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„Genozid“ als Vorwand?

Droht der Ukraine eine russische Invasion? „Das Risiko steigt,“ warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Wochenende in der ARD. Stoltenberg sagte, er befürchte, dass Russland derzeit einen Vorwand für einen Einmarsch suche.

Am Freitag hatten Denis Puschilin und Leonid Pasetschnik die Bevölkerung per Videoansprache zur „Evakuierung“ aufgerufen. Die beiden sind die Chefs der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, wo Russland in der Vergangenheit auch massenweise russische Pässe ausgestellt hat. Wie später anhand von Video-Metadaten bekannt wurde, wurden die beiden Aufrufe offenbar schon zwei Tage zuvor aufgenommen – als die Lage vor Ort noch ruhig war. Mitte Februar 2022 hatte die Staatsduma zudem eine Initiative der KPRF verabschiedet, die beiden abtrünnigen Regionen als unabhängig anzuerkennen. Am heutigen Montag tagt der Sicherheitsrat dazu in einer außerordentlichen Sitzung. Die USA und weitere westliche Staaten warnen bereits seit Wochen davor, dass Russland einen Anlass für einen Angriff auf die Ukraine erfinden wolle. 

Beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar in Moskau sprach Präsident Wladimir Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine. Berichte im russischen Staatsfernsehen verbreiten diese Lesart: Im staatlichen Perwy Kanal erzählte RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan am Wochenende zuvor von angeblichen Gräueltaten der ukrainischen Armee im Osten der Ukraine und tausenden Kindern im Donbass „ohne Arme und Beine“. Weder UN noch OSZE sehen im Donbass dagegen Hinweise für einen Genozid.

Genozid, Völkermord – die militärische Operation der NATO gegen Jugoslawien im Jahr 1999 legitimierten viele westliche Politiker damals als eine humanitäre Intervention, die NATO handle aus einer „Schutzverantwortung“ heraus. Derzeit weisen Beobachter immer wieder auf solche vermeintlichen Parallelen zum Kosovokrieg hin – als Russland auf der Seite Serbiens stand: Unter dem Vorwand eines „Genozids“ und einer „Schutzverantwortung“ könnte Russland nun auch die Ukraine angreifen.

Auch in russischen unabhängigen Medien kommentieren Beobachter die jüngsten Ereignisse mit wachsender Sorge. Meduza hat am Freitag außerdem Bewohnerinnen und Bewohner der „Volksrepubliken“ zur aktuellen Lage befragt. dekoder bringt Ausschnitte daraus und aus der Debatte.

Quelle dekoder

Evakuierung aus der DNR / Foto © Denis Grigorjuk, Kommersant

Kirill Martynow: Den Krieg heranzüchten

Kirill Martynow, Redakteur der Novaya Gazeta, kommentiert die aktuellen Ereignisse in einem emotionalen Post auf Facebook:
 

Samstag, der 19. Februar, der Tag vorm Abschluss der Olympischen Spiele, hat Anschauungsmaterial wie aus dem Lehrbuch geliefert für die Entfesselung eines aggressiven Krieges.

Was ist zu tun, wenn niemand Krieg will, du ihn aber dringend brauchst, um ernst genommen zu werden? Ein Schlüsselmoment ist hierbei die Entschmenschlichung des Feindes: Um ein Nachbarland zu überfallen, muss man erst einmal der eigenen Gesellschaft beibringen, dass in diesem Land Unmenschen leben, die eine Un-Sprache sprechen. Belofinnen, Belopolen, Banderowzy – you name it.

Ein Schlüsselmoment ist die Entschmenschlichung des Feindes

Von solchen Unmenschen ist immer und alles zu erwarten, deswegen wundert sich wohl niemand, wenn sie pünktlich, im Moment der Konzentration von zehntausenden mobilisierter Soldaten an ihren Grenzen, einen Tag vor Ende des Sportfestes in China, eine Jagd auf friedliche Bürger beginnen. Am Horizont erscheint ein gekreuzigter Junge von der Größe der Donbass-Gebiete: Um das Bild der unmenschlichen Grausamkeit zu vollenden, benutzt man Freitagabend Waisenkinder aus dem dortigen Kinderheim und bringt sie mitten in der Nacht irgendwohin. Wer bringt Kinder in eine solche Lage? Nur Todfeinde des guten russischen Volkes, Unmenschen.

Pünktlich beginnen an der Grenze zur Russischen Föderation Granaten zu explodieren. Zum Glück gibt es keine Opfer, und woher die Granaten angeflogen kamen, ist auch nicht klar, aber das ist auch nicht wichtig, denn alles ist false flag – ein Täuschungsmanöver. Dazu sind nur die da in der Lage, die Untiere! 

Die Evakuierung angesichts eines unsichtbaren Feindes entwickelt sich von allein in eine humanitäre Katastrophe – verbunden damit ist das Abpressen von Hilfsgeldern russischer Staatsbediensteter, die aufgerufen sind, Teile ihres Gehalts für „die Kinder des Donbass“ zu spenden. Zusätzlich wird es zu einem es zu einem Casus Belli, denn wenn den Menschen befohlen wird zu fliehen, dann ist die Lage ja sehr ernst. Für alle Fälle werden parallel dazu Männer, die in der Donezker und Luhansker Volksrepublik leben, unter dem Vorwand der Mobilmachung als Geiseln genommen – vielleicht töten die Unmenschen einige von ihnen.

Der Krieg jedoch will einfach nicht beginnen, weil ihn immer noch niemand will, aber man muss ihn heranzüchten, ihm auf die Beine helfen, ihn mit Geld füttern und mit Propaganda aufblasen

Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?

In Donezk explodiert als erstes ein oller UAZ und wenig später stellt sich heraus, dass mit diesem Nummernschild bis vor Kurzem ein anderes, neueres Fahrzeug unterwegs war. Der hinterlistige Feind hat wohl vor dem Terroranschlag den neuen Geländewagen gegen den alten getauscht: So wirtschaftlich clever konzipiert ist die Operation Mungo-Volte – wie sie in den Metadaten [der Evakuierungsaufrufe] der Chefs der Donezker und Luhansker Volksrepublik heißt, aus denen auch hervorgeht, dass diese Eil-Videobotschaften bereits [zwei Tage – dek] zuvor aufgenommen worden waren. 

Aus dem Kommandopunkt wird der Start unserer neusten Friedensraketen verfolgt. Ihren Flug beobachten auch die „harten Nüsse“ [Lukaschenko und Putin – dek]. Das Verteidigungsministerium erklärt, dass unsere russischen Truppen in einem weiteren Nachbarland so lange bleiben werden, wie es die aufgekommene internationale Anspannung erfordert. Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?

Wir sind historisch doch die Unschuld in Person

Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft wächst quasi wie von selbst: In einer Spezoperazija hat die Duma die Bereitschaft erklärt, die DNR und LNR anzuerkennen. Jetzt ist der Sprecher des Parlaments empört, dass das Leiden der Kinder im Donbass westliche Politiker völlig kalt lässt. Die Regierung Kubas beschreibt die Politik des Westens als Hysterie und Provokation.

Dimitri Peskow teilt uns seine historiosophischen Anschauungen mit, nach denen Russland in seiner gesamten Geschichte nie jemanden angegriffen hat. Ich denke, das ist ein seltener Fall, in dem Peskow aufrichtig spricht. Viele Menschen, bei denen Propaganda an die Stelle von Bildung getreten ist, teilen diese Ansicht: Diese Unmenschen an unserer Grenze provozieren uns – wir sind historisch doch die Unschuld in Person. 

Die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen

Die Qualität der Inszenierung wirkt, als hätte der betrunkene Chef eines Provinz-Jugendtheaters Regie geführt. Viele glauben ihr nicht, doch die werden dann zu Helfershelfern der Unmenschen und zu Feinden erklärt, und die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen. Beim Rest der Gesellschaft führt der ganz normale Konformismus zu der Haltung, dass der Krieg nun unausweichlich ist: Wir sind die belagerte Festung und müssen den Gürtel enger schnallen. Da muss doch was dran sein, wo Rauch ist, ist auch Feuer, schließlich könnte doch niemand so dreist unser großes Volk belügen und der Kaiser kann doch nicht nackt sein.

Dimitri Kolesew: Humanitäre Krise als zusätzliches Argument und Druckmittel

Dimitri Kolesew fasst die Geschehnisse in einem Überblicksartikel auf Republic zusammen – an dessen Ende geht er auch auf die Warnung von US-Präsident Biden ein, dass Russland plane, die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen:
 

Die ausgerufene Evakuierung wirkt bislang eher wie der Teil einer Informationskampagne, die Russland im Konflikt mit dem Westen und der Ukraine braucht. Derzeit ist eher zweifelhaft, ob aus DNR und LNR tatsächlich große Flüchtlingsströme zu erwarten sind, für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es aber reichen.

Die Frage ist, warum es notwendig ist, die Situation auf diese Weise anzuheizen. Die Vereinigten Staaten erklären nach wie vor, dass Russland eine kriegerische Invasion in die Ukraine vorbereitet, wobei sogar damit zu rechnen sei, dass sie bis Kiew vordringen wollen. Das ist eines der möglichen Szenarien, doch ist es nicht sehr wahrscheinlich. Und sei es nur, weil die an der Grenze zusammengezogenen Truppen für eine großangelegte Invasion oder Besatzung nicht ausreichen würden. 

Für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es reichen

Realistischer wirkt da schon die Variante eines Einmarschs russischer Truppen in das Gebiet von DNR und LNR, wo Russland de facto bereits vor Ort ist. Womöglich wäre dafür eine Anerkennung der beiden Republiken nötig. Das allerdings würde vom Westen als Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine gewertet werden, hätte harte Sanktionen zur Folge und würde die internationale Lage Russland noch mehr erschweren. Der Nutzen eines solchen Schritts liegt nicht auf der Hand.

Womöglich hat Moskau nun in Reaktion auf die USA, die die Situation mit Erklärungen über eine unmittelbar bevorstehende russische Invasion aufgeheizt haben, die Unruhe gesteigert, indem es eine humanitäre Krise simuliert. Das könnte ein zusätzliches Argument und Druckmittel gegenüber Washington und Kiew sein, um Garantien für den Nichteintritt der Ukraine in die NATO und für die Erfüllung des Minsker Abkommens nach russischer Lesart zu bekommen.

Meduza: „Auf uns wartet keiner, nirgends”

Unmittelbar dem Evakuierungsaufruf am Freitag hat Meduza Stimmen vor Ort eingeholt. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus.
 

„Wir haben schon lange keine Angst mehr“
Jelena, Schachtjorsk

Ich selbst möchte nirgends hinfahren. Auf uns wartet keiner, nirgends – ja, und was ist mit der Arbeit, sowieso klar. Keiner will wegfahren. Die Leute glauben nicht, dass es Krieg geben wird. Und ich auch nicht: Ihr werdet sehen, es passiert nichts. Da bin ich sicher, Schluss, aus. Wir haben schon lange keine Angst mehr, wir sind an all das schon seit vielen Jahren gewöhnt.

Mir scheint, das ist alles Politik. Russland wollte unsere Republiken anerkennen, dann sagte Putin: „Nein, nein, ich werde nichts anerkennen.“ Jetzt muss man einen Präzedenzfall schaffen. Was werden wir tun, wenn die Ukraine die DNR und LNR angreift? Wir werden die Republiken anerkennen, denn da leben viele unserer Bürger – die, die einen russischen Pass bekommen haben.
Es ist unklar, warum das ausgerechnet jetzt passiert. In den letzten Jahren haben wir friedlich gelebt sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland.

„Ich kämpf auch mit der Mistgabel gegen Ukro-Faschisty“
Denis, Donezk

Meine Familie und ich, wir sind 2014 nirgendwohin geflohen und haben auch jetzt beschlossen, hier zu bleiben. Ich bin 45 Jahre alt, hatte vor kurzem erst einen Herzinfarkt, meine Angina pectoris macht sich bemerkbar, aber wenn es richtig knallt, klar, dann kämpf ich sogar mit einer Mistgabel gegen die ukrofaschisty. Im Kriegsfall ist meine Hauptaufgabe meine Familie und mein Land zu schützen.

Was die tatsächliche Situation vor Ort betrifft, da kann ich sagen, dass das, was sie in der Zombiekiste zeigen, stark übertrieben ist. Es sind bei weitem nicht alle willens wegzufahren. Viele wollen hier weiterhin wohnen bleiben, wie sie auch 2014 geblieben sind.

„Die hätten jemanden aus Hollywood beauftragen sollen“
Jewgeni, Donezk

Ich wohne am Rande der Stadt. Bei uns wurde gestern nur ein bisschen geschossen und heute auch etwas – in der Ferne. Ich glaube, dass die Infrastruktur in der Stadt von den Einheimischen selbst vermint wurde. Mir scheint, sie haben sich nicht einmal viel Mühe gegeben. Die hätten doch jemanden aus Hollywood beauftragen sollen, um es etwas raffinierter zu machen. Einen UAZ im Stadtzentrum in die Luft jagen und behaupten, es sei der UAZ des Polizeichefs gewesen – das ist nicht mal lustig. Ich habe noch nie einen Polizeichef in einem UAZ gesehen. Ich glaube, die DNR-Behörden selbst haben sich das einfallen lassen. Ich glaube an eine Invasion der Ukraine, aber die Ukraine braucht das am wenigsten.

Die Gescheiten – Geschäftsleute, Politiker, Banditen – haben dieses Gebiet 2014 verlassen. Ich blieb und fragte mich, was passieren wird. Für diese Regierung würde ich aber nicht in den Krieg ziehen. Ich werde nicht kämpfen, um meine Heimat zu verteidigen, weil ich ein anderes Land als mein Heimatland betrachte: Ich wurde als Ukrainer geboren, ich werde als Ukrainer sterben, einen russischen Pass will ich nicht.

„Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen“
Alexander, Makejewka

Ich bin Wehrpflichtiger. Jetzt heißt es, dass sie schon von Haus zu Haus gehen und einberufen, bis jetzt ist noch niemand zu mir gekommen. Ich will nicht kämpfen. Ich denke, es muss nicht sein. Die Leute versuchen, ihre Taschen zu füllen und Macht aufzuteilen. Einer braucht ein Amt, ein anderer Geld. An der Macht ist jetzt, wer früher ein Niemand war. Jetzt haben sie Befugnisse und versuchen, sich etwas aus den Fingern zu saugen. Wer in den Krieg ziehen wollte, ist schon dort. Soldat in der Armee zu sein ist nur eine Verdienstmöglichkeit.

Im Internet vergleichen viele die aktuelle Situation mit 1941 oder 1945. Damals haben die Menschen für ihre Heimat gekämpft, die Deutschen haben angegriffen. Gegen wen soll man aber jetzt Krieg führen? Gegen Brüder und Schwestern auf der anderen Seite? Viele haben Verwandte in der Ukraine. Viele. Wahrscheinlich jeder. Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen.

Die Grundstimmung ist: „Kann uns nicht irgendjemand irgendwo aufnehmen.“ Wenn Russland uns aufnimmt – gut, damit könnten wir leben. Wenn die Ukraine uns aufnimmt, auch gut. Jetzt sind wir in einer Zwischenzone: In Russland scheint es einigermaßen gut zu laufen, auch in der Ukraine ist es ok, nur bei uns wie immer – nicht so richtig.

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Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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