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Warum die ukrainische Politik Tichanowskaja ignoriert

Die belarussische Opposition um Swetlana Tichanowskaja genießt eigentlich internationale Anerkennung: Die Politikerin hat sich im Juli 2021 mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus getroffen, auch zahlreiche europäische Politiker haben die Oppositionelle empfangen. Nur die ukrainische Politik ignoriert demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus. 

Zwar sind belarus­si­sche Truppen bislang nicht di­rekt am rus­si­schen Krieg gegen die Ukraine be­tei­ligt, dennoch leistet das Regime Lukaschenko dem Kreml bedeutende Schüt­zen­hil­fe: Am 24. Februar 2022 wurde Belarus zu einem Durchgangshof für den russischen Überfall auf die Ukraine. Lukaschenko steht fest an der Seite des Kreml und unterstützt die russische Aggression mit Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee. 

Wäre es da für die ukrainische Führung nicht opportun, sich mit Tichanowskaja zu verbünden und gemeinsam mit der demokratischen Opposition das Regime Lukaschenko zu schwächen? 

Nicht so einfach, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch – und analysiert auf Reform.by denkbare Motive für die Kyjiwer Funkstille.

Quelle Reformation

Waleri Kowalewski, der Beauftragte für Außenpolitik im belarussischen Vereinigten Übergangskabinett, hat zwar indirekt, aber doch bestätigt: Die Ukraine stelle sich gegen eine Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und Vertretern der belarussischen Öffentlichkeit an internationalen Veranstaltungen. Was für eine Strategie verfolgt die ukrainische Führung mit einer solchen Politik?

Wie Waleri Kowalewski auf dem TV-Sender Belsat sagte, wurde der Ablauf des Festakts anlässlich des 160. Jahrestags des Januaraufstands von Kastus Kalinouski in Warschau tatsächlich verändert: „Während der Vorbereitungen auf diese Veranstaltung erreichte uns die Information, dass es Einwände gegen Swetlana Tichanowskajas Auftritt sowie gegen die belarussische Flagge und den belarussischen Kranz gebe. Ganz offensichtlich wurde der ursprünglich geplante Ablauf verändert“, berichtete Kowalewski. 
Dabei ging Kowalewski nicht ins Detail, wer genau sich gegen eine vollwertige Teilnahme der belarussischen Demokraten an dieser Jubiläumsfeier ausgesprochen hatte. Will man darauf die Antwort wissen, so genügt es, sich an Selenskys Ansprache zu erinnern, die bei der Zeremonie verlesen wurde. Der ukrainische Präsident sprach von vereinten Völkern im Kampf gegen den russischen Imperialismus. Doch die Belarussen wurden nicht erwähnt. Das ist natürlich kein Zufall, sondern bewusste Politik der ukrainischen Regierung. 

Ukraine blockiert konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft 

Die Feierlichkeiten zum 160-jährigen Jubiläum des Januaraufstands und Kowalewskis Kommentar sind nicht die einzige Gelegenheit, sich die belarussisch-ukrainischen Beziehungen vor Augen zu führen. Mehrere nicht namentlich genannte europäische Diplomaten haben Nasha Niva erzählt, die Ukraine blockiere konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja, aber auch von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft an gemeinsamen Veranstaltungen mit europäischen Ländern. Es handelt sich also nicht um einen Einzelfall, sondern um eine Strategie der ukrainischen Führung. 

Olexander Mereshko, Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit der Werchowna Rada und Mitglied der Fraktion Sluha narodu, dementiert das: „Ich glaube nicht, dass die Ukraine Tichanowskajas Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen gezielt verhindert. Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls. Für die Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen braucht man einen besonderen Status. Und es ist sehr ungewöhnlich, dass andere Personen als Repräsentanten von Staaten dabei sind“, meint er.

 Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls

Diese Erklärung überzeugt jedoch nicht. Im Juli 2021 hat das litauische Außenministerium die Demokratische Vertretung Belarus anerkannt und Tichanowskajas in Vilnius tätigem Team einen offiziellen Status verliehen. Das diplomatische Protokoll hindert die belarussischen demokratischen Kräfte nicht an Treffen mit US-Präsident Joe Biden und auch nicht an Terminen mit den höchsten Führungsriegen von Deutschland und Polen. Einzig das offizielle Kyjiw fühlt sich gestört und ignoriert schon lange demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus. 

Im ukrainischen Establishment bestehen heute in Bezug auf unser Land unterschiedliche Strömungen. Manche Politiker und Experten, etwa Alexander [sic!) Arestowytsch, sind der Meinung, Swetlana Tichanowskaja sei „die gesetzlich gewählte Präsidentin von Belarus“, und die in der Ukraine vorherrschende Haltung zur „Belarus-Frage“ füge sich in eine „Reihe sehr schwerer Fehler“. Manche Abgeordnete der Werchowna Rada, wie der bereits erwähnte Olexander Mereshko, finden, das legitime belarussische Organ, mit dem Kyjiw einen Dialog führen könnte, wäre am ehesten das Kalinouski-Regiment, das in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert ist. Tichanowskajas Position zu Russland und Putin sei „zu unklar“. 

Die ukrainische Regierung mit Präsident Selensky an der Spitze lehnt den Kontakt zu Tichanowskaja genauso ab wie zu allen anderen Vertretern der belarussischen demokratischen Bewegung, die „Kalinouzy“ [Soldaten des Kalinouski-Regiments – dek] eingeschlossen. Zumindest auf offiziellem Parkett.
Gleichzeitig setzt die ukrainische Regierung allem Anschein nach bis zu einem gewissen Grad den Dialog mit dem offiziellen Minsk fort. Das lässt sich aus Alexander Lukaschenkos Äußerung ableiten, die Ukraine habe ihm die Schließung eines Nichtangriffspakts vorgeschlagen. Weder Präsident Selensky noch das ukrainische Außenministerium haben diese Erklärung bestätigt, aber auch nicht dementiert. 

Will die ukrainische Regierung vermeiden, Lukaschenko zum Kriegseintritt zu provozieren?

Möglicherweise ist einer der Gründe dafür, Tichanowskaja und das Übergangskabinett zu ignorieren, dass die ukrainische Regierung Lukaschenko nicht zum Kriegseintritt provozieren will. Gleichzeitig gibt es aber das Kalinouski-Regiment, das das offizielle Minsk bestimmt nicht weniger, wenn nicht sogar noch mehr ärgert als alle demokratischen Kräfte zusammen. 

Worin kann denn nun die Strategie von Selensky und seinem Team bestehen? Ist die Besänftigung des offiziellen Minsk wirklich das Hauptproblem?  

Eine Reihe belarussischer Politologen findet diese Position der ukrainischen Führungsriege kurzsichtig, weil ohne unabhängiges Belarus keine Stabilisierung der Region möglich sei. Die Botschaft ist klar. Allerdings würde das Ende des Kriegs und auch ein Sieg der Ukraine nicht unbedingt bedeuten, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen. Ein definitiver Sieg für die Ukraine wäre eine Befreiung der von Russland okkupierten Gebiete. Weiterzugehen, in die Russische Föderation oder gar in Belarus einzumarschieren, Moskau oder Minsk zu stürmen, steht für die ukrainische Staatsmacht nicht zur Debatte. 
Und deswegen sollte Kyjiw ein Szenario nicht ausschließen, in dem die Ukraine auch in Zukunft mit Putin und Lukaschenko als Nachbarn wird leben müssen, selbst wenn ihre Systeme vielleicht hinter einem „eisernen Vorhang“ verschwinden. Der übrigens nach Kriegsende womöglich gar nicht mehr so undurchlässig sein wird, einen Teil der wirtschaftlichen Sanktionen könnte der Westen dann durchaus aufheben. Selbst wenn diese Regime genauso repressiv, genauso unmenschlich bleiben – das sind eure Probleme, kann es aus Kyjiw dann heißen, und es ist nicht Sache der Ukrainer, sie zu lösen. Zudem wird das Minsker Regime, sollte durch eine Niederlage Moskaus die Unterstützung aus Russland wegfallen, gezwungen sein, zumindest kosmetische Änderungen vorzunehmen. 

Das Kriegsende und auch ein Sieg der Ukraine bedeutet nicht unbedingt, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen

Und weil Kyjiw seine Beziehung zu Lukaschenko also sowieso auf die eine oder andere Art wird pflegen müssen – wozu sollten sie es sich schon heute endgültig mit ihm verscherzen? Zumal er Belarus ja irgendwie doch unter Kontrolle hat. Und nicht auszuschließen ist, dass das auch weiterhin so bleibt.

Wenn die Belarussen und die Ukrainer von der Besatzung ihrer Länder durch Russland sprechen, dann haben sie von dieser Okkupation unterschiedliche Vorstellungen. Für die Belarussen ist Lukaschenkos Regime ein Teil des russischen Okkupationskontingents. In den Augen der Ukrainer ist das belarussische Regime einfach nur in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, weil auf seinem Territorium russische Truppen stationiert sind. Folgt man dieser Logik, so wird Lukaschenko, sobald die Russen weg sind, wieder zum politischen Subjekt, mit dem man verhandeln kann.
Die ukrainische Interpretation dieses Sachverhalts ist auch für Lukaschenko selbst äußerst günstig, weil es ihn weitgehend aus der Verantwortung für die Beteiligung an der Aggression zieht. Dasselbe Narrativ promoten auch die Abgesandten des offiziellen Minsk in ihren raren Kontakten zum Westen. 

Ukraine will das Problem lösen, wenn die Sieger feststehen und Dispositionen klar sind

Wie es aussieht, beabsichtigt die ukrainische Regierung, die Lösung des Belarus-Problems auf „nach dem Krieg“ zu verschieben, wenn dann die Sieger feststehen und die endgültige Disposition klar ist. Und wenn klar ist, wie und zu wem man seine Beziehungen ausbauen muss. Zumindest solange Belarus nicht in diesen großangelegten Krieg eintritt, hat es Kyjiw offenbar nicht eilig, sich für eine der beiden Seiten im innerbelarussischen Konflikt zu entscheiden. In der Hoffnung, sich nach dem Sieg jenen zuzuwenden, die sich als stärker und einflussreicher erweisen. Im Grunde ist es simpel – wenn Lukaschenkos Regime untergeht, dann wird das Oberhaupt des neuen Belarus, egal ob Tichanowskaja oder jemand anders, selbst daran interessiert sein, ein Vertrauensverhältnis zur siegreichen Ukraine aufzubauen. Wenn Lukaschenko nicht untergeht – tja, dann muss man eben auf ihn oder seinen Nachfolger zugehen. Doch sogar in diesem Fall wird das für die Ukraine, so sie denn siegt und nicht verliert, viel einfacher sein als heute.  
Ob diese Strategie vertretbar ist, ist eine andere Frage. Auch, welchen Einfluss diese Haltung der ukrainischen Regierung auf die belarussische politische Agenda hat. Doch die demonstrative Zurückweisung der belarussischen demokratischen Kräfte durch die ukrainische Regierung drängt einen dazu, genau diese Fragen durchzuspielen. 

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Die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine seit 1991

Belarus und die Ukraine pflegten lange gute, weitgehend konfliktfreie Kontakte. Nicht einmal die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim konnte das nachhaltig eintrüben – obwohl der belarussische Machthaber Lukaschenko an der Seite des Kreml blieb. Doch seither ist viel passiert: Die russische Invasion der Ukraine hat die Beziehungen zwischen Minsk und Kyjiw nun in ihren Grundfesten erschüttert.

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Die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine seit 1991

Belarus wurde am 24. Februar 2022 zum Ausgangspunkt für die russische Invasion der Ukraine. Sowohl in seinen Reden als auch mit technisch-logistischer Unterstützung stand der belarussische Staatschef Lukaschenka an der Seite des Kreml. Das ermöglichte russischen Truppen, die ukrainische Hauptstadt Kyjiw direkt anzugreifen. Für Lukaschenka bedeutete dies einen Bruch mit seiner langjährigen Ukraine-Politik. Denn bis dahin unterhielt er gute Beziehungen zu allen sechs Präsi­denten, die seit 1991 an der Spitze der Ukraine standen. Dem lag eine pragmatische Partnerschaft zugrunde, die vor allem auf wirtschaftlichen Interessen fußte. 

Dabei gab es genug Grund für mögliche Spannungen: Die Revolutionen, die es in der Ukraine gab, lehnte Lukaschenka ab. Russlands Annexion der Krim – hat er lange nicht anerkannt, aber auch nicht verurteilt. Doch gerade dieses Lavieren zwischen Kyjiw und Moskau befähigte Belarus schließlich, während des Kriegs im Donbas eine Vermittlerrolle zu übernehmen. 

Was Lukaschenka auch antrieb, sich mit Kyjiw nicht auseinanderzudividieren, war der Wunsch, sich im Angesicht der zunehmenden Abhängigkeit von Russland Türen offenzuhalten. Nach der gefälschten belarussischen Präsidentschaftswahl im August 2020 erhielten die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine freilich erste Risse. Der russische Angriffskrieg hat das Verhältnis beider Länder nun in seinen Grundfesten erschüttert.

Kurz nach Ende des Kalten Krieges hatten alle drei Länder – Russland, die Ukraine und Belarus – am 6. Dezember 1991 noch einhellig die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet und damit die Sowjetunion begraben. Mit diesem historischen Schritt verbanden die Führungen von Belarus und der Ukraine allerdings ganz unterschiedliche Erwartungen. 

So stellte die GUS für den ersten ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk lediglich eine zivile Form der Scheidung von der Sowjetunion dar. Dementsprechend wurde die Ukraine nie vollwertiges Mitglied der GUS und beteiligte sich nur an wirtschaftlichen Kooperationsformaten. Bereits Krawtschuks Nachfolger Leonid Kutschma erhob die europäische Integration zur außenpolitischen Leitlinie. Belarus sah hingegen in der GUS zunächst einen Ersatz für die Sowjetunion. Nach dem Scheitern dieser Hoffnung verfolgte der belarussische Staatschef Lukaschenka den Weg einer engen Integration mit Russland. Dieser Weg mündete 1999 in den Plan zur Bildung eines gemeinsamen Unionsstaats.1 

Pragmatische Kooperation

Die unterschiedlichen außenpolitischen Strategien belasteten die bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine jedoch nicht. Vielmehr gestalteten sich diese zunächst weitgehend konfliktfrei. Den einzigen Streitpunkt bildete das 1997 geschlossene zwischenstaatliche Grenzabkommen. Denn Belarus weigerte sich, es zu ratifizieren, solange die reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen aus den letzten Jahren der Sowjetunion nicht beglichen seien.2 

Mitte der Nullerjahre nahm die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen Belarus und der Ukraine deutlich zu. Das hing von belarussischer Seite wesentlich damit zusammen, dass der russische Präsident Wladimir Putin von Lukaschenka verlangte, als Gegenleistung für gewährte Energiesubventionen auf einige Souveränitätsrechte für Belarus, wie eine eigene Währung, zu verzichten. Lukaschenka suchte daher die ukrainische Unterstützung, um sich aus seiner Isolation als autokratischer Herrscher in Europa zu befreien. Gleichzeitig gewann der bilaterale Handel für beide Seiten an Bedeutung. 

Revolution in der Ukraine, Repression in Belarus

Die Annäherung beider Länder wurde weder dadurch wesentlich beeinträchtigt, dass Lukaschenka die Orangene Revolution von 2004 ablehnte, noch durch die Parteinahme des neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko für die belarussische Opposition, nach den gescheiterten Protesten gegen die gefälschte belarussische Präsidentschaftswahl von 2006. Bereits in Juschtschenkos erstem Amtsjahr gab es Regierungskontakte auf höchster Ebene, bilaterale Treffen der Präsidenten folgten 2008 und 2009. Das offizielle Kyjiw bot sich dabei als Ausrichtungsort für einen Runden Tisch zwischen den belarussischen Regierungs- und Oppositionslagern an. Gleichzeitig beteiligte sich die Ukraine nicht an den seit 2004 verhängten EU-Sanktionen gegen Lukaschenka. Stattdessen positionierte sich Juschtschenko gegenüber der EU als Türöffner für Belarus.3

Obwohl der vierte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch einen russlandfreundlicheren Kurs verfolgte, ergab sich nach der belarussischen Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 ein ähnlich ambivalentes Bild: Die Ukraine schloss sich den negativen Wahleinschätzungen von EU und OSZE an, jedoch nicht den neu verhängten EU-Sanktionen. Kyjiw plädierte vielmehr für die weitere Beteiligung von Belarus an der EU-Initiative „Östliche Partnerschaft“. Allerdings verzichtete die ukrainische Führung darauf, Lukaschenka im Jahr darauf zur gemeinsam mit der EU organisierten Internationalen Konferenz anlässlich des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe nach Kyjiw einzuladen. Zudem belasteten diplomatische Skandale und die Verhaftung ukrainischer Aktivist*innen in Minsk4 die bilateralen Beziehungen.

Das zentrale Interesse, das beide Seiten aber weiterhin aneinanderband und an dem sich beide Seiten auch orientierten, war die wirtschaftliche Kooperation: 2012 belief sich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten bereits auf 6,2 Milliarden US-Dollar. Dies bedeutete eine Vervierfachung gegenüber 2008, wobei sich der belarussische Handelsüberschuss auf 2,12 Milliarden US-Dollar belief. Nach Russland war die Ukraine damit der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus, wobei die belarussische Handelsbilanz gegenüber Russland ein Minus von etwa 6 Milliarden US-Dollar aufwies. Die Kooperation mit der Ukraine war für Lukaschenka somit von zentraler Bedeutung, um die Abhängigkeit des Landes von Russland zu verringern. 

Lukaschenkas Unterstützung der pro-europäischen Ukraine

Im Juni 2013 beseitigten Belarus und die Ukraine mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden während eines Lukaschenka-Besuchs in Kyjiw schließlich die letzte Hürde für das Inkrafttreten des bilateralen Grenzabkommens aus dem Jahre 1997.5 Für die Ukraine war dies ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur geplanten Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU. Belarus konnte im Gegenzug seine wirtschaftliche Handelsposition weiter verbessern.

Als Janukowitsch im November 2013 das Ziel der EU-Integration zugunsten eines Abkommens mit Russland aufgab, verurteilte Lukaschenka zwar die Proteste des Euromaidan, die sich daran entzündeten. Für die Revolution machte er jedoch vor allem die Schwäche und die Flucht Janukowitschs verantwortlich. Im Unterschied zum Kreml akzeptierte Lukaschenka den politischen Richtungswechsel in Kyjiw und nahm im Juni 2014 an der Inauguration des neu gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko teil. 

Gleichzeitig erklärte Lukaschenka, dass die Krim de facto zu Russland gehöre, auch wenn dies nicht de jure gelte.6 Bei anderen Gelegenheiten betonte er, Belarus werde Russland stets gegen den Westen unterstützen. Dieses Lavieren ermöglichte es Lukaschenka, für beide Seiten eine unterstützende Positionierung einzunehmen und Minsk zum Ausrichtungsort für die internationalen Vermittlungsversuche und Verhandlungen zur Regulierung des Donbas-Krieges zu machen. Fortan war Lukaschenka daher Gastgeber für die Gespräche des Normandie-Formats. Auf diese Weise konnte er seine Position gegenüber dem Kreml stärken, der den in Belarus längst schon ungeliebten Unionsstaat vorantreiben wollte. Gleichzeitig gelang ihm damit das Kunststück, die Beziehungen zur EU zu normalisieren.7 

Die politische Krise in Belarus von August 2020 als Wendepunkt

Auch zum sechsten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky unterhielt Lukaschenka zunächst gute Beziehungen. Daher war es für ihn ein Schock, als die ukrainische Führung die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 nicht anerkannte und sich im Herbst 2020 erstmals sogar den neuen EU-Sanktionen anschloss. Allerdings beschränkte sich dieses erste Sanktionspaket auf Einreiseverbote und Vermögenssperren. So weit, auch den umfassenden Wirtschaftssanktionen zu folgen, die von der EU nach der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs im Mai 2021 in Minsk verhängt wurden, wollte die Ukraine hingegen nicht gehen. Ebenso vermied Selensky im Unterschied zu den meisten westlichen Staatschefs ein Treffen mit Swjatlana Zichanouskaja, der belarussischen Oppositionsführerin im Exil. Damit signalisierte Selensky, dass er den offiziellen Kommunikationskanal weiter offen zu halten gedachte. 
Gleichzeitig war die Ukraine bis zur russischen Invasion des ganzen Landes jedoch ein bedeutender Zufluchtsort für zehntausende Belaruss*innen, die vor den staatlichen Repressionen in ihrer Heimat flohen. Hinzu kommt, dass die für beide Länder zentrale wirtschaftliche Zusammenarbeit bereits infolge der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie rückläufig war.

Die gestiegene Abhängigkeit des international isolierten Lukaschenkas gegenüber Russland und seine zunehmend aggressive antiwestliche Rhetorik wurden in Kyjiw mit wachsender Sorge gesehen. Dennoch sah man es dort nicht als eindeutiges Kriegszeichen, als Ende 2021 ein gemeinsames Militärmanöver mit Russland für Februar 2022 an der belarussischen Grenze zur Ukraine angekündigt wurde. Denn angesichts der bisherigen Länderbeziehungen, die bereits einiges auszuhalten hatten, und mit Blick auf frühere Äußerungen Lukaschenkas, dass die Belarussen nie mit einem Panzer, sondern höchstens mit einem Traktor in die Ukraine fahren würden, fiel es den Ukrainern bis zum 24. Februar schwer sich vorzustellen, dass ihr Land von Belarus aus angegriffen werden könnte.8 

Minimale Kontakte im Krieg 

Der Krieg hat die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine nicht nur auf staatlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene tiefgreifend verändert. Eine erneute belarussische Vermittlungsrolle lehnte die ukrainische Führung sehr schnell ab, da sie Belarus als faktische Kriegspartei betrachtete. Kurz nach Beginn der Invasion kam es zwar zu zwei (erfolglosen) Verhandlungsrunden zwischen Delegationen aus Russland und der Ukraine, die im belarussischen Grenzgebiet abgehalten wurden. In der Folgezeit kamen jedoch andere Staaten in die Vermittlerrolle, insbesondere die Türkei. 
Dass die russische Armee damit gescheitert ist, die Hauptstadt Kyjiw zu erobern, hat etwas Druck aus den angespannten bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine genommen. So beließ Selensky seinen Botschafter in Minsk. Ebenso verzichtete die ukrainische Führung zunächst auf weitere Sanktionen. Dies änderte sich, als Belarus und Russland im Oktober 2022 die Bildung einer gemeinsamen Militäreinheit ankündigten - und damit die Gefahr der direkten Beteiligung belarussischer Soldaten am Krieg stieg. Der ukrainische Sicherheitsrat reagierte hierauf mit neuen Sanktionen und beschloss erstmals auch Wirtschaftssanktionen gegen belarussische Unternehmen. Lukaschenka befindet sich allerdings nach wie vor nicht auf der ukrainischen Sanktionsliste.

Gleichzeitig blieb das offizielle Kyjiw weiterhin auf Distanz zu den von Swjatlana Zichanouskaja koordinierten belarussischen Oppositionskräften im Exil. Die Eröffnung eines eigenen Büros in Kyjiw durch Zichanouskaja im Mai 2022 wurde in der Ukraine skeptisch als PR-Maßnahme betrachtet9 – zumal in der Ukraine unvergessen ist, wie sehr Zichanouskaja sich 2020 um die Unterstützung des Kremls für die belarussische Opposition bemüht hatte. Auch insgesamt stieg das Misstrauen: Seit Kriegsbeginn waren etliche Belaruss*innen in der Ukraine mit Einreiseverboten, Kontensperrungen, verweigerten Aufenthaltsgenehmigungen und anderen Restriktionen konfrontiert.
Allerdings würdigte die ukrainische Führung Formen des aktiven Widerstands, darunter Sabotageakte gegen Eisenbahnlinien, mit denen auf belarussischer Seite versucht wird, den Nachschub für die russische Armee zu erschweren. Ebenso begrüßte man in der Ukraine die Bereitschaft von Freiwilligen, gegen Russland an die Front zu gehen, darunter beim Kalinouski-Regiment. Gleichwohl fällt der belarussische Widerstand aus ukrainischer Sicht insgesamt zu schwach aus - auch wenn wahrgenommen wird, dass es in der belarussischen Gesellschaft im Unterschied zu russischen nur wenige Kriegsbefürworter gibt.

Die Wiederannäherung beider Länder wird nach diesem Krieg viel Zeit in Anspruch nehmen – und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob Lukaschenka die rote Linie womöglich doch noch überschreitet, und eigene belarussische Truppen in den Krieg schickt. 


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.Sahm, Astrid (2001): Integration, Kooperation oder Isolation? Die Ukraine und Belarus' im Vorfeld der EU-Osterweiterung, in: Osteuropa, 2001, S. 1391-1404 
2.Melyantsou, Dzianis/Kazakevich, Andrej (2008): Belarus' relations with Ukraine and Lithuania before and after the 2006 presidential elections, in: Lithuanian foreign policy review, 2008, 20, S. 47-78 
3.Siehe die Ukraine-Kapitel im Belarusian Yearbook 2011 und Belarusian Yearbook 2012 
4.So wurden mehrere Femen-Aktivistinnen verhaftet, die am ersten Jahrestag der Präsidentschaftswahl von 2010 in Minsk demonstrierten, vgl. Radio Liberty: Ukrainian Activists Allegedly Kidnapped, Terrorized In Belarus Found und vgl. Der Spiegel: Geheimdienst hat offenbar Demonstrantinnen entführt 
5.Die Ratifizierung des Abkommens durch Belarus war bereits 2009 während der Präsidentschaft Juschtschenkos erfolgt, nachdem dieser die von Belarus reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen in Höhe von 134 Mrd. US-Dollar anerkannt und getilgt hatte, vgl. Boguzkij, Oleg (2013): Belarus-Ukraine, Belarusian Yearbook 2013, S. 96-106 
6.vgl. Shraibman, Artyom: The Lukashenko Formula: Belarus’s Crimea Flip-Flops 
7.Sahm, Astrid (2014): Verhaltene Reaktionen in Belarus auf die Ukraine-Krise, in: SWP-Aktuell 46, Juni 2014 
8.vgl. Reform.by: Belarus' – Ukraina: Ot „priechat' na traktore“ do „jasno, na č'ej storone“ 
9.So wurde beispielsweise Valeri Kavaleuski, dem Repräsentanten von Zichanouskaja in der Ukraine, im August 2022 zwischenzeitlich die Einreise verweigert, vgl. Globsec: Policy Brief: Ukraine-Belarus Relations: Going Beyond the War; vgl. Nasha Niva: Valerija Kovalevskogo ne pustili v Ukrainu 
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