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„Geiseln verurteilt man nicht!“

Nach über 90 Minuten Befragung im staatlichen Sender ONT sagt Roman Protassewitsch einen Satz, dessen Botschaft viele Belarussen nur zu gut verstehen: „Und ich möchte nie wieder in die Politik verwickelt werden, oder in irgendwelche schmutzigen Spiele oder Streitigkeiten.“ Es ist ein Satz, den viele Belarussen in den vergangenen 26 Jahren verinnerlicht haben: sich nicht in die Politik einmischen. Denn, wenn sie es tun, wenn sie ihren Unmut gegenüber Alexander Lukaschenko auf die Straße tragen, wenn sie sich oppositionell betätigen, gibt es womöglich Probleme mit den Machthabern. 

Solche Probleme hat eben nun der 26-jährige Protassewitsch, der vor zehn Tagen auf spektakuläre Art und Weise zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega festgenommen wurde: Das Ryanair-Flugzeug, in dem er saß, wurde während eines Flugs von Athen nach Vilnius zu einer Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Vergangenen Donnerstag strahlte der Staatssender ONT besagtes Interview aus, in dem Senderchef Marat Markow Protassewitsch über seine Arbeit für den Telegram-Kanal Nexta, über die Opposition um Swetlana Tichanowskaja, über seine Zeit und Rolle beim „Asow“-Bataillon in der Ukraine und viele andere Themen sprechen lässt. 

„Heute haben wir die öffentliche Hinrichtung von Roman Protassewitsch erlebt“, kommentierte der Historiker Alexander Fridman das ausgestrahlte Gespräch, in dem der Interviewte nicht etwa seine Sicht auf die Dinge und seine Überzeugungen darlegt. Protassewitsch fungiert als Überbringer von althergebrachten Narrativen, alten Botschaften in neuem Gewand und ein paar gänzlich neuen Bonmots der Staatspropaganda. So sei die Opposition um Tichanowskaja und Pawel Latuschko in der Diaspora nur an Geld interessiert, der Westen und die EU würden die Opposition und so letztlich auch die Proteste finanzieren, zudem habe ein Teil der Opposition selbst die Notlandung mit Protassewitsch inszeniert, um die belarussische Führung zu diskreditieren und Sanktionen durch die internationale Staatenwelt zu provozieren. 

Das TV-Gespräch löste international vehemente Kritik aus. Auch auf belarussischer Seite wurden viele Stimmen laut – darunter die Eltern Protassewitschs –, die mutmaßten, dass das Interview unter Druck, möglicherweise unter Folter, entstanden sei. Der Menschenrechtler Sergej Ustinow analysierte dazu die Wunden an Protassewitschs Handgelenken und sein offensichtlich geschwollenes Gesicht und verglich dies mit den bekannten Foltermethoden des belarussischen KGB. Nikolaj Chalesin, Gründer des Belarus Free Theatres, urteilte, dass man Protassewitsch für seine Aussagen nicht schuldig sprechen dürfe und dass das Gespräch ein neuerlicher Beweis dafür sei, dass die Machthaber vor Gewalt, Niedertracht und Zynismus nicht halt machen: „In Belarus leben wir in einer Zeit, in der sich Beispiele für Schwäche, Verrat und Laster mit Beispielen für verzweifelten Mut, unglaubliche Stärke und überwältigende Liebe abwechseln. Dies sind die Zeichen des Krieges – der Wechsel von Hässlichkeit und Schönheit. Und es ist nicht an uns, über diejenigen zu urteilen, die nicht unsere Seite gewählt haben.“ Der Politologe Waleri Karbalewitsch kommentierte, dass viele Aussagen Protassewitschs vor allem an einen adressiert seien – nämlich an Lukaschenko selbst. Protassewitsch äußert dabei auch die Hoffnung, dass Lukaschenko ihn aufgrund seiner angeblichen Beteiligung am Krieg der Ukraine gegen die prorussischen Separatisten nicht an die Machthaber der Luhansker Volksrepublik ausliefere. Karbalewitsch schreibt: „Ein weinender Feind, der um Gnade und Nachsicht von Alexander Grigorjewitsch bittet, ist die politische Dividende, die alle negativen Folgen aufhebt: die Sperrung des Luftraums, Wirtschaftssanktionen und so weiter. Ein moralisch gebrochener Gegner ist Balsam für eine traumatisierte Seele.“

In dem Gespräch, das im Original über vier Stunden gedauert haben soll, nannte Protassewitsch auch einen Chat, über den bekannte Belarussen die Proteste im Sommer 2020 geplant und organisiert haben sollen. So fiel auch der Name des renommierten politischen Analysten Artyom Shraibman, der am Tag nach der Ausstrahlung der Sendung Belarus verließ und sich nun in der Ukraine befindet. In einem Post, den er über seinen Telegram-Kanal und über Facebook verbreitete, erklärte er seine Beweggründe für die hastige Flucht und auch seine Beteiligung an besagtem Chat.

Quelle Social Media

Was für eine Ironie. Am Morgen des 3. Juni erscheint im Medienprojekt Redakzija ein Beitrag, der mit meinen Worten endet, ich würde mich nicht direkt gefährdet fühlen und Belarus deswegen nicht verlassen. Und schon abends packe ich eilig meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg.

Ich finde es wichtig zu sagen warum. In dem Interview auf ONT hat Roman Protassewitsch gesagt, ich hätte beratend zur Seite gestanden in einem Chat, den man bezeichnen könnte als Koordinationszentrum der Revolution: Love Hata [dt. Liebeshütte].

Ich kann nur raten, warum und ob aus eigenem Willen – doch Roma hat übertrieben, was meine Beteiligung angeht. Ich war tatsächlich bis Ende Herbst 2020 in diesem Chat, der seinerzeit als einfacher Online-Treffpunkt für Blogger begonnen hatte. Aber mit zunehmendem Umfang der Proteste wurde dieses Thema zum zentralen Diskussionspunkt.

Mich hat interessiert, live zu beobachten, wie diejenigen miteinander kommunizieren, die ab August als Koordinatoren der belarussischen Revolution bezeichnet wurden. Diese Bezeichnung passt jedoch bei weitem nicht zu allen in diesem Chat, und die Besprechung der Details bevorstehender Aktionen geschah aus Sicherheitsgründen in Audiokonferenzen der Koordinatoren. Aus eben jenen Sicherheitsgründen habe ich an keiner dieser Konferenzen teilgenommen.

Doch es ging dabei natürlich nicht nur um Sicherheit. Entschuldigt den Pathos: Ich vertrete schon lange die Position, dass ein Analyst nicht Teilnehmer sein kann oder darf an den Prozessen, die er analysiert, genau wie ein Fußballkommentator bei einem Spiel nicht gleichzeitig Feldspieler sein kann. Viele kritisieren mich für diese Zurückhaltung, doch Politik ehrlich analysieren und gleichzeitig politisch aktiv sein, das könnte ich nicht.

Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht genau, ob die belarussischen Geheimdienste überhaupt ein auf Verhaftung abzielendes Interesse an mir hatten. Es gibt Gerüchte über die Vorbereitung eines Strafverfahrens, doch das lässt sich momentan schwer belegen. Paradoxerweise wussten die Silowiki über die Existenz dieses Chats, seine Themen und Teilnehmer mindestens seit Mitte Herbst. Ich wurde sogar schon im Dezember auf ONT in der Teilnehmerliste gezeigt, vor einem halben Jahr. Und nichts ist passiert.

Ich habe damals nicht das Land verlassen, weil mir bewusst war, dass man mir eigentlich nichts vorwerfen kann. Trotz der geleakten Screenshots aus dem Chat und obwohl die Geheimdienste sicherlich einen riesigen Fundus solcher Screenshots haben, wusste ich genau, dass da keine „Strippenzieherei“ von mir zu finden ist, weil es sie tatsächlich auch nicht gab. Höchstens, wenn man sie in Photoshop malt. Es gab von mir keinerlei Beratung jenseits einer grundlegenden Beschreibung dessen, wie ich die Lage im Land sehe, also das, was ich auch in Interviews und Artikeln sage.

Doch im heutigen Belarus ist selbst die Nichtbeteiligung an dem, was die Staatsmacht für ein Verbrechen hält, keine ausreichende Absicherung mehr. Im Fall tut.by, bei dem es formal um Steuern des Unternehmens geht, sitzt der politische Block der Redaktion ein, Leute, die vermutlich keinerlei Ahnung davon haben, wie viel Steuern gezahlt werden.   
In meinem Fall ist das genau die gleiche Situation. Allein die Tatsache, dass ich vor vielen Monaten in diesem Chat dabei war und jetzt die laute Äußerung von Protassewitsch, dazu ein Moderator, der in Bezug auf mich extra nachgefragt hat – das bedeutet den Übergang in eine ungemütliche Risikozone. Dieses Gefühl wurde stärker, als ich an eben jenem Abend draußen an meinem Hauseingang etwas bemerkte, das sehr nach Beschattung aussah. 

Ich weiß nicht, ob mir Verhaftung drohte. Sie strahlten Romans Interview aus, ohne mich vorher festzunehmen, obwohl ich mich nicht versteckt hatte. Möglicherweise wäre auch jetzt wieder alles ausgegangen wie vor einem halben Jahr, also folgenlos. Doch unter diesen Vorzeichen einfach weiterhin ruhig im Land zu leben und zu arbeiten, wäre schwierig gewesen. Daher musste ich die schwere Entscheidung treffen, zu gehen. Beide Alternativen – Untersuchungshaft oder tägliche Erwartung der Untersuchungshaft – wären sowohl für mich als auch für meine Nächsten schlimmer gewesen.
Im Grunde war’s das schon. Ich danke für die Aufmerksamkeit, für die Anteilnahme und für die vielen Angebote zu helfen. Meine Situation ist ungleich einfacher als die derer, die im Gefängnis sitzen oder auf die Entlassung ihrer Angehörigen warten müssen. Deswegen wäre es an meiner Stelle eine Sünde zu verzagen. Ich arbeite weiter, wie ich bisher gearbeitet habe. Ich werde mein Bestes geben, meine gewohnte Herangehensweise an Analysen beizubehalten, auch wenn man versucht, aus mir den Berater von irgendjemandem zu kneten. Ich habe niemanden beraten und habe es auch nicht vor. 
Dann bis bald in der Heimat. Alles geht vorüber.

PS: Groll gegen Protassewitsch gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Wir wissen nicht, welchen Keller in Luhansk und welches Schicksal für seine Freundin man ihm ausgemalt hat für den Fall, dass er das Interview ablehnt. Geiseln verurteilt man nicht. 

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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