Medien

Surrealismus à la Lukaschenko

Die Lage in Belarus spitzt sich stetig weiter zu: Mehr als 35.000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste im August 2020 festgenommen, rund 400 politische Gefangene sitzen derzeit in belarussischen Gefängnissen ein. Erst am Dienstag wurden sieben weitere Aktivisten der belarussischen Opposition zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Darunter auch Pawel Sewerinez, Co-Vorsitzender der oppositionellen und nichtregistrierten Christdemokratischen Partei, der für sieben Jahre ins Gefängnis muss.
Für internationales Aufsehen und harsche Kritik sorgte jedoch vor allem die erzwungene Flugzeuglandung einer Ryanair-Maschine in Minsk und die dabei erfolgte Festnahme des ehemaligen Nexta-Chefredakteurs Roman Protassewitsch. Die EU beschloss umgehend Sanktionen, unter anderem ein Landeverbot für belarussische Linien auf EU-Flughäfen. Am Mittwoch hat sich Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko nun erstmals zu den Vorwürfen geäußert. 
In seiner Rede sprach Lukaschenko von einem erneuten Kalten Krieg und warnte, Russland könne das nächste Land sein, gegen das der Westen vorgehe. So diskutieren Experten auch, an wen das Vorgehen Lukaschenkos gerichtet ist: Dient der Fall nur als abschreckendes Beispiel nach innen oder auch als Signal an Russland, dass er, Lukaschenko, Moskau loyalster Verbündeter gegenüber dem Westen sei? Damit würde womöglich auch dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Lukaschenko gewähren zu lassen. 
Gerade angesichts von früheren Spekulationen, Moskau könne Lukaschenko mittelfristig austauschen oder gar die Integration von Belarus weiter vorantreiben, sagte die Politologin Ekaterina Schulmann auf Echo Moskwy, Lukaschenko sei Erstaunliches gelungen: „Einerseits ist er der Henker seines Heimatlandes, andererseits der letzte Garant dessen Unabhängigkeit.“ Ein Treffen von Lukaschenko und Putin ist für den heutigen Freitag in Sotschi anberaumt.
Die Novaya Gazeta bringt Ausschnitte aus der Rede Lukaschenkos – aus der nur Auszüge an die Öffentlichkeit gelangten – und überprüft einzelne seiner Aussagen kritisch.

Quelle Novaya Gazeta

Eine Besonderheit von Alexander Lukaschenko ist: Wenn er von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt. Sonst glaubt es keiner, auch nicht die, die in diesem Moment im Zuschauerraum sitzen. Doch er schert sich nicht um die Reaktionen des Publikums, die Meinung der Leute oder die Reputation des Landes. Lukaschenkos Phantasie prescht seinen Worten voraus und malt so bunte Bilder, dass jeder Surrealist vor Neid erblasst. 

Am Mittwoch betrat Lukaschenko den Ovalen Saal des Hauses der Regierung  anlässlich eines Treffens mit Abgeordneten, Mitgliedern der Verfassungskonvents und Vertretern von Regierungsorganen. Schon am Vorabend war klar, dass er nicht über die Aussaat und nicht einmal über den Slawjanski Basar, sondern über das am Sonntag gekaperte Flugzeug sprechen würde. Dass er lügen würde und selbst dran glauben. Und so ist es geschehen.

Wenn Lukaschenko von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt

Das Flugzeug, so heißt es, wurde über dem Atomkraftwerk Belarus umgeleitet, um eine große Katastrophe zu verhindern: „Im Flugraum befindet sich das Kernkraftwerk Belarus. Und in dessen Nähe kam es zur Umleitung des Flugzeugs. Was wäre gewesen, wenn es plötzlich … Reicht uns nicht ein Tschernobyl? Und wie hätten wohl in einer solchen Situation die USA reagiert, angesichts ihrer eigenen traurigen Erfahrung [am 11. September 2001]? Es liegt nicht nur, besser gesagt, es liegt überhaupt nicht an dem Düsenjäger, der absolut regelkonform losgeschickt worden ist. Fakt ist auch, worüber wir nicht reden: Dass auf meinen Befehl hin alle Schutzsysteme des Atomkraftwerks, einschließlich der Flugabwehr, alarmiert und umgehend in höchste Einsatzbereitschaft versetzt wurden.“
Nur ließ man das Flugzeug über Lida umkehren, das Atomkraftwerk befindet sich allerdings in der Nähe von Ostrowez. Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius.
Später sagte Lukaschenko, dass der Flugkapitän sich 15 Minuten lang mit „den Gastgebern“ und mit Mitarbeitern des Flughafens in Vilnius beraten habe. Offenbar hat das Flugzeug in diesen 15 Minuten einfach so in der Luft gestanden und sich nirgendwo hin bewegt – und wartete geduldig auf den Düsenjäger, von dem es dann höflich zum Ort der Landung begleitet wurde.

Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius

Natürlich war ein Terrorist an Bord. Natürlich kam die [Info über die] Bombendrohung aus der Schweiz. Natürlich ist das alles eine Hinterhältigkeit des Westens, der sich an Belarus für die Pandemie rächt. Dort bei denen im Westen haben Menschen am Lockdown gelitten, nun sind sie neidisch auf die Belarussen und hassen die eigenen Regierungen. Und das ist ein Motiv, sich an dem stabilen und wohlhabenden Staat zu rächen: „Offensichtlich ist die westliche Gesellschaft nicht zufrieden damit damit, wie sich der Ausgang aus der Pandemie vollzieht, wie sie vor Corona geschützt wurde, wie die Impfstoffe im Westen verteilt wurden und wie die Impfungen laufen. Kurz gesagt, wie die Menschen aus der Gefahr befreit und in Krankenhäusern behandelt werden. Deshalb ist es für den Westen so wichtig zu zeigen, dass es keine besseren Beispiele gibt – wo man sich um die Menschen, ihre Rechte und ihre Gesundheit besser kümmert als bei ihnen. Und deshalb ist es ihnen so wichtig, davon abzulenken, was in ihren Ländern vor sich geht. Unsere Haltung zu Pandemie – diese Erfahrung ist unbequem für sie. Schließlich müssen sie sich vor ihren Bürgern verantworten, für die Lockdowns und das Einsperren. Belarus, insbesondere wenn es wirtschaftlich voller Leben ist, schmeckt ihnen nicht. Also greifen sie an.“ 

Eiskalter statt Kalter Krieg

Der Angriff, so Lukaschenko, ist brutal. Der Krieg ist nicht mehr kalt, sondern eiskalt. Er könne wohl aber jederzeit zu einem „heißen“ und sogar zu einem Weltkrieg auswachsen: „Wir befinden uns nicht an vorderster Front eines neuen Kalten sondern eines eiskalten Krieges. Und nur ein Staat, der sich dem hybriden Druck nicht beugt, kann dem standhalten. Ich wende mich an die gesamte internationale Gemeinschaft: Belarus zuzusetzen – das macht keinen Sinn! Und bevor Sie irgendwelche überstürzten Schritte machen, denken Sie daran, dass Belarus das Zentrum von Europa ist. Und wenn hier etwas ausbricht, dann wird das ein weiterer Weltkrieg.“ Diesen Krieg werde Belarus laut Lukaschenko nicht gewinnen, sicher sei aber, dass es dem Feind einen „unzumutbaren Schaden“ zufügen werde.

Und genau diese Art von Schaden hat Lukaschenko derweil der einzigen Fluggesellschaft von Belarus zugefügt.
Während er vor den Funktionären sprach, verbrannte ein Belavia-Flugzeug, das auf dem Weg nach Barcelona war, über Kobrin kreisend seinen Treibstoff. Es durfte den polnischen Luftraum nicht passieren und kehrte später nach Minsk zurück. Flugverbindungen nach Großbritannien, Litauen, Tschechien, Finnland, Lettland, der Ukraine und Frankreich sind ausgesetzt. Zypern, Österreich, Polen, Spanien, Lettland, Deutschland, die Niederlande, Schweden, Ungarn, die Ukraine, Litauen, Großbritannien und Frankreich wollen den belarussischen Luftraum nicht mehr nutzen. Und das ist offenbar erst der Anfang. 

Auf den Krieg bereitet sich Lukaschenko gemeinsam mit seinen engsten Gefährten vor: Premierminister Roman Golowtschenko sagte bei seiner Rede im Ovalen Saal, dass Belarus im Falle neuer Sanktionen als Gegenmaßnahmen ein Importembargo und Transitbeschränkungen einführen wird. Und KGB-Chef Iwan Tertel verkündete, dass die „Hysterie des Westens“ im Zusammenhang stehe mit den Aussagen von Roman Protassewitsch, der natürlich die Namen westlicher Protest-Sponsoren und Auftraggeber von Terroranschlägen preisgegeben habe. Nach diesen Erklärungen – zu Krieg, Embargo, Terroranschlägen und einem Flugzeug mit Sprengstoff über einem Atomkraftwerk – erscheint doch eigentlich nur noch ein Bunker oder ein sofortiger Rausschmiss der gesamten Regierung logisch.  

Doch Lukaschenko schmiedet ernsthaft Pläne. Nicht nur, dass er am 26. Mai mit einem „Weltkrieg“ drohte, ein Treffen mit Putin ankündigte, und Putin und Biden zu einem Treffen in Minsk anstelle von Genf einlud. Er sprach auch vom Verfassungsreferendum, das auf jeden Fall 2022 kommen wird. Lukaschenko glaubt, dass er eine Zukunft hat. Oder genau genommen: Er glaubt daran, sobald er beginnt, darüber zu sprechen.

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnose Belarus

Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Eine Gnose von Nadja Douglas.

Gnose Belarus

Alexander Lukaschenko

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Felix Ackermann macht sechs Faktoren aus, die im Wesentlichen dazu beigetragen haben.

Gnosen
en

Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland im Dezember 1999 unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen und Präsident Lukaschenko selbst ist heute vor dem Hintergrund der Niederschlagung der Proteste von 2020 und der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners in den bilateralen Beziehungen mit Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 weder auf historische Erfahrungen als unabhängiger Staat zurückgreifen, noch verfolgte sie Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil: In der ersten Zeit wurden zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl aus seiner persönlichen Antipathie für Lukaschenko und seiner Haltung, Belarus nur als Junior-Partner zu sehen. 

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien. Das russische BIP ist im Vergleich zum belarusischen etwa 26 Mal größer (Stand 2021). Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine ab 2014 kam Belarus wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich für das Land in vielerlei Hinsicht als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet, deren genaue Inhalte aber lange (bis September 2021) nicht veröffentlicht wurden. Im Protestjahr 2020 hatten die Verhandlungen während und vor den belarusischen Präsidentschaftswahlen pausiert. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Seit 2021 erfolgte die Umsetzung der Roadmaps eher stockend. Das hat auch  mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ab Februar 2022 zu tun. Bislang sind erst sieben der 28 Roadmaps vollständig umgesetzt. Es sollen im Laufe des Jahres 2023 noch weitere Roadmaps hinzukommen. Dabei hat Russland begonnen, Belarus zunehmend unter Druck zu setzen, um Zugeständnisse hinsichtlich weitergehender Integrationsschritte zu erreichen. Aus Sicht der belarusischen Exil-Opposition könnte es dadurch in letzter Konsequenz zu einem Verlust der staatlichen Souveränität für Belarus kommen. Vor allem das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung, in dem es um die Verwaltung zahlreicher Steuern, wie etwa der Mehrwertsteuer geht, birgt für Lukaschenko das Risiko, über wirtschaftspolitische Entscheidungen im eigenen Land die Kontrolle zu verlieren. Im Rahmen der Logik dieses Vertrages würde als nächstes die Schaffung einer gemeinsamen Steuerbehörde sowie eines einheitlichen integrierten Verwaltungssystems folgen.1

Insgesamt sind die belarusisch-russischen Beziehungen seit 2022 sehr vom Krieg gegen die Ukraine und der militärischen Kooperation zwischen Russland und Belarus geprägt: Belarus wird aufgrund seiner militärischen Unterstützung Russlands international eine Mitschuld an den Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben, was zur Verhängung weiterer wirtschaftlicher Sanktionen geführt hat.2 Die Rolle von Belarus im Ukraine-Krieg wurde und wird viel diskutiert, insbesondere ob mit einem aktiven Kriegseintritt des Landes noch zu rechnen sei. Bislang ist das insbesondere aus innenpolitischen Gründen nicht erfolgt.

Wirtschaftsbeziehungen

Insgesamt leidet die belarusische Wirtschaft erheblich unter den Folgen des russischen Angriffskrieges sowie unter den verhängten Sanktionen. 2022 gab es in der Republik Belarus die schwerste Rezession seit den 1990er Jahren. Auch hat sich die Abwanderungstendenz belarusischer Unternehmen, insbesondere aus dem IT-Sektor, seit dem Krieg nochmal massiv verstärkt.3

Dabei ist der GUS-Raum, vor allem Russland, seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 68 Prozent der belarusischen Exporte und Quelle von 62 Prozent der Importe4 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in den vergangenen Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, sodass auf Belarus horrende Kosten zukommen könnten. So hofft die belarusische Führung weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver. Obwohl in der Vergangenheit sowohl von der russischen als auch von der belarusischen Seite mehrfach öffentlich behauptet wurde, dass eine Lösung für dieses Problem gefunden sei, scheint es immer noch Unstimmigkeiten darüber zu geben.5 Nichtsdestotrotz hat Minsk noch im Dezember 2022 einen für Belarus vorteilhaften Vertrag für einen Lieferzeitraum von drei Jahren für Öl und Gas abschließen können. Dennoch wird die belarusische Forderung nach gleichen Zugängen zu fossilen Energieträgern für alle Wirtschaftssubjekte des Unionsstaates nicht annähernd erfüllt.6 Daher bleibt es für Lukaschenko absolute Priorität, innerhalb des Unionsprogramms einen einheitlichen Markt für Öl und Erdgas sowie für weiterverarbeitete Produkte zu schaffen. Der Bezug dieser Rohstoffe zu Vorzugspreisen stellt nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle des belarusischen Haushalts dar und dient somit Lukaschenkos persönlichem Machterhalt.7 Er moniert daher weiterhin, dass im Gegensatz zu anderen Bereichen des Integrationsprozesses konkrete Vereinbarungen im Energie- und Transportsektor nach wie vor ausstehen.8

Belarus spielte ehedem als Transitland für russische Rohstoffe nach Europa eine zentrale Rolle. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit vom Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Resultat, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent.  

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen beiden Ländern – insbesondere von Russland – auch häufig als ein politisches Druckmittel eingesetzt wurden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich der angestrebte Unionsstaat bisher vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus begann Minsk, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidschan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die das letzte Mal im September 2021 abgehalten wurde – und erneut im Herbst 2023 stattfinden soll. Die größte jemals gemeinsam abgehaltene Übung gab es mit ca. 30.000 russischen Soldaten auf belarusischem Territorium im Februar 2022 im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine und diente als Vorwand für die Vorbereitung der Invasion.

Danach wurden im Zuge des regionalen Truppenverbands mit Russland (der schon lange bestand, aber inaktiv war) kontinuierlich gemeinsame Militärmanöver abgehalten. Das schürte sowohl in der Ukraine als auch im Westen Angst davor, dass sich Belarus mit eigenen Soldaten am Krieg beteiligen könnte und dass Truppen erneut, diesmal gemeinsam, aus Norden vorrücken. Dazu ist es bisher nicht gekommen, auch weil Lukaschenko einen solchen Schritt weiterhin scheut. 

Schritte hinsichtlich einer Integration der belarusischen Streitkräfte unter russisches Oberkommando nahmen indes in jüngster Zeit konkretere Formen an: So hat Russland nun Luftstreitkräfte dauerhaft in Belarus stationiert und das Kommando über die belarusischen Luftstreitkräfte sogar komplett übernommen. Diese Entwicklungen kulminierten im März 2023 in der Ankündigung, auf dem belarusischen Territorium taktische Nuklearwaffen aus Russland zu stationieren, wobei die Kontrolle über diese Waffen nicht an Belarus übertragen werden soll.

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, sowie die Unterstützung für Russland im Krieg gegen die Ukraine, manövrierte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders die beidseitigen Treffen von Lukaschenko und Putin seit 2020 haben verdeutlicht, dass diese Tendenz, trotz aller Emanzipationsversuche, sogar noch zugenommen hat. Damit konterkarierte der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen. Erst aus der Revolte der Söldner-Gruppe Wagner in Russland konnte Lukaschenko in jüngster Zeit wieder nennenswertes eigenes politisches Kapital schlagen, indem er sich als politischer Vermittler zwischen dem Kreml und Anführer Prigoshin einbrachte und Wladimir Putin dadurch einen persönlichen Dienst erwies. Denn: Die Abhängigkeit von Russland entspricht weder Lukaschenkos  Vorstellungen, noch spiegelt  es die Wünsche der Bevölkerung wider.

In einer Umfrage des Belarusian Analytical Workroom vom Sommer 2023 optierten lediglich vier Prozent der Befragten für einen Beitritt der Republik Belarus zur Russischen Föderation. Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern als jeweils unabhängige Staaten in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit offenen Grenzen sowie ohne Zoll- und Visumsbeschränkungen (67 Prozent der Befragten) befürwortet. 13 Prozent wünschten sich eine intergouvernementale Union. 12 Prozent würden ein normales, nicht privilegiertes Verhältnis mit geschlossenen Grenzen, Zoll- und Visumsbeschränkungen bevorzugen. Gefragt nach ihrem bevorzugten militär-politischen Bündnis, gab eine Mehrheit von 45,3 Prozent der befragten Belarusen an, dass das Land gar keiner Allianz angehören solle. 34,2 Prozent hielten an einer Mitgliedschaft in der OVKS fest. Der NATO beitreten würden lediglich 3,2 Prozent. 2,7 Prozent waren der Auffassung, dass Belarus Mitglied beider Bündnisse sein könne und 12,7 Prozent blieben in dieser Frage unentschieden. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ist die belarusische Gesellschaft gespalten. Mehrheitlich dagegen sind die Befragten aber, dass das belarusische Territorium sowie die militärische Infrastruktur von Russland dafür genutzt werden solle. 50,2 Prozent sprachen sich dagegen aus, 30,7 Prozent dafür, während 15,9 Prozent die Frage als schwierig zu beantworten einschätzten.

Ungeachtet aller Zahlen: Belarus ist und bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Gesellschaft ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. So wurde etwa bei den landesweiten Protesten 2020 in den Losungen und den verkündeten Protestforderungen eine klare geopolitische Positionierung vermieden

Zugleich wird die Führung in Minsk weiter anstreben, seine wirtschaftlichen und rüstungspolitischen Aktivitäten soweit wie möglich zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von Russland nicht noch zu verstärken. Da aber ca. 45 Prozent der belarusischen Wirtschaftskraft von westlichen Sanktionen beeinträchtigt sind, können derartige Bemühungen vor allem durch Handel und Kooperation mit nicht-westlichen Staaten erreicht werden.9 Dies erklärt auch die jüngsten außenpolitischen Vorstöße, wie es sie zum Beispiel mit der Bewerbung um einen Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gab.10

aktualisiert am 07.08.2023


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1. Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
2.Europäischer Rat: Restriktive Maßnahmen der EU gegen Belarus 
3.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023  
4.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023 
5. Information Analysis Portal of the Union State: Tax maneuver consequences identified as main problem in Belarus-Russia relations 
6. The Jamestown Foundation: Belarus and Russia Dispute the Fundamentals of Their Relationship 
7.Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
8.Prezident Recpubliki Belarus': Soveščanie po voprosam vypolnenija integracionnych programm Sojuznogo gosudarstva 
9.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und sb.by: Krutoj: tovarooborot s Rossiej my spokojno možem uvoit' v tečenie 3 – 5 let 
10.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und Shanghai Cooperation Organisation: SCO Secretary-General Zhang Ming's visit to the Republic of Belarus 
dekoder unterstützen
Weitere Themen

Die ostslawischen Sprachen

Die ostslawischen Sprachen Russisch, Belarussisch und Ukrainisch stehen in einem engen Verhältnis zueinander — und haben doch jeweils eigene Wurzeln. Der Sprachwissenschaftler Jan Patrick Zeller beleuchtet die Geschichte dieser Sprachen, die vom Kreml im Krieg gegen die Ukraine immer wieder propagandistisch umgedeutet wird. 

weitere Gnosen
Motherland, © Tatsiana Tkachova (All rights reserved)