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Streikkrepierer

Für den Machtapparat von Alexander Lukaschenko sind die Staatsunternehmen, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten des Landes auf sich vereinen, von essentieller Bedeutung. Denn, so urteilt der Politologe Waleri Karbalewitsch: „Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft.” Entsprechend hat die Oppositionsbewegung seit dem Ausbruch der Proteste mit dem 9. August 2020 immer wieder versucht, Streiks zu initiieren, die sich allerdings zu keinem Zeitpunkt zum erhofften Generalstreik im ganzen Land ausweiteten. Ein neuerlicher Streik sollte am 1. November beginnen. Warum dieser mehr oder weniger versandete und damit weit davon entfernt war, die Wirkung zu entfalten, die sich die Organisatoren erhofft hatten, analysiert der Journalist Alexander Klaskowski für das belarussische Online-Medium Naviny.by.

Quelle BelaPAN/Naviny.by

„Siehst du das Erdhörnchen?“. „Nö.“ „Ich auch nicht. Es ist aber da!“

Ungefähr so, im Stil alter Filmkomödien mit schwarzem Humor, streitet derzeit ein engagiertes Publikum über die Symptome des am 1. November in Belarus ausgerufenen Streiks. Betrachtet man die Tatsachen, ist das Regime nicht in seinen Grundfesten erschüttert. Analytiker meinen (und haben das bereits vor dem 1. November deutlich erklärt), dass die Lage jetzt nicht dazu geeignet sei, Menschen massenweise zu Aktionen zu bewegen, die das Regime zu Zugeständnissen nötigen könnten.

Kopf der Initiative ist der Chef der Belarussischen Arbeitervereinigung (BOR), Sergej Dylewski, der aus politischen Gründen emigriert ist. Zu seinen Unterstützern gehören Waleri Zepkalo, ein prominenter Gegner von Lukaschenko, Dimitri Bolkunez, der Russland aus Angst verlassen hat, dass er in die Fänge des belarussischen Regimes gerät, Andrej Sannikow, der fast schon in Vergessenheit geratene Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2010 mit seiner Kampagne Europäisches Belarus und dem Medienportal Chartija 97. Sie kritisieren heftig diejenigen, die die Idee nicht aufgegriffen haben. Und das sind wohl die meisten Anführer und Strukturen der Opposition.

Dylewski erklärte, am ersten Streiktag hätten zwischen 10 und 30 Prozent der Arbeiter in Belarus aus unterschiedlichen Gründen bei der Arbeit gefehlt. Wobei die Initiatoren einräumen, dass diese Zahlen schwer zu prüfen sind. Ebenso schwer ist zu unterscheiden, wer einfach krank war oder aus ernsthaften medizinischen Gründen in Quarantäne saß, und wer dem Aufruf gefolgt ist und damit dem Regime den Kampf angesagt hat (oder ihm wohl eher insgeheim den Stinkefinger zeigte).

Mit anderen Worten: Wir können nur rätseln, wie viele von diesen angeblichen 10 bis 30 Prozent siechende Jabatkas waren, und wie viele ideelle Gegner Lukaschenkos.

Die Idee wird auf einen Flashmob reduziert

Die unbequemste Frage ist hier allerdings die nach den Zielen der Aktion und nach dem tatsächlichen Effekt. Es sieht so aus, als hätte man gewaltig Anlauf genommen und dann nur ganz schwach geschossen.

Dylewski verkündete bereits am 30. August eine Streikwarnung und formulierte dabei zehn Forderungen an die Regierung. Unter anderem das Ende der Repressionen und die Freilassung aller politischen Gefangenen und rechtswidrig Verhafteten. Außerdem sollten die Gehälter, Stipendien und Renten „an die tatsächliche wirtschaftliche Lage im Land angepasst“ werden (eine unglückliche Formulierung – man könnte sarkastisch einwenden: Ihr kläglicher Zustand entspricht eben genau der miesen wirtschaftlichen Lage). Schließlich war eine der Forderungen „die Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen dem Regime und den demokratischen Kräften unter unbedingter Beteiligung der Arbeiterführer über Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments zur Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Krise“.

Oho! Da wird sich Lukaschenko aber sowas von in Bewegung setzen! Über diese Forderungen verlieren jetzt selbst die Initiatoren kein Sterbenswörtchen mehr. Und die ursprüngliche Idee von einem Streik und einem Ultimatum an das Regime versucht man nun auf eine Art Volksquarantäne zu reduzieren, eine Aktion „Bleib zuhause“, auf einen Flashmob. So nach dem Motto: Wenn wir die Zahl der Corona-Toten reduzieren, kann das schon als Erfolg gelten.

Klingt edel, ist aber eine klare Profanisierung der ursprünglichen Idee. Ein Versuch, trotzdem gute Miene zu machen. Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analysen und Prognosen in Warschau, meint hierzu ironisch: Man hätte das ganze Vorhaben nicht Generalstreik, sondern Anti-Corona-Aktion nennen sollen. „Einen Streik in dem Sinne, wie er angekündigt wurde, hat es nicht gegeben“, erklärte Ussow gegenüber Naviny.by.

„Proteste geschehen nicht auf Anweisung von Komitees“

Ganz ähnlich bewertete der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Kommentar für Naviny.by die Lage: „Offensichtlich hat es keinen landesweiten Streik gegeben.”

Er erinnerte daran, dass Swetlana Tichanowskaja im Oktober vergangenen Jahres versuchte, der Regierung ein Ultimatum zu stellen, und dazu einen Streik organisierte. Damals habe es zumindest einige Anzeichen gegeben, dass man dem Aufruf mit Aktionen folgte. Unter anderem hatten Dutzende privater Handels- und Dienstleistungsunternehmen geschlossen. Jetzt kam es nicht einmal dazu.

Zu ergänzen wäre, dass der Streikaufruf auch damals eine klare Fehlkalkulation der Regimegegner war. Er erfolgte nämlich, als die politische Aktivität bereits abnahm, und er lieferte der Regierung einen Vorwand, die Repressionen zu verstärken und nichtloyale Unternehmen „niederzumetzeln”, wie Lukaschenko sich ausdrückte.

„Revolutionen, landesweite Streiks und Ausbrüche von Protest geschehen nicht auf Anweisung von Komitees. Da müssen eine Reihe von Umständen zusammenkommen“, meint Karbalewitsch. Im August 2020 waren diese Umstände zusammengekommen. Aber auch damals seien nicht Proletarier die wichtigste Triebkraft der Proteste gewesen, sondern Angehörige der Mittelschicht, IT-Spezialisten, Unternehmer oder Mitarbeiter im nichtstaatlichen Sektor, betont er. „Die Epoche der proletarischen Revolutionen ist vorbei, weltweit schwindet das Gewicht der industriellen Produktion.“ Die Situation in Belarus ist zudem auch deshalb eine besondere, weil viele Arbeiter in Staatsunternehmen angestellt sind, die nicht effizient sind und Subventionen erhalten, also von der Gnade der Regierung abhängig sind. Das sei „ebenfalls ein Hemmfaktor“ für aktive Proteste, meint Karbalewitsch. Insgesamt gebe es jetzt in Belarus  derzeit „eine Phase der Entpolitisierung“ der Bevölkerung, so der Experte.

Der Misserfolg hat „negative Folgen für die gesamte Opposition“ 

Die Initiative der Belarussischen Arbeitervereinigung war eindeutig nicht durchdacht. Dylewskis Gruppe sei es nicht gelungen, ihre Agenda durchzusetzen, erklärt Ussow. Mehr noch, es sei das Regime, das hier in gewissem Maße die Initiative ergriffen hat.

„Das Regime hat das unabhängige Kommunikationsnetzwerk in Belarus zerstört und macht das auch weiterhin“, sagt der Politologe. Heute haben viele Figuren und Gruppierungen, die im Kampf gegen das Regime eine Führungsrolle beanspruchen, eindeutig Probleme, den Zustand der Gesellschaft richtig einzuschätzen.

Gleichzeitig setze „die neue Opposition teilweise völlig unnötigerweise auf Populismus“. Im Vordergrund stehe die Bewegung, unabhängig von den Ergebnissen. Obwohl „die historische Erfahrung zeigt, dass unüberlegtes Handeln großen Schaden anrichten kann“, erklärt Ussow. Manche aus der neuen Opposition in Belarus würden gerade Fehler der alten Opposition wiederholen und ihr Ansehen stark gefährden. 

Allerdings haben längst nicht alle Akteure und Strukturen der Opposition die Idee von Dylewski und seinen Mitstreitern (oder Ideengebern) unterstützt. Mitarbeiter von Tichanowskajas Team und auch sie selbst haben sich zurückhaltend zu der Idee geäußert (weswegen sie umgehend heftige Kritik der Befürworter einstecken mussten). Auch Pawel Latuschko, Leiter des Nationalen Anti-Krisen-Managements, ging zum Streikaufruf auf Distanz.

Der Misserfolg des Streiks habe aber „negative Folgen für die gesamte Opposition“, erklärt Ussow. Die erbitterte Debatte (um nicht zu sagen: das heftige Gezänk) um dieses Unterfangen bedeute eine „innere Entkonsolidierung der Opposition“, die de facto schon erheblich früher eingesetzt habe. Dabei „wird auch Tichanowskajas Autorität offen in Frage gestellt“, betont Ussow.

Hat Lukaschenko das Referendum schon gewonnen?

Über die Motive der Initiatoren des Streiks können wir nur rätseln. Leiden sie derart unter Realitätsverlust? Haben sie aus Ehrgeiz und mit Blick auf Konkurrenten beschlossen, Tichanowskajas Monopol zu erschüttern? Böse Zungen verweisen auf Fristen für Fördermittel. Dylewski und seine Mitstreiter sagen, sie würden sich um das schwere Los der Belarussen sorgen, die unter dem Joch des Regimes ächzen, und sie würden lieber handeln als ewig palavern.

Gleichzeitig betont Dylewski immer wieder, dass er kein Politiker sei, sondern ein echter Malocher. Dabei ist eine solche Initiative Politik, sogar große Politik. Naiv-Tun bringt einen hier nicht weiter. Politik ist bekanntlich die Kunst des Möglichen. Unbedachte Schritte können da schlimmer sein als durchdachte Pausen (allerdings wäre da noch die Frage, worum es sich bei den anderen handelt – um eine wohlüberlegte Pause oder elementare Ohnmacht?).

Jedenfalls ist offensichtlich, dass das Scheitern des Streiks unter Führung der Belarussischen Arbeitervereinigung dem Regime propagandistische Trümpfe an die Hand gibt und der gesamten Bewegung für Veränderungen im Land schadet.

Die Regimegegner klären jetzt also anhand des Streiks ihre Konflikte, auch wenn das letztendlich eher ein Zersägen von Sägespänen ist. Mit dieser Geschichte ist alles klar.

Unterdessen rückt das Referendum näher. Und dazu ist bei denen, die im Kampf gegen das Regime Führung beanspruchen, nicht nur keine überzeugende Strategie, sondern nicht einmal eine ernsthafte Diskussion zu erkennen.

Ussow schätzt, dass derweil allein das Regime mit seinem unvorhersehbaren Vorgehen – erinnert sei nur an die erzwungene Landung der Ryanair-Maschine – dafür sorgen könnte, dass es zu kritischen Situationen rund um das Referendum kommt. Sollten Erschütterungen aber ausbleiben, dann „wird das System nach dem Referendum noch härter und noch verschlossener“, betonte Ussow gegenüber Naviny.by.

Von all dem mal ganz abgesehen könnte es ein Referendum auf ein Tor werden ohne aktive Spielbeteiligung der gegnerischen Mannschaft. Und dann kann Lukaschenko damit trumpfen, um Wladimir Putin endgültig zu überzeugen: Alles Okay, nicht nur beim Eishockey, die Mauer steht, niemand und nichts in Belarus muss ausgewechselt werden.

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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