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Schöne neue Welt?

Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen, wichtig sei, dass sie sich getroffen haben, sich alles wieder etwas normalisiere. Die eigentliche Arbeit gehe jetzt erst los. So könnte man im Großen und Ganzen die russischen wie deutschen Einschätzungen des Putin-Biden-Treffens am gestrigen Mittwoch, 16. Juni 2021, in Genf zusammenfassen. Dem ging unter anderem voraus, dass Biden im Frühjahr – noch ziemlich frisch im Amt – im TV die Frage „Denken Sie, dass Putin ein Killer ist?“ mit „Das tue ich“ beantwortet hatte.

Beim gestrigen Treffen in Genf nun einigten sich beide Staatschefs darauf, dass die jeweiligen abgezogenen Botschafter wieder nach Moskau und Washington zurückkehren, in Fragen der Rüstungskontrolle strebe man einen „Stabilitätsdialog“ an. Auch Gespräche über Cybersicherheit seien geplant. Biden sagte zudem, man habe Russland klargemacht, dass die USA Menschenrechtsverletzungen weiterhin kritisieren würden.

Nach dem Treffen betonten beide Staatschefs in getrennten Pressekonferenzen den konstruktiven Ton der Zusammenkunft. US-Präsident Biden fasste zusammen, dass niemand Interesse an einem neuen Kalten Krieg habe. Inwiefern das Treffen dennoch restaurativen Charakter trage und an Zeiten der alten Bipolarität erinnere – das kommentiert Alexander Baunow auf Carnegie.ru.

Quelle Carnegie

Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0

Auch die Russen lieben ihre Kinder – dieser Satz war ein Vorbote für das Ende des Kalten Krieges. Nach dem Gipfel in Genf haben wir von Präsident Putin erfahren, dass Präsident Biden seine Mutter liebt und während der Verhandlungen auf sie zu sprechen kam. Wenn es den Staatsoberhäuptern der beiden Länder nur mit Mühe gelingt, das gemeinsame politische Terrain zu sondieren, so suchen sie es im Einfachen und Menschlichen. 

Das neue Russland

Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich, und das Gipfeltreffen mit dem wichtigsten demokratischen Staatsoberhaupt hat diesen Umbau nicht verlangsamt, sondern, im Gegenteil, beschleunigt. Als hätte man sich bei dem Treffen mit Biden darauf vorbereitet, ein neu formatiertes Russland zu präsentieren, mit dem und über das man spricht.

Weder im außen- noch im innenpolitischen Verhalten des Kreml gab es vor dem Gipfel Schritte, die als Versuch gelten können, gefallen zu wollen. Ein Angleichen oder auch nur ein Versprechen sich anzugleichen wurde nicht nur aufgeschoben, sondern abgebogen.

Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich

Während des vergangenen Jahres wurde die Entwicklungphase Russlands abgeschlossen, die man symbolisch als Gorbatschow-Jelzin-Etappe bezeichnen könnte. Die Verfassungsänderungen besiegelten den Bruch. Die Vielzahl an Änderungen markieren nicht so sehr den Beginn einer neuen Etappe, vielmehr verleihen sie der Quantität schon angesammelter Änderungen eine neue Qualität und institutionalisieren das Putinsche Russland.

Putin ist nach Genf gefahren, um dort im Namen dieses neuen Russland zu sprechen, das sich nun nicht mehr entwickelt, indem es Institutionen nach westlichem Vorbild aufbaut oder gar imitiert. Diese Aufgabe ist von der Agenda gestrichen. Russland geht nicht mehr auf einem souveränen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu, jetzt ist sein Ziel selbst souverän. 

Das Neue Russland verzichtet weiterhin nicht auf Marktwirtschaft und prinzipiell offene Grenzen. Aber: Hier muss Glasnost nun nicht zwingend zur westlichen Meinungsfreiheit, Pluralismus nicht zum demokratischen Wettstreit werden und der Markt muss nicht geöffnet werden für Unternehmen aus dem Westen. 

Und genau deshalb hatte der bevorstehende Gipfel auch keinerlei Einfluss auf den Umgang mit der Opposition und den unabhängigen Medien oder auf die Unterstützung Lukaschenkos. Im Gegenteil: Im Vorfeld des Treffens mit Biden hat der Kreml den Ausbau eines autoritäreren Staates nicht gestoppt, sondern beschleunigt. Die Versuche Bidens (und zuvor ausländischer Journalisten), Putin wegen der Leiden russischer Oppositioneller zu beschämen, prallten auf eine Mauer des Unverständnisses und führten zu Beschuldigungen der Gegenseite. Das Koordinatensystem, in denen solche Anschuldigungen Gewicht haben, existiert für Putin nicht mehr. 

Aus Russlands Handeln vor dem Gipfel folgt, dass die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung kein tragfähiges Modell mehr ist. Moskau will zeigen, dass Zugeständnisse nun gegen Zugeständnisse getauscht werden müssen oder gegen Androhungen von realem Schaden. Also hat Biden eine Liste von 16 Themengebieten entrollt, in denen Cyberattacken Tabu sind: „Drohungen gab es keine, wir haben nur gesagt, wie wir auf eine Verletzung der amerikanischen Souveränität reagieren werden.“ 

Die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung ist kein tragfähiges Modell mehr

Russland hat hier den Vorteil, dass es ein Land mit höherer Schmerzgrenze ist, das zur Durchsetzung seiner Interessen zu größeren Opfern bereit ist – und dessen Führung sich nicht vor Opposition und Presse verantworten muss. Der Westen stützt sich seinerseits auf eine ganze Bandbreite finanzieller und technologischer Überlegenheiten, mit denen er Druck auf Russland ausüben kann. Im Ergebnis wird nun der zweite Versuch gemacht, eine bilaterale Kommission für Cyber-Gefahren einzurichten – den ersten unter Trump hatten Kongress und Staatsapparat blockiert.

Das neue Amerika

Putin brachte das neue Russland mit zum Gipfel, Biden das neue Amerika. Dies ist ein Amerika, das die Beziehungen zu seinen Verbündeten, die Einheit des Westens und das Ansehen der Demokratie wiederherstellt. Bidens Projekt ist dabei offen restaurativ, doch Putins Projekt, zumindest für das System der internationalen Beziehungen, ebenfalls. 

Die Beziehungen zu Russland müssen von nun an offiziell nicht auf Russlands potentieller Ähnlichkeit zum Westen gründen. Sie sind auch nicht abhängig davon, wie der Westen Russlands Zustand bewertet – sondern sie richten sich ausschließlich auf gemeinsame Interessen in den Bereichen, wo sie denn bestehen, gegen einen gemeinsamen Feind, falls sich so einer finden lässt, um Zusammenstöße dort zu vermeiden, wo sie auftreten könnten.

Bidens Projekt ist offen restaurativ, doch Putins Projekt ebenfalls

Darüber hinaus wurde den beiden entscheidenden Supermächten zu den besten Zeiten ihres Zusammenwirkens angeboten, im Interesse der gesamten Menschheit gemeinsam gegen weltumspannendes Übel vorzugehen – angefangen bei Faschismus und Kolonialismus bis hin zur Hilfe für Entwicklungsländer gegen Hunger und Analphabetismus. Die Plattform „gegen den gemeinsamen Feind“ bringt Putin den USA gelegentlich nahe: Er schlägt eine Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terror vor, gegen die Pandemie oder die globale Erwärmung. Die amerikanischen Präsidenten waren einer solchen Zusammenarbeit gegenüber bislang nicht sehr aufgeschlossen, würde doch Russland dadurch, wenn auch nur scheinbar, den eingebüßten Status zurückerlangen.

Biden kann einer solchen Zusammenarbeit jedoch zustimmen. Einen hohen Stellenwert in seiner Vorstellung von bilateraler Zusammenarbeit hat das Klima. Das Pariser Klimaabkommen hat sich stark eingeprägt, weil Putins und Trumps Positionen sich nicht trafen. Und das bedeutet, wenn man sich Moskau bei diesem Thema annähert, geht man nicht auf Putin zu, sondern handelt gegen Trump. 
Auch das klassische Thema der START-III-Verlängerung und die nukleare Rüstungskontrolle wurden von Trump vernachlässigt. Demnach kann Biden auch hier mit Putin zusammenarbeiten, ohne dabei im Schatten eines nachgiebigen Trump zu stehen. 

Schon während des Kalten Krieges lag Biden als Berufspolitiker das Thema der Verhinderung eines nuklearen Konflikts zwischen den beiden prinzipiell verschiedenen Staaten am Herzen. Und auch der Kreml freut sich über die Wiederbelebung der guten alten Tradition der Atomgespräche zwischen den Supermächten. Dazu gaben beide Seiten sogar eine gemeinsame Erklärung ab, obwohl von dem Gipfel gar keine Beschlüsse erwartet worden waren.

Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen

Die beiden Seiten waren so sehr von globalen Themen in Anspruch genommen, dass sie sich allem Anschein nach nicht ausführlich mit lokalen Konflikten beschäftigten. Die Themen Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen wurden zwar angesprochen, allerdings nicht ausreichend für jene, für die diese Themen am wichtigsten sind. Die Journalisten ließen es sich nicht nehmen, Biden dafür Vorwürfe zu machen, genauso wie dafür, dass er es verpasst hatte, Putin offen anzuprangern.

Das Ausbleiben einer gemeinsamen Pressekonferenz war die positive Antwort Bidens auf die wichtigste Frage der russischen Außenpolitik: „Respektierst Du mich?“. Eine positive öffentliche Antwort oder zumindest das Ausbleiben einer öffentlichen negativen Antwort war die Bedingung für das Treffen sowie für Gespräche mit Moskau generell.

Die neue Welt

Nach dem Wahlsieg Bidens hat vor unseren Augen ein wichtiger Umschwung stattgefunden. Als die Demokraten in das Weiße Haus einzogen, schien es, als ob der Hauptkonflikt der Präsidentschaft Trumps zwischen den USA und China beigelegt und Russland nun isoliert und hart bestraft würde. Einige Monate später sehen wir, dass sich die Rhetorik der neuen Regierung in Bezug auf China verschärft hat.
Biden trifft sich früher mit Putin als mit Xi Jinping. In seinen Aussagen über China tauchte die These von der künstlichen Entstehung des Corona-Virus in einem Labor auf, was bislang fälschlicherweise für ein Trump-Thema gehalten wurde.
China ist nun nicht mehr willkürliche Zielscheibe für Trumps persönliche Wut, sondern objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen. Sie zu lösen, indem man Russland enger an die westliche Welt bindet, ist nicht gelungen. Bleibt also nur, Russland unschädlich zu machen und es dabei so zu lassen, wie es laut seiner Führung sein will, solange das von der Mehrheit der Bevölkerung noch nicht angefochten wird.

China ist nun objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen

Biden hat die theoretische Chance nicht vertan, Russland aus der aktiven Konfrontation herauszuführen und das Beziehungschaos, das auf den Trümmern von Russlands westlichem Weg entstanden ist, langsam zu ersetzen durch den Aufbau einer neuen vertraglichen Ordnung mit einem also doch wieder nicht-westlichen Russland.
Für Putin bietet das die Möglichkeit festzuklopfen, dass mit Russland nicht in der Annahme seiner künftigen westlichen Qualitäten verhandelt wird, sondern mit Russland als das, was es ist, wie schon zu Zeiten der alten Bipolarität. Die auf dieser Grundlage getroffenen Vereinbarungen verlieren auch dann nicht an Gültigkeit, wenn Russlands derzeitiges Staatsoberhaupt länger an der Macht bleiben sollte, als es in früheren, westlicher orientierten Zeiten vorgesehen war.

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Nord Stream 2

Putin könne nach Belieben jederzeit den „Gashahn zudrehen“, seine „Gaswaffe zücken“, Deutschland zu einer „Geisel Moskaus“ machen: Diese Argumente gegen eine russische Gas-Pipeline sind schon nahezu 20 Jahre alt. In der damaligen Debatte über Nord Stream (NS1) hielten die Gegner der Pipeline den Gasunternehmen die steigende Abhängigkeit Europas von Russland entgegen. Dadurch, so die Argumentation, würde der Anteil russischen Gases auf dem westeuropäischen Gasmarkt steigen, Nord Stream-Eigner Gazprom könne zum dominanten Akteur auf dem europäischen Gasmarkt werden, der Kreml könne die EU unter Druck setzen und erpressen. Die Gasunternehmen erwiderten damals, dass Russland von Gasexporten stärker abhängig sei, als die EU von den -importen, außerdem sei Gas in freien Marktwirtschaften grundsätzlich eine Ware und kein Politikum. Kurzum: Der Eingriff in die Baupläne sei Dirigismus.

Wie in dem Film mit dem Murmeltier wiederholten sich diese Argumente auch beim Bau von Nord Stream 2 (NS2): Diese Pipeline sollte nahezu parallel zu dem bereits bestehenden 1224 Kilometer langen Pipeline-Strang von Wyborg, zwischen Sankt Petersburg und der finnischen Grenze, nach Lubmin bei Greifswald verlaufen. Schon Ende 2019 sollte sie zusätzliche 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr von Russland nach Deutschland transportieren. 

Das Projekt war jedoch von Anfang an mit massiven Unwägbarkeiten behaftet, die eine Umsetzung in Frage stellten. Vor allem die im Dezember 2019 in den USA beschlossene Strafandrohung gegen die am Bau beteiligten Unternehmen1 galt für viele Experten als der endgültige Todesstoß für Nord Stream 2.2 Der Baustopp schien damit erzwungen. 

Schließlich forderten zahlreiche deutsche Politiker nach der Nowitschok-Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny im August 2020 von der Bundesregierung einen offiziellen Baustopp für Nord Stream 2. Im Juli 2021 vereinbarten die USA und Deutschland zunächst die NS2 fertigzustellen, ohne unter die US-Sanktionen zu fallen. Wegen des zu erwartenden russischen Überfalls auf die Ukraine stoppte die Bundesregierung zwei Tage vor Kriegsbeginn im Februar 2022 schließlich die Inbetriebnahme. 

Der scharfen Kontroverse um die NS2 geht eine lange Streitgeschichte voraus – die sich immer wieder auch um eine Frage dreht: Nord Stream 2 – geht es bei Gasgeschäften mit Russland um eine Ware oder um ein Politikum? 
So sorgten schon die im Juli 2017 beschlossenen US-Sanktionen3 gegen Russland für Aufregung in Deutschland: Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel sagte, dass „die Sanktionen auch dazu dienen sollen, die Russen vom europäischen Gasmarkt zu verdrängen. Die Amerikaner wollen amerikanisches Gas in Europa verkaufen, damit amerikanische Jobs sichern und würden so unliebsame Wettbewerber los“4.
Matthias Warnig, Chef des NS2-Projekts und Gazprom-Lobbyist, warnte vor den Folgen: „Sollten die Sanktionen tatsächlich so kommen, hätte das eklatante Auswirkungen auf die gesamte Öl- und Gasversorgung.“5

Wechselnde Fronten?

Die staatsnahen russischen Medien vermittelten damals den Eindruck, dass die EU mit ihrer Ablehnung der US-Sanktionen automatisch für NS2 eintritt, ganz nach dem Motto: „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Dabei sprachen Vertreter der EU-Kommission schon zuvor mehrmals von NS2 als einem Projekt, das sich gegen ihre Diversifizierungspolitik und damit gegen einen wettbewerbsfähigen und transparenten EU-Gasmarkt richte.6
Vor allem Polen und die baltischen Staaten protestierten gegen die Pipeline mit der Begründung, dass NS2 eine Bedrohung sowohl für die EU-Energiesicherheit als auch für die politische Sicherheit einzelner EU-Mitgliedstaaten darstelle. 2006 hatte der polnische Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski schon den ersten Strang ausladend mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt verglichen, und auch bei NS2 warf Polen Deutschland Energie-Egoismus vor. 
Daneben gab es auch pragmatische Bedenken: Die Wettbewerbsfähigkeit von neuen Terminals für LNG (Flüssigerdgas) in Polen und Litauen würde durch NS2 verschlechtert, so die Argumentation.7

Gasmarkt im Wandel

Hinzu kam der sich wandelnde Gasmarkt: Verursacht durch ein Überangebot an Flüssigerdgas war von 2015 bis etwa 2021 ein Rückgang der Gaspreise auf den Weltmärkten zu beobachten. Im Jahr 2018 stieg die weltweite LNG-Produktion um 22 Millionen Tonnen an, 2019 hat sich der Zuwachs mehr als verdoppelt. Laut Einschätzung von Rohstoffexperten kann LNG in den nächsten Jahren zu einem ernsthaften Konkurrenzprodukt für konventionelles Pipeline-Gas werden. Auch die – als Schiefergas gewonnenen – Überschüsse auf dem US-amerikanischen Markt könnten dazu beitragen, dass die Bedeutung von starren Pipeline-Systemen abnimmt. Viele Faktoren spielen da eine Rolle – unter anderem die politische Situation bei (potentiellen) LNG-Exporteuren wie Katar oder Iran – insgesamt werden sich die weltweiten Gasmärkte mittelfristig aber stark wandeln, so die Einschätzung.8

Milliardengrab?

Vor diesem Hintergrund drohte das rund 9,5 Milliarden US-Dollar teure Projekt NS2 bereits in der Bauphase zu einer Risikoanlage zu werden. Schon seit etwa 2015 kritisierten einige Experten die systematischen Fehlinvestitionen von Gazprom: Die starren Pipeline-Systeme seien zu teuer und könnten mittelfristig nicht mehr mit LNG konkurrieren, so die Argumentation, die einige am Beispiel der Pipeline Sila Sibiri bekräftigen: Das Großprojekt von Gazprom transportiert seit Dezember 2019 Erdgas in die Länder des pazifischen Raums. Es soll länger als 30 Jahre dauern, bis die Kosten der Pipeline wieder eingespielt sind.9 

Angesichts solcher Misserfolge spekulierte Gazprom vermutlich darauf, dass die Nord Stream AG, die zu 51 Prozent Gazprom gehört, sich mit NS2 eine marktbeherrschende Stellung in Deutschland erarbeitet – und neuen Anbietern so den Markteintritt erschwert. Unter anderem wäre dann LNG aus den USA unter bestimmten Voraussetzungen nicht konkurrenzfähig – auch weil Deutschland dafür zuerst ein teures LNG-Terminal bauen müsste.

Diese Rechnung schien aber nur zum Teil aufzugehen: Noch vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gelan es Gazprom immer seltener, Abnehmer wie E.On und EnBW durch langfristige Lieferverträge zu binden. Denn mit dem Rückgang der Gaspreise sank bei Abnehmern im Westen das Interesse an solchen Langzeitverträgen.

Handel schafft Frieden versus Energie-Egoismus

NS2-Befürworter ließen dieses Szenario eines Preisverfalls meist außer Acht und argumentierten, dass das NS2-Erdgas für die deutschen Verbraucher preiswerter wäre als LNG aus den USA.10 Damit könnten außerdem sowohl der Ausstieg aus der Kernenergie kostengünstiger abgefedert als auch die gesteckten CO2-Ziele effizienter erreicht werden. Deutschlands Stellung als Transitland und Drehscheibe für Gas würde gestärkt, die nationalen Anbieter hätten im innereuropäischen Wettbewerb bessere Karten. 

Hinzu kam das Argument „Handel schafft Frieden“: Mehr gegenseitige Abhängigkeit zwischen Russland und Europa könne in Russland einen politischen Wandel bewirken und damit die seit der Krim-Angliederung schwelenden politischen Spannungen zwischen den Handelspartnern mildern, so die Argumentation.

Die Kritiker von NS2 hielten dem entgegen, dass der Marktanteil russischen Gases auf dem deutschen Gasmarkt durch NS2 von rund 37 Prozent auf rund 60 Prozent steigen könnte.11 Gazprom hätte dann eine sehr dominante Marktstellung. 
Außerdem verwiesen die NS2-Gegner darauf, dass eine verwirklichte Pipeline die gemeinsame europäische Energiepolitik infrage stelle: NS2 untergrabe die Entwicklungspläne eines einheitlichen Energiebinnenmarkts der EU und könnte damit die gesamte europäische Energieversorgungssicherheit gefährden. 

Tatsächlich hatte NS2 kaum eine der Anforderungen der EU für den Gasbinnenmarkt erfüllt: So ist die Pipeline eigentumsrechtlich nicht entflechtet, Netz und Vertrieb sollten vielmehr aus einer Hand kommen. Um diese Hürde zu überwinden, hätte Gazprom zunächst einen Pipeline-Betreiber schaffen müssen, den auch die Bundesnetzagentur als unabhängig (von Gazprom) hätte einstufen müssen. Außerdem hätte dann auch die Europäische Kommission die Einhaltung der EU-Vorschriften überwachen müssen: unter anderem, ob Gazprom den Zugang zur Pipeline für Dritte garantiert und transparent arbeitet, insbesondere im Hinblick auf die Versorgungssicherheit. 

Erzwungener Baustopp 

Allein diese Anforderungen der EU hätten im Grunde schon das Aus für das NS2-Projekt bedeuten können. Ausschlaggebend für den zwischenzeitlich erzwungenen Baustopp von Dezember 2019 bis Juli 2021 waren jedoch die Sanktionen, die die USA im Dezember 2019 angedroht hatten: Für nahezu alle Beteiligungen an der Fertigstellung sahen diese gravierende Strafmaßnahmen vor. Damit schien das Projekt am Ende, das Risiko unter die US-Sanktionen zu fallen, war für die Beteiligungsunternehmen zu hoch.

Tatsächlich unterzeichnete Gazprom im Dezember 2019 einen neuen Transitvertrag mit der Ukraine, der bis 2024 laufen sollte.12 Manche russische Analysten, wie etwa Michail Krutichin werteten den Vertrag damals als Eingeständnis, dass Gazprom selbst immer weniger mit der Fertigstellung von NS2 rechnete. Angesichts aller Unwägbarkeiten bei NS2 konnte Gazprom nur noch eine einzige Hoffnung haben: Dass die Bundesregierung das Projekt weiter verfolgt – trotz der EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt auf der einen und der US-Sanktionen auf der anderen Seite. Noch Ende August 2020 hat sich Kanzlerin Angela Merkel für eine Fertigstellung der Gaspipeline ausgesprochen.

Über die Gründe für die strikte Haltung der Kanzlerin wurde viel spekuliert. Manche Beobachter betonten, dass der Anlandungspunkt der Gasleitung in Merkels Wahlkreis liegt, andere machten darauf aufmerksam, dass die Lobbyarbeit der beteiligten europäischen Unternehmen Uniper, Wintershall Dea, OMV, Engie und Royal Dutch Shell schon immer besonders effektiv gewesen sei. Schließlich, so eine These, die mit dem erwähnten Argument von Sigmar Gabriel verwandt ist, wollte sich Merkel die Einmischung der USA verbieten.13 Bei einem offiziellen Baustopp hätten der Bundesregierung auch immense Schadensersatzforderungen durch die am Bau beteiligten Unternehmen drohen können.

Kehrtwenden

In diesem Spannungsverhältnis quer durch die Interessen von europäischen und US-amerikanischen Unternehmen, von nationaler und gesamteuropäischer Souveränität sowie Aspekten der Versorgungssicherheit, platzte Anfang September 2020 die Nachricht, dass Merkel die Zukunft von NS2 wegen des Falls Nawalny offen lässt. Im Juli 2021 folgte jedoch die Kehrtwende: In Verhandlungen beschlossen Angela Merkel und Joe Biden, dass der Weiterbau von Nord Stream 2 nicht mehr mit US-Sanktionen geahndet würde. Deutschland sollte sich im Gegenzug für eine zehnjährige Verlängerung des 2024 auslaufenden Transitvertrages durch die Ukraine einsetzen und finanzielle Hilfe beim Ausbau erneuerbarer Energien in der Ukraine leisten. Zudem sollte Deutschland Sanktionen gegen Russland verhängen, wenn Gazprom die NS2 als politisches Druckmittel einsetzt.
Die Ukraine und Polen haben die Einigung scharf kritisiert: Sie sei vage formuliert und schaffe politische und wirtschaftliche Bedrohungen für die Ukraine und Mitteleuropa. Auch in den deutschen Medien wurde die Vereinbarung kontrovers diskutiert: Während manche begrüßten, dass man so eine Investitionsruine auf dem Grund der Ostsee abgewendet habe, kritisieren andere, der Vertrag gehe zu Lasten der Ukraine. Außerdem seien die Kapazitäten der vorhanden Pipelines aus Russland sowieso bislang nicht ausgeschöpft.

Befürworter des Projekts betonten demgegenüber, dass Erdgas in den nächsten Jahren zunehmend zu einer Übergangstechnologie werde: Auch wegen des Kohle- und Atomausstiegs wird die Nachfrage nach Erdgas in der EU steigen. Ohne die NS2 wäre das Risiko für die künftige Versorgungssicherheit zu hoch, so die Argumentation.

Im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine verstummten in Deutschland jedoch die meisten Stimmen der Befürworter des Projekts, nur noch wenige Politiker wie Sahra Wagenknecht, Alice Weidel oder Wolfgang Kubicki brachen dafür die Lanze. Die Bundesregierung stoppte am 22. Februar 2022 das Zertifizierungsverfahren für NS2, Russland lieferte anschließend deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, und Gazprom berief sich dabei auf „höhere Gewalt“ oder „Wartungsarbeiten“. Zahlreiche europäische Politiker hielten dies für Vorwände und Druckmittel, mit denen der Westen gezwungen werden sollte, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen. Für sie war also offenbar klar, dass Gas aus Russland nicht bloß eine Ware ist. Ende September 2022 schlugen offenbar drei von vier Strängen beider Pipelines schließlich Leck – die EU geht von Sabotage aus.

aktualisiert am 28.09.2022


1.govtrack.us: National Defense Authorization Act for Fiscal Year 2020, S. 1790 
2.golos-ameriki.ru: Severnyj potok-2: krach ili koma? 
3.Dieses Gesetz beinhaltete zunächst unter anderem eine weitgehend abstrakte Androhung, dass die USA Sanktionen gegen Unternehmen verhängen können. Im Juli 2020 konkretisierte die Trump-Regierung das Gesetz hinsichtlich des NS2-Projekts: Alle daran beteiligten Unternehmen sind damit von Strafmaßnahmen bedroht. congress.gov: H.R.3364 (2017-2018) – 115th Congress; state.gov: Updated Public Guidance for Section 232 of the Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) 
4.Die Welt: Gabriel kritisiert Sanktionen scharf 
5.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Gefahr für die gesamte Öl- und Gasversorgung 
6.europa.eu: Kommission ersucht Mitgliedstaaten um Verhandlungsmandat für Nord-Stream-2-Vereinbarung mit Russland 
7.Deutsche Welle: OPAL-Pipeline entzweit Polen und Deutschland 
8.iea.org: Gas 2019: Analysis and forecasts to 2024; iea.org: Gas 2020; pwc.com: Navigating the transformation of the gas market – Adapting to survive in a period of change 
9.vgl. news.ru: „Gazprom“ počti dostroil „Silu Sibiri“: Postavki gaza po magistral'nomu puti v Kitaj načnutsja v dekabre 
10.Diese Argumentation wird durch Umfrage-Ergebnisse gestützt, die Forsa im Auftrag der Wintershall ermittelt hat und die im August 2017 veröffentlicht wurden. Demnach lehnten damals 83 Prozent der Deutschen die geplante Erweiterung der amerikanischen Wirtschaftssanktionen ab. Vgl. wintershall.com: Trump-Effekt? Deutsche wollen lieber Erdgas aus Russland als Flüssiggas aus den USA 
11.Der Spiegel: Worum es im Gasstreit wirklich geht 
12.Bundeszentrale für politische Bildung: Analyse: Vorübergehende Stabilisierung: Der russisch-ukrainische Vertrag zum Gastransit 
13.ko.ru: „Severnyj potok – 2“: nakazat', ne nakazyvaja? 
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