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„Hier gibt es keine Viren“

Wodka und Banja - diese Heilmittel empfiehlt der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko den Bürgern gegen Covid-19. „Hier gibt es keine Viren“, sagte Lukaschenko in die Kamera bei einem Eishockeyspiel. Eishockey- und Fußballspiele finden in Belarus weiterhin statt, auch sonst werden kaum offizielle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Experten wie Ryhor Astapenia von Chatham House sehen dahinter vor allem wirtschaftliche Gründe: Belarus könne durch eine Abriegelung in die Rezession schlittern. Dem Land würden aber die Ressourcen fehlen, dies wieder aufzufangen.

Wie die Bürger mit der offiziellen Corona-Politik umgehen und wie stark ihr Verhalten dabei von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat geprägt ist, das schildert Denis Lawnikewitsch, Minsk-Korrespondent von The New Times.

Quelle The New Times

„Sehen Sie hier Viren? Hier gibt es keine Viren.“ Alexander Lukaschenko beim Eishockeyspiel am 4. April 2020 / Foto © president.gov.by

In Belarus wurden am Sonntag, den 5. April, 502 Fälle von Covid-19 registriert, 8 Menschen sind gestorben, 52 wieder genesen. Doch das sind nur die offiziellen Zahlen, denen in der Republik längst niemand mehr traut. Die Staatsmedien versuchen, so wenig wie möglich über die Epidemie zu berichten; die unabhängigen Medien sind mutiger, halten sich aus Angst vor Repressionen aber ebenfalls zurück. Dafür sind die Telegram-Kanäle voll von Fotos aus überfüllten Krankenhäusern und verzweifelten Hilferufen – sowohl von Ärzten als auch von Patienten.

Am 1. April sagte Litauens Präsident Gitanas Nausėda gegenüber der Presse: „Wir können den Informationen, die wir offiziell aus Belarus bekommen, nicht trauen, denn ich finde, der belarussische Staatschef legt bei seiner Beurteilung der Lage eine gewisse Prahlerei an den Tag. Es ist durchaus möglich, dass die tatsächlichen Zahlen weit schlimmer sind, denn wir wissen von Infektionsherden im Land und von Todesfällen.“

Die litauischen Behörden machten deutlich, dass nach dem Ende der europäischen Quarantänemaßnahmen die EU-Binnengrenzen wieder geöffnet würden – die Grenzen zu Belarus aber könnten dann möglicherweise geschlossen bleiben. Denn niemand kenne das reale Ausmaß der Epidemie im Land. Der belarussische Präsident antwortete in gewohnter Machomanier: „Wenn es irgendwo ein Feuer zu löschen gibt, dann werden wir es löschen. Und zwar viel effektiver als der litauische Präsident.“

Belarus ist eines der wenigen europäischen Länder, die sich lange gegen jegliche Quarantänemaßnahmen gesperrt hatten. Mehr noch, in den ersten Wochen der Epidemie warnte Lukaschenko [angesichts der Anti-Corona-Maßnahmen – dek] vor einer „Psychose“ und empfahl, sich mit Wodka, Saunagängen und Feldarbeit zu kurieren. Später wurde die Liste der „Heilmittel“ um Eishockey, Spaziergänge an der frischen Luft und Butter ergänzt. Gesundheitsminister Wladimir Karanik wiederum riet den Bürgern, das Coronavirus mit „Frühlingsgefühlen und positiven Emotionen“ zu bekämpfen.

Eishockey, Spaziergänge an der frischen Luft und Butter

Als einzige Maßnahme ordnete die belarussische Regierung an, dass sich Rückkehrer aus den vom Coronavirus betroffenen Ländern vierzehn Tage lang zu Hause selbst isolieren sollen.

Eine Quarantäne wurde nicht verhängt. Der Unterricht an den Schulen und Hochschulen ging bis Anfang April weiter. Dabei waren in vielen Klassen nur zwei oder drei Schüler anwesend, der Rest blieb zu Hause. Die Eltern kommunizierten über den Messengerdienst Viber und sprachen sich ab – mit dem Ergebnis, dass der Schulleitung manchmal Anträge auf Heimunterricht von den Eltern einer ganzen Klasse vorgelegt wurden.

Erst Ende der letzten Woche kündigte Lukaschenko an, dass er den Schülern eine Woche Ferien geben werde. Das heißt, immer noch keine Quarantäne, nur verlängerte Frühjahrsferien.

Schwerer haben es die Studierenden: Viele Hochschulen drohen damit, das Fernbleiben vom Unterricht als „Sabotage“ zu werten. Manche Institute sind allerdings aus einem anderen Grund leer: Die Studierenden wurden massenweise ins Krankenhaus geschickt oder sind in ihren Wohnheimen eingesperrt, weil sie Kontakt zu einem Corona-Infizierten hatten.

Massenveranstaltungen werden hingegen nicht abgesagt. Die Vorbereitungen zur Siegesparade am 9. Mai sind im Gange. Am 19. März startete in Belarus die Fußballmeisterschaft, die Stadien sind für die Fans geöffnet.

Am 14. und 28. März wurden im ganzen Land subbotniki durchgeführt. Die Vorbereitungen zum Musikfestival Slawjanski Basar laufen weiter. Kinos, Einkaufszentren, Cafés und Restaurants haben geöffnet. Die meisten Servicekräfte arbeiten ohne Mundschutz und Handschuhe. Inoffiziell geben sie zu, dass ihnen „dringend geraten“ worden sei, keinen Mundschutz zu tragen, um „keine Panik in der Bevölkerung auszulösen“ (in Turkmenistan kann man für das Tragen eines Mundschutzes sogar verhaftet werden).

Ärzte unterzeichnen Geheimhaltungsvereinbarungen

Ab dem 1. März wurde in Belarus erstmals das Bestattungsgeld gekürzt – um ganze 50 Euro, eine erhebliche Summe für das Land. Sofort machte das Gerücht die Runde, die Regierung würde sich auf ein Massensterben einstellen, besonders unter der älteren Bevölkerung, für die das Virus am gefährlichsten ist.

Gleichzeitig werden Ärzte massenhaft gezwungen, „Geheimhaltungsvereinbarungen“ zu unterschreiben; der [belarussische Nachrichtendienst – dek] KGB und andere Sicherheitsorgane drohen mit Strafen, sollten Informationen über Corona-Patienten nach außen gelangen. Darüber reden wollen die Ärzte nur unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben.

Am 18. März starb in Witebsk eine Frau und wurde umgehend und ohne Aufbahrung im geschlossenen Sarg beigesetzt, an der Beerdigung durften keine Gäste teilnehmen. Einen Tag später gaben ihr Mann, ihre Schwiegertochter und ihre Nachbarin ein Interview, in dem sie mit unabhängigen Journalisten über das Coronavirus sprachen, das man bei ihr gefunden hatte. Am 21. März wies Lukaschenko den KGB-Chef Waleri Wakultschik an, „hart gegen Übeltäter vorzugehen, die Falschnachrichten über das Virus verbreiten“.

Pressemitteilungen erinnern an Mathe-Aufgaben

Das belarussische Gesundheitsministerium gibt keine vollständige Statistik der Covid-19-Erkrankungen nach Regionen und Städten heraus. Konkrete Zahlen sucht man auf der offiziellen Seite der Behörde vergebens. Über den Telegram-Kanal des Ministeriums werden Daten mit einer Verzögerung von zwei bis drei Tagen veröffentlicht. Die Pressemitteilungen des Gesundheitsministeriums erinnern dabei an Mathematik-Aufgaben, eine genaue Zahl der Erkrankten wird nicht genannt.

Während es von offizieller Seite heißt, Schutzausrüstung sei im Überfluss vorhanden, herrscht vor Ort katastrophaler Mangel. Diagnostiziert werden akute Atemwegserkrankungen, Lungenentzündungen, Bronchitis und so weiter. Die Krankenhäuser in Minsk und Witebsk sind mittlerweile voll von Lungenpatienten – es sind um ein Vielfaches mehr als sonst. Jetzt werden Krankenhäuser in den Minsker Satellitenstädten für die Covid-Kranken geräumt.

„Konnten Sie Witebsk verlassen?“

Am schwersten betroffen ist die Stadt Witebsk und Umgebung. Die Region wurde sogar für die Polizei gesperrt: Polizeibeamte aus der Region dürfen nicht ausreisen, alle anderen nicht einreisen. Im Internet berichten Ärzte aus Witebsk, dass die Lage außer Kontrolle gerate.

„99 Prozent derjenigen, die jetzt ins Krankenhaus eingeliefert werden, sind Patienten mit Lungenentzündungen und hohem Fieber. Wir nehmen kaum noch andere auf, sogar die Gynäkologen sind bei uns jetzt Lungenärzte“, sagte eine Ärztin gegenüber der New Times. „Die Krankenhäuser sind überfüllt, die Menschen liegen in den Fluren. Alle Ärzte sprechen untereinander vom Coronavirus, doch das örtliche Gesundheitsministerium will die Statistik nicht ruinieren. Aber diese Lungenentzündung unterscheidet sich deutlich von den bisherigen!“

Witebsk wurde zu einem der Epizentren der Epidemie, nachdem eine größere Reisegruppe aus Italien zurückgekehrt war.

Unterdessen musste selbst Lukaschenko eingestehen, dass die Situation in Witebsk besonders schwierig ist und dort bereits mehr als zehn Ärzte an Covid-19 erkrankt sind. Mehrfach tauchte im Internet das Gerücht auf, die Stadt selbst sei abgeriegelt, bislang konnte es nicht bestätigt werden. In den sozialen Netzwerken liest man dennoch weiterhin Fragen wie: „Konnten Sie Witebsk verlassen?“

Flut von Lungenkranken

Inoffiziell werden nun im ganzen Land massenweise Patienten aus Psychiatrien und anderen Fachkliniken sowie Fachabteilungen in Krankenhäusern entlassen. Die Ärzte sagen, man bereite sich auf eine Flut von Lungenkranken vor. Sogar die Präsidenten-Datscha Krupenino bei Witebsk sei entsprechend umfunktioniert worden.

Am 29. März ordnete Lukaschenko an, bis zum 10. April einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln. Er betraute mit der Aufgabe seine rechte Hand Alexander Kosinez (einen ausgebildeten Mediziner) und versprach ihm einen Orden für die Entwicklung des Impfstoffs. Noch am selben Tag wurden inoffiziell alle Clubs und Diskotheken in Minsk geschlossen. Und am 30. März wurde das Verbot, das eigene Gebiet zu verlassen für die Polizei auf das ganze Land ausgeweitet.

Unterdessen ist der Corona-Ausbruch in Belarus von dem Ausbruch einer anderen unangenehmen Seuche begleitet – der Schweineinfluenza [im Original swinoj gripp, wörtl. Schweinegrippe; der Autor verlinkt aber in dem Absatz auf diesen Telegram-Post, in dem von H1N1, der für den Menschen ungefährlichen Schweineinfluenza die Rede ist – dek]. Die Straßen in Minsk und anderen großen Städten werden desinfiziert. Privatunternehmen dürfen ihren Angestellten nicht mehr kündigen, die Supermärkte ihre Preise bis zum 30. Juni nicht erhöhen. Und zur wichtigsten Informationsquelle für die Belarussen ist nun endgültig Telegram avanciert.
 

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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