in Sankt Petersburg alle an die vorgeschriebenen 60 Stundenkilometer halten würden, würde die Stadt im Stau ersticken. Gesetze müssen so sein, dass man sie einhalten kann. Keiner bricht gern das Gesetz. Glauben Sie, dass es mir Spaß macht, wenn ich bei jedem Klingeln zusammenzucke, weil ich denke, dass es zu einer Durchsuchung kommt? Glauben Sie, dass ich gern über Belarus ins Ausland reise?

Würden sich in Sankt Petersburg alle an die vorgeschriebenen 60 Stundenkilometer halten, würde die Stadt im Stau ersticken

Konowalow ist überzeugt: Mit seiner Tätigkeit hilft er Unternehmen, trotz der starken Einschränkungen durch den russischen Gesetzgeber ihrer Arbeit nachzugehen. Im Gespräch betont er immer wieder, dass es ihm beim illegalen Handel nicht um Geld gehe. Er scheint selbst daran zu glauben. 

Dank Konowalow schenken gewisse Bars und Restaurants Alkohol ohne Lizenz aus (im Hintergrund ein Protestplakat von Anwohnern) / Foto © Daniel Frenkel/Meduza

„Ich befasse mich mit diesem Thema, weil es für mich wie eine Religion ist. Es heißt immer, die Entwicklung des Landes hänge von den Petrodollars ab, aber ich bin überzeugt, dass das nicht stimmt. Die kleinen Unternehmen, denen heute die Luft abgeschnürt wird, sind das Fundament der Wirtschaft“, erklärt er. 

Alle Anschuldigungen, er vertrete im Straßenhandel die Interessen bestimmter hochrangiger Beamter oder Silowiki, weist Konowalow zurück. Eine der Petersburger Polizei nahestehende Quelle von Meduza berichtet, Alexander Konowalow habe zumindest bis vor Kurzem über gute Beziehungen zu gleich mehreren hochrangigen Polizeibeamten verfügt.

Ich befasse mich mit diesem Thema, weil es für mich wie eine Religion ist

Sie sagen, dass Sie das alles im Interesse der Unternehmen und der Wirtschaft tun. Welche Vorteile bietet der illegale Handel der Gesellschaft? Steuern werden ja keine bezahlt.

Er schafft ganz einfach Arbeitsplätze – Menschen können arbeiten, statt zu Hause zu sitzen und mit der Konsole zu spielen. Man kann natürlich auch zu irgendeinem großen Konzern gehen, aber wenn alle kleinen dichtmachen, gibt es nicht genug Jobs für alle. Der nächste unstrittige Vorteil: Jede dieser Verkaufsstellen ist eine Wirtschaftseinheit. Um auf der Straße Kaffee verkaufen zu können, müssen Sie Kaffee, Milch und so weiter einkaufen. Das generiert einen Ertrag, in der Wirtschaft taucht Geld auf, und daraus ergeben sich Synergien.

Von außen bekommt man den Eindruck, es gebe Polizisten und Beamte, die sich an illegalem Handel bereichern. Warum sollten sie etwas an der Situation ändern wollen, wenn Vermittler wie Sie die Verkaufsstellen unterstützen, damit sie trotzdem tätig sein können?

Glauben Sie, dass jene Beamte, die dieses Geld theoretisch bekommen können, irgendwelche strategischen Entscheidungen treffen? Ich glaube nicht, dass das Geld an Beglow oder seine Stellvertreter geht, sehen Sie das anders? Warum man nichts daran ändert, weiß ich nicht.

Und die Polizei, die das kontrollieren soll? Im RBC-Magazin stand, dass die Polizeibeamten die Verkaufsstellen, für die Sie als Vermittler fungieren, gern übersehen.

Die haben wahrscheinlich einfach faule Polizisten beobachtet. Die Behauptung ist absurd, wenn man bedenkt, dass ich mehrmals verurteilt worden bin und meine Verstöße mehrere tausend Mal zu Protokoll genommen wurden. Allein während unseres Gesprächs sind wieder drei hinzugekommen. (Während des Interviews haben mehrmals Mitarbeiter aus verschiedenen Verkaufsstellen angerufen und mitgeteilt, dass sie wieder einmal kontrolliert worden sind). 

Sie treffen also keinerlei informelle Absprachen mit der Polizei?

Wie könnte ich?

Bezahlen Sie Schmiergelder?

Nein. Genauso wie kein Mensch Ihnen sagt, dass er einem Verkehrspolizisten Geld gibt.

Also bezahlen Sie doch?

Es ist mir physisch nicht möglich, das zu sagen. Wenn Sie jemanden fragen, ob er mit Drogen dealt, und er antwortet ja, wandert er sofort ins Straflager.

Also anders gefragt. Bekommen Polizisten oder Beamte Schmiergelder dafür, dass illegale Verkaufsstellen tätig sein können?

Ich denke, es funktioniert genau so wie in anderen Bereichen. Der eine oder andere wird illegale Absprachen getroffen haben, aber es hängt vom einzelnen Mitarbeiter ab. Ich selbst würde davon abraten, Schmiergeld anzubieten. Wenn Sie keins anbieten, kriegen Sie eine Strafe, und vielleicht wird die Ware beschlagnahmt. Wenn Sie welches anbieten, kommt es fast sicher zu einem Strafverfahren.

Sie haben also keinerlei Verbindungen zu hochrangigen Polizeibeamten?

Was heißt Verbindungen? Stellen Sie sich vor, Sie hätten zusammen mit Wladimir Wladimirowitsch Putin studiert, hätten neben ihm gesessen und ihn geduzt. Hätten Sie Verbindungen zu ihm? Würden Sie sich etwa nicht an ihn wenden bei bestimmten Fragen im Leben? 
Naja, und die Leute, mit denen ich studiert habe, sind heute Oberst. Bei uns in Russland hilft man sich gegenseitig. Es gibt Situationen, in denen man um Hilfe bitten muss, weil man sonst im Gefängnis landen würde. Ich bewege mich ständig im Grenzbereich der Gesetze, hätte ich mich nie an jemanden gewandt, säße ich mit Sicherheit im Gefängnis. Doch ich sitze nicht. Aber man darf es nicht als Vetternwirtschaft oder Korruption bezeichnen. Die Beziehungsstruktur in Russland ist einfach so.

Ist „Probleme lösen“ Ihre Haupttätigkeit?

Nein, aber ein wesentlicher Bestandteil, um die 40 Prozent. Obwohl es mehr Hämorrhoiden als Geld einbringt. Ich mache es nicht wegen des Geldes. Klar verdiene ich, aber es ist nicht mein Antrieb, mir die Taschen vollzustopfen. Ich will meine Tätigkeit nicht schönreden, ich bin durch und durch unsauber. Aber ich versuche, meinem Heimatland nützlich zu sein, und glaube, dass mir das gelingt. Wenn sich alle immer an alle Regeln halten würden, gäbe es schlicht kein Unternehmertum mehr. 

Ich will meine Tätigkeit nicht schönreden, ich bin durch und durch unsauber

Konowalow liebt den Präsidenten Wladimir Putin aufrichtig. Im VKontakte-Profil des Unternehmers steht in der Rubrik Weltanschauung: „Putin ist der größte Herrscher in der ganzen Geschichte Russlands!“ Konowalow hat über den Präsidenten sogar ein Gedicht geschrieben:

Möge der Neid sie quälen, die Ärsche!
Die Krim gehört uns! Ohne Blut! Putins Werk!
Kinder und Enkel werden ihm danken.
Wladimir Putin ist einfach ein Gott!

„An ein falsches Gesetz braucht man sich nicht zu halten, und die Entscheidung liegt bei der Mehrheit“ – Alexander Konowalow im Juni 2019 / Foto © Alexej Loschtschilow/Meduza

Sie schimpfen über die Gesetze, aber wir wissen doch, woher sie kommen. Von den staatlichen Behörden. 

Sie wurden von Feinden ausgedacht, die man erschießen müsste. Entweder hatten die Beamten zwar hehre Absichten, aber von Tuten und Blasen keine Ahnung, oder sie wurden von unseren Feinden bezahlt. Einer Verschwörungstheorie zufolge ist ein Teil der Gesetze gekauft, weil unser Staat zerstört werden soll.

Aber es ist doch der von Ihnen so geschätzte Putin, der all diese Gesetze unterschreibt.

Ich vermute, dass er sie unterschreibt, weil in der Gesetzesbegründung steht, dass sie zum Wohle aller verabschiedet werden.

Halten Sie ihn für so dumm, dass ihm das jahrelang entgehen kann?

Das ist das erste, was ich ihn fragen würde, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, mich mit ihm zu unterhalten. Ich finde keine logische Erklärung dafür.

Wofür schätzen Sie Putin so sehr?

Ich wurde 1981 geboren, und bevor Putin kam, war alles ganz furchtbar – es gab weder Butter noch Sahne noch Jeans. Nichts gab es. Wer zur Armee ging, kam da nicht mehr raus. Als Offizier war man praktisch dem Straßenkehrer gleichgestellt.

Sind Sie der Meinung, dass das Putin alles in Ordnung gebracht hat?

Natürlich. Tausend Jahre hat das keiner geschafft. Die Situation war in jeder Epoche am Arsch, dann kam Putin, und alles wurde gut.

Finden Sie nicht, dass die Situation ungefähr seit 2012 wieder in jeder Hinsicht langsam im Arsch ist? Das einfachste Beispiel dafür ist die Verfolgung Andersdenkender. Die zahlreichen Fälle von „Extremismus“.

Ach, das sind doch keine Verfolgungen. Sie wissen nicht, was Verfolgung heißt. Heutzutage wird nur gehätschelt. Würde es einer zivilisierten Gesellschaft einfallen, ihren Herrscher zu kränken? Wenn wir das zulassen, werden wir zur Ukraine. Ich bin kein Watnik, aber dazu wird es führen.

Ihnen verbietet doch auch niemand, ein Gedicht über Putin zu schreiben. Warum sind Sie der Meinung, dass scharfe Kritik verboten werden muss? Viele werden wegen eines simplen Reposts bestraft.

Schauen Sie sich die Gerichtspraxis an. Die Leute werden nicht wegen eines Reposts bestraft. Sie gehen auf die Straße und tragen Transparente mit der Aufschrift „Putin ist ***“ [schlecht].

Finden Sie, dass man dafür bestraft werden soll? 

Ich bin überzeugt, dass die Leute dafür beim ersten Mal mindestens ins Straflager gehören – das lehrt sie, ihr Heimatland zu lieben. Um mit einer solchen Kritik auf die Straße gehen zu dürfen, muss man etwas erreicht haben, über vergleichbare Erfahrung verfügen, man kann nicht unter Putin in einem satten, glücklichen Land aufwachsen und ihn dann, ohne Hunger und Krieg erfahren zu haben, *** [beleidigen].

Glauben Sie, dass sich die Situation für Unternehmer, die Russland so schadet, verbessern wird? Werden Sie Ihren Kampf gewinnen?

Natürlich nicht. Spätestens in einem Jahr sitze ich im Gefängnis.

Das ist Ihnen klar, trotzdem verlassen Sie das Land nicht. Sitzen Sie lieber im Straflager?

Wenn der Staat es so will, gehe ich ins Gefängnis und versuche, von dort aus zu tätig zu sein. Ich bin nicht mehr so jung und möchte nicht im Alter denken müssen, nichts Nützliches für mein Land getan zu haben. Ich will nicht denken, dass ich mich einfach an dämliche Gesetze gehalten habe, will nicht Putin die Schuld an allem zuschieben. Alles aufgeben und den Westen als Wichsvorlage nehmen? Nein, danke. Mir ist klar, dass meine ganzen Aktivitäten nur Mäusespektakel sind, aber wenn jeder etwas beiträgt, wird der Effekt elefantisch. Hängt unser Land etwa nicht von uns ab?

Möchten Sie nicht aufhören?

Erstens kann ich das nicht. Wie könnte ich die Schulden zurückzahlen? Mit welcher Arbeit verdiene ich so viel, dass ich im Monat 700.000 Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] Zinsen abzahlen kann? Und zweitens will ich auch gar nicht. Alle wollen ihre Ruhe, aber mir gefällt, was ich tue. Ohne meine Arbeit wäre es leer, nichts anderes bereitet mir ein solches Vergnügen. Am Boden braucht es keinen Piloten.

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Larissa arbeitet als Zuschneiderin bei einem halblegalen Möbelhersteller, der sich in Uljanowsk in einer Garage befindet. Sie sagt, sie arbeite hier, weil es woanders keine Arbeit gebe. „Und sie zahlen anständig – zwischen 25.000 und 40.000 Rubel [umgerechnet 290 bis 580 Euro] kommen dabei raus. [...] Es ist schlecht, dass ich nur schwarz arbeite, es werden keinerlei Sozialabgaben gezahlt, Urlaub geht auch nur schwarz und ohne Lohnfortzahlung. Aber wo ist es schon besser momentan?‟1 Larissa ist eine von mehr als 80.000 Uljanowskern, die im sogenannten „Garagensektor“ arbeiten, so genannte Garashniki. Ein wirtschaftliches Feld, das nach eigenen Gesetzen existiert und vielen in Russland ein Auskommen bietet. Mit dieser Garagenökonomie haben sich kleine und mittelständische Unternehmer eine Nische gesucht, um nicht im Blickfeld der Behörden zu sein. Vizepremierministerin Olga Golodez sprach einmal davon, dass dem Staat bei 38 von 86 Millionen Erwerbsfähigen völlig unklar sei, „wo sie beschäftigt sind, womit sie beschäftigt sind und wie sie beschäftigt sind‟.2 Während der Staat keine Ahnung hat, was diese Menschen tun, weiß die Soziologie, dass sich mindestens fünf Millionen von ihnen eine Existenz als Garashniki aufgebaut haben – und von ihrer Seite alles dafür tun, um sich gerade vom Staat fernzuhalten.

Der Garashnik setzt nicht auf soziale Institutionen des Staates und erwartet auch keine Rente / Foto © Max Sher

Es gab kaum eine Stadt, wo sie ab den 1960-er Jahren nicht wuchsen: riesige Garagenviertel, die sich über viele Quadratkilometer erstrecken und von 400 bis zu 5000 Garagen beherbergen. Von Jahr zu Jahr entstanden neue solcher Gegenden und die Garagen wurden zu einem untrennbaren Teil der sowjetischen und später der postsowjetischen Stadtlandschaft. Auch soziokulturell gesehen. Damals wurden die Garagen meist ihrer Bestimmung nach verwendet – für Autos. Das Auto, so schreibt der Historiker Kirill Kobrin, lieferte Männern „den idealen Grund, um sich aus dem Haus zu verdrücken, wo die Ehefrau nach der Arbeit eine Suppe kochte und darauf Acht gab, dass der Sohn seine Mathehausaufgaben macht, wo es [für den Mann] im Grunde nichts zu tun gab.“ Die Garage wurde zum „Männerklub“, zu „einem der wichtigsten Orte des spätsowjetischen, informellen, horizontalen Soziallebens.“3

Bereits in den 1960er Jahren wurde die sogenannte „Garagenökonomie“ geboren – ein soziales und wirtschaftliches Leben, das sich in der Garagenwelt abspielt. Schon bald tauchten die ersten Meister auf, die private Autoreparaturen anboten oder eigene handwerkliche Produkte fertigten, was zu der Zeit verboten war. In den Folgejahren dehnte sich der Sektor immer weiter aus: Die Gesetzgebung über unternehmerische Tätigkeiten und Eigentumsrechte wurde seit Beginn der Perestroika zunehmend gelockert, parallel dazu wuchs die Anzahl der Garagen, der Garashniki und ihrer Tätigkeitsbereiche.

Im gegenwärtigen Russland finden sich in den Garagen alle möglichen Gewerbearten, oft auch ganz unerwartete. Reparaturwerkstätten, Lackierereien, Soundsystem-Installateure und Reifendienste sind überall verbreitet. In den Garagen werden zum Beispiel Möbel,4 Eisenwaren, Maschendraht, Pflastersteine, Betonblöcke und alle möglichen Baumaterialien hergestellt. Insbesondere im Süden Russlands wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Garagen zu mietbaren Wohngebäuden umgebaut.5 Außerdem werden in den Garagen Lebensmittel produziert und für den Verkauf abgepackt (unter anderem Beljaschi, Pelmeni, Brot, Salat). Anzutreffen sind auch Geschäfte, Cafés, Apotheken, Hundepensionen, Tierärzte, Banjas, Anwaltskanzleien, Inkasso-Unternehmen und vieles mehr. Teilweise bekommt man in einem einzigen Garagenviertel alle Dienstleistungen, die für eine autonome Existenz notwendig sind, was zu einer regelrechten Abschottung von der Außenwelt führen kann.

Der Garashnik

Der typische Garashnik ist ein Mann mittleren Alters, der gar nicht oder nur wenig trinkt („keine Zeit“ oder auch „kein Grund zum Trinken“) und, meist mit Familie, in einer Wohnung in der Stadt lebt. Er fährt einen günstigen Wagen und kleidet sich außerhalb der Garage gewöhnlich sehr anständig. Er hat handwerkliches Geschick und bezeichnet sich selbst in der Regel als Meister. Er arbeitet entweder allein oder in einem Kleinbetrieb mit drei bis fünf Mitarbeitern (häufig sind das Verwandte oder enge Freunde). Normalerweise hat er keine festen Arbeitszeiten. Wenn es viel zu tun gibt, arbeitet er hin und wieder mehr als zehn Stunden täglich und auch am Wochenende. Der Garashnik hat ein ausgeprägtes Sozialleben und pflegt verschiedene Beziehungen, die er für sein Geschäft als relevant sieht. Fragen klärt er für gewöhnlich auf informellem Wege und hat eine genaue Vorstellung davon, mit wem man wie sprechen muss. Der Garashnik besitzt in der Regel keinen Hochschulabschluss. Selbst wenn, besteht kein klarer Zusammenhang zwischen seinem Bildungsabschluss und der ausgeübten Tätigkeit. Als weitaus wichtiger erweisen sich Arbeits- und Lebenserfahrung.

Eine große Rolle beim Abtauchen in die Garagenwelt spielt der Wunsch, unabhängig zu arbeiten, die eigenen Fähigkeiten in angemessener Weise einsetzen zu können, sich als Spezialist selbst zu verwirklichen und Anerkennung aus dem Umfeld zu erfahren. Viele Garashniki sprechen von der Motivation, anderen helfen zu können – wobei sie im Gegenzug erwarten, dass man ihr Handwerk und ihre Professionalität schätzt.

Garashniki und der Staat

„Alle sind halt in den Garagen, weil die Steuern hoch sind, und keiner auffallen will. Dann gibt es diese ganzen Inspektionen, jeden muss man schmieren und jeder will dir in die Tasche greifen‟, so beschreibt der Besitzer einer Autowerkstatt in einer der Hochburgen der Garagenökonomie, Toljatti, seine Lage. Die Garashniki berichten oft von Druck seitens der Behörden auf mittelständische Betriebe. Daher tauchen viele Unternehmer in die Garagenwelt ab, weil sie dort „im Schatten“ ihr Geschäft weiterführen können. Die Garashniki melden für ihre Tätigkeit gewöhnlich kein Gewerbe an oder begrenzen sich auf den Status eines selbstständigen Unternehmers. Doch auch in dem Fall bewerben sie ihre reale Tätigkeit nicht. Der Garashnik setzt nicht auf soziale Institutionen des Staates und erwartet deshalb auch nicht, eine Rente zu bekommen, sondern baut in erster Linie auf sich selbst und sein eigenes Umfeld. Zum Staat verhält er sich wie zu etwas von ihm völlig Losgelösten, das kein besonderes Interesse bei ihm hervorruft, es sei denn, es betrifft direkt sein Leben und seine Arbeit.

So bestimmt im Prinzip weniger geltendes Gesetz das soziale und wirtschaftliche Miteinander in den Garagen, sondern vielmehr ein System informeller Regeln und Normen, nach dem sich die Garashniki streng richten. Die Instanz, die Streitigkeiten löst und Strafen erteilt, ist hier kein Gericht, sondern eine respektierte Person. Das kann der Vorsitzende der Garagenkooperative sein, oder der sogenannte Smotrjaschtschi (etwa „Aufseher“; informeller Chef einer Gemeinschaft) oder der Poloshenez (informeller Chef einer Region).

Beispielsweise muss für jede Garage ein Mitgliedsbeitrag an die Kooperative bezahlt werden (etwa 3000 bis 5000 Rubel im Jahr [umgerechnet 45 bis 75 Euro]), was viele jedoch nicht tun. Statt die Schulden gerichtlich einzufordern, geht man in der Garagenwelt meist anders vor: Zum Beispiel wird dem Schuldner das Garagentor verschweißt, der Strom abgeschaltet oder ein Umzug in eine andere Garage mit schlechteren Konditionen erzwungen – und das, selbst wenn der Schuldner Eigentümer der ursprünglichen Garage war. Zwar gäbe es offizielle Lösungsmechanismen für solche Fälle, sie würden jedoch Kontakt mit dem Staat bedeuten, den aber wollen Garashniki meiden - selbst bei solchen Konflikten.


1.Zitat aus dem unveröffentlichten Interview, das im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Garagenökonomie in der russischen Provinz“ geführt wurde.
2.Interfax.ru: Wice-premjer Golodec: 40 mln rossijan zanaty „neponjatno gde i čem‟
3.Kobrin, K. (2016): Sowetskij garaž: istorija, gender i melancholija, in Neprikosnowennyj zapas, Nr. 3 (107)
4.Besonders verbreitet ist die Möbelproduktion in Uljanowsk, wo nach Schätzungen des Regionalchefs der Möbelhersteller bis zu 40.000 Menschen in „Möbelgaragen“ beschäftigt sind.
5.Hauptgrund dafür sind Preissteigerungen auf dem Wohnungsmarkt in diesen Städten und eine gesteigerte Nachfrage durch Gäste. Aktuell werden in Anapa beispielsweise 50 % der Garagen als Wohnraum für den Eigenbedarf oder für Touristen benutzt. Eine vergleichbare Situation bietet sich in Sotschi, Noworossijsk und anderen Kurorten. Diese Entwicklung beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Süden Russlands: Auch in Chanty-Mansijsk und seit Kurzem ebenso in Moskau werden ähnliche Tendenzen beobachtet.
6.Selejev, S., Pavlov, A. (2016): Garažniki, Moskau, S. 80

 

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