Knapp zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 protestieren Tausende in belarussische Städten. Sie folgen dem Aufruf von Swetlana Tichanowskaja. Ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, sitzt derzeit in Haft. Tichanowski sei unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet worden, sagt seine Frau. Zuvor hatte er bekanntgeben, bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu wollen.
Tichanowski ist nicht der einzige Kandidat, der unter Amtsinhaber Alexander Lukaschenko im Vorfeld der Wahl ins Gefängnis wanderte. So hat Tichanowskaja kurzerhand die Kandidatur ihres Mannes übernommen und ein Bündnis gebildet mit Veronika Zepkalo – deren Mann Waleri von der Wahlkommission nicht zugelassen wurde und sich inzwischen mit zwei Kindern nach Moskau abgesetzt hat – und Maria Kolesnikowa. Letztere hatte den Wahlkampf des Ex-Bankiers Babariko organisiert – bis der aussichtsreiche Kandidat wegen Vorwürfen der „Geldwäsche und Korruption“ im Juni 2020 ebenfalls in Haft kam. Tichanowskaja verspricht im Fall eines Sieges die Freilassung aller politischen Gefangenen – sowie freie und faire Neuwahlen. Die OSZE etwa hatte bereits die vier vergangenen Präsidentschaftswahlen in Belarus wegen Betrugs und Einschüchterungen nicht anerkannt.
Egal wer – Hauptsache, nicht Lukaschenko: Nach Jahren der organisierten Alternativlosigkeit dreht sich derzeit die Wählerstimmung in Belarus. Warum ausgerechnet jetzt? Eine Analyse von Dimitri Nawoscha.
Maidan, Orange Revolution und anderes mehr. Wenn von den Ereignissen in Belarus die Rede ist, wird allenthalben zu oberflächlichen Analogien gegriffen. Besonders häufig macht das Präsident Alexander Lukaschenko, der im Schnitt jeden zweiten Tag an den Maidan erinnert. Diese Analogien sind jedoch ungenau.
Vielmehr ähnelt alles dem Abgang der Sowjets. Lukaschenko hat nämlich ein eben solches Sowjetsystem errichtet, mit Planwirtschaft, mit unfreien Wahlen und Medien, mit Paternalismus und sogar mit den Symbolen der Belarussischen Sowjetrepublik BSSR (Flagge, Wappen und Hymne), die er 1996 wieder eingeführt hat. Im Grunde ist Belarus von den Kommunisten direkt zu Lukaschenko übergegangen. Jenes Jahrzehnt [die 1990er Jahre], das Russland zufiel, sodass wenigstens irgendeine Art Zivilgesellschaft, Parteien und Institutionen entstehen konnte, hatten die Belarussen nicht. Angesichts der Unterdrückung haben sie sich nur langsam herausgebildet; jeglicher Keim wurde zertrampelt und mit der Wurzel ausgerissen. Repressionen gegen die Opposition (auch gegen Herausforderer Lukaschenkos bei den Wahlen) – von gewaltsam aufgelösten Demonstrationen und Gefängnisstrafen bis hin zu Exmatrikulationen und Entlassungen – haben die Oppositionellen zu Dissidenten sowjetischer Art degradiert.
Im Unterschied zur UdSSR sind die Grenzen in Belarus offen, und für einen belarussischen Aktivisten oder eine Person des öffentlichen Lebens führt der Weg aus den Repressionen typischerweise nach Europa. Jenen, die nicht bereit sind auszuwandern, bleibt innere Emigration und Anpassung.
Zwangsweise entpolitisiert
Die belarussische Gesellschaft wurde zwangsweise entpolitisiert. 2020 ist das verbrannte Feld plötzlich wieder aufgeblüht: Der belarussische Autoritarismus ist über das Internet gestolpert.
Am uninteressantesten und leichtesten vorauszusagen ist bei den belarussischen Wahlen gewöhnlich ihr Ausgang: In der Nacht zum 10. August wird Lidija Jermoschina, Vorsitzende der belarussischen Zentralen Wahlkommission und langjährige Mitstreiterin Lukaschenkos, sich anschicken, einen weiteren Wahlsieg Alexander Lukaschenkos mit einem Ergebnis im Bereich von 75 bis 85 Prozent zu verkünden (und die Regierung scheint eindeutig auf solche Werte abzuzielen – koste es, was es wolle). Doch dieser Prozess ist jetzt ziemlich spannend geworden.
Um das nötige Ergebnis zu erzielen, kommen eine Reihe primitiver, aber reibungsloser Mechanismen zum Einsatz, etwa die vorzeitige Stimmabgabe (mit der man sich jetzt auch in Russland vertraut macht – wie auch mit vielen anderen in Belarus eingeübten autoritären Praktiken). Hinzu kommen das Verbot von Wählerbefragungen und die Untergrabung der Institution der Wahlbeobachter: Die dürfen im Wahllokal fast gar nichts mehr, die Stimmauszählung etwa bekommen sie nicht zu sehen.
Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien
Lukaschenko steht ein großes Repertoire bewährter Mechanismen zur Verfügung, um das Feld möglicher Herausforderer zu bereinigen: Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien aller Art. Bei den Wahlen sind nacheinander Nikolaj Statkewitsch, Sergej Tichanowski, Viktor Babariko, Waleri Zepkalo entweder nicht zugelassen worden oder ihre Registrierung als Kandidat ist widerrufen worden. Ersterer gehört zu den langjährigen dissidentischen Oppositionellen. Die anderen drei – ein Blogger, ein Banker und ein ehemaliger Bürokrat – sind erst kürzlich in die Politik gegangen und haben umgehend die seit Langem angestauten Hoffnungen der Menschen auf einen Wandel absorbiert.
Lukaschenko war gezwungen, in kürzester Zeit alle vorhandenen Mechanismen zugleich in Gang zu setzen, um das vom Regime geplante Szenario zu wiederholen, das den Titel trägt: „Das politische Schwergewicht fährt einen triumphalen Sieg gegen die Liliputaner der Opposition ein“. Es wurden sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt: der KGB, das Ermittlungskomitee [belarussische Strafverfolgungsbehörde – dek], die Propaganda, alle erdenklichen Aufsichtsbehörden und die vielen Sondereinheiten der Miliz, und hunderttausende Unterschriften für Herausforderer, die ohne viel Federlesen im Papierkorb landen.
Drei der genannten vier Kandidaten sitzen jetzt hinter Gittern (Statkewitsch, Tichanowski, Barbariko); Zepkalo wird vom Innenministerium überprüft [inzwischen hat er zusammen mit seinen beiden Kindern das Land verlassen – dek]. Gegen mehr als 40 Personen, die während des Wahlkampfes festgenommen wurden, laufen Strafverfahren. Über tausend Personen sind während der im ganzen Land aufflammenden Protestaktionen wegen Ordnungswidrigkeiten verhaftet worden.
Repressions-Quote eiligst abgearbeitet
Die gewöhnlich für rund fünf Jahre geltende Repressions-Quote, wurde eiligst innerhalb von zwei Monaten abgearbeitet. Das bedeutet sogar für eine so eingespielte Polizeimaschinerie Turbulenzen und verhindert, dass alles zumindest den Anschein von Rechtmäßigkeit bewahrt.
Jede Hausdurchsuchung und Verhaftung, jedes Strafverfahren hat anscheinend einem taktischen Ziel gedient: Lukaschenkos Herausforderer sollten aus dem Weg geräumt werden – und überhaupt alle Menschen, die in der Lage sind, Straßenproteste zu konsolidieren und ihnen eine Stoßrichtung zu geben. Doch die strategische Aufgabe bleibt ungelöst: Es ist nämlich nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würde, eher umgekehrt.
Die einzige bislang „überlebende“ unabhängige Kandidatin ist Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers Sergej Tichanowski, eine ganz normale Mutter und Hausfrau.
Als sie zu den Wahlen zugelassen wurde, war das für die Regierung Anlass zum Hohn, dass „bei uns eine Frau nicht gewählt wird“ (als Lukaschenko das sagte, hat er ganz bestimmt daran geglaubt).
Ihr Team ist zerschlagen und über diverse Gefängnisse verteilt. Nachdem aber die anderen Kandidaten von den Wahlen ausgeschlossen wurden, verkündete Tichanowskaja, dass sich deren Wahlkampfteams mit ihr zusammengeschlossen haben – und zwar ohne dass jemand untergebuttert würde: Tichanowskaja hat vor, im Falle eines Sieges sofort Neuwahlen anzusetzen, bei denen jeder Anwärter zugelassen werde (den derzeitigen „elektoralen Prozess“ erkennt sie nicht als Wahlen an).
Es ist nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würden, eher umgekehrt
„Wer, wenn nicht Lukaschenko?“ Es liegt auf der Hand, dass die Ausschaltung jedes seiner Herausforderer die Antwort auf diese Frage erschweren soll. Doch stattdessen hat Lukaschenko den Verfechtern eines Wandels die Antwort darauf nur leichter gemacht: „Wer auch immer, nur nicht Lukaschenko!“
Bislang ist weiterhin unklar, was die Zentrale Wahlkommission daran hindern sollte, die traditionellen 75 bis 85 Prozent herzustellen. Doch diese Ziffern sind das Einzige, dessen sich Lukaschenko sicher sein kann. Mehr Gewissheiten hat er nicht.
In früheren Jahren haben Gefängnisstrafen, zerschlagene Demonstrationen und andere Formen der Repression dafür gesorgt, dass in der belarussischen Gesellschaft schnell wieder Angst und Apathie herrschten, oder – wie die belarussischen Machthaber diesen Zustand bezeichnen – die „verfassungsgemäße Ordnung“. Jetzt nimmt das Engagement und die Politisierung der Belarussen jedoch zu. Was hat sich in der Gesellschaft getan?
Aus dem künstlichen politischen Koma erwacht
Das verbreitete Narrativ „sie ist aufgewacht“ vereinfacht die Dinge. Natürlich haben Viele keineswegs geschlafen und ihnen war seit langem bewusst, dass mit dem autoritären Regime etwas nicht stimmt. Belarus hält prozentual den Weltrekord bei der Anzahl an Schengen-Visa in der Bevölkerung – wobei viele in Europa keine neuen Eindrücke suchen, sondern zum Studium oder zur Arbeit dorthin fahren. Es handelt sich um eine urbane Bevölkerung – entgegen aller Stereotypen. Nach Angaben der UNO leben 78 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Städten; das übertrifft sämtliche Werte in den Nachbarländern; nur neun Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Zugang zum Internet ist stark verbreitet (über 80 Prozent), auch unter Personen im Rentenalter.
Die Entpolitisierung dieser Bevölkerungsgruppe, die Lukaschenko gegenüber keine Hochachtung hegt oder ihm gegenüber deutlich negativ eingestellt ist, jedoch nicht zu Dissidenten werden wollte, war erzwungen. Um die Metapher des Schlafs fortzuführen: Dieser fortschrittliche Teil der Gesellschaft wurde in ein künstliches Koma versetzt.
Spirale des Schweigens gebrochen
Als die Gesellschaft mit dem Beginn des Wahlkampfes aus dem Koma erwachte, geschah das in der Tat abrupt und für alle unerwartet. Der Grund war, dass man sich plötzlich bewusst wurde, dass es eine klare Mehrheit gibt, die Veränderungen will. Das ist ein interessanter Umstand, zu dem die Psychologen, die sich mit der Macht der vermeintlichen Mehrheit oder mit der Schweigespirale befassen, vieles erzählen können. Wenn die Spirale des Schweigens gebrochen wird, kann man zusehen, wie sich Konformismus und das Gefühl der Machtlosigkeit verflüchtigen.
Als Reaktion auf das repressive Vorgehen der Behörden kam es zu Straßenprotesten. Darauf folgten weitere Repressionen, was wiederum eine neue Welle von Protestaktionen auslöste, die jetzt noch massiver ausfiel. Eine derartige geographische Ausbreitung von Protesten hat es in Belarus noch nie gegeben: In 20 Städten kam es zu Verhaftungen und Gerichtsverfahren. Die Protestwelle [nach der Nicht-Zulassung einzelner Oppositionskandidaten am 14. Juli – dek] wurde zwar unterdrückt, wobei Minsk nahezu unter Kriegsrecht gestellt wurde (im Stadtzentrum wurden zwei Tage lang Straßen abgesperrt, U-Bahneingänge geschlossen, das Internet blockiert und es wurden mit äußerster Härte Verhaftungen vorgenommen). Sie war aber auch von ersten Versuchen eines gewaltsamen Widerstandes gegen die OMON geprägt. So etwas hatte man in Belarus seit den 1990er Jahren nicht mehr gesehen.
Zustrom Unzufriedener
Wie kam es zu diesem Zustrom Unzufriedener, durch den das Blatt sich gewendet hat? Einer der wichtigsten Gründe ist sicher der immer rapidere Niedergang der Wirtschaft. Die Mankos des belarussischen Modells vom Sowjetstaatsplan wurden eine gewisse Zeit lang durch versteckte oder offene Subventionen aus Russland sowie durch Anleihen aus Europa und China verschleiert. Diese Mängel lassen sich jetzt nicht mehr verhehlen. Das belarussische Bruttoinlandsprodukt ist heute geringer als vor zwölf Jahren. Die Auslandsverschuldung ist um fast das Dreifache gestiegen (und das zu hohen Zinsen, die belarussischen Euro-Obligationen sind auf „Trash-Niveau“). Unter Lukaschenko gibt es keinerlei Aussichten auf Reformen oder eine Umkehr dieser Tendenzen.
Die versprochene ‚Ruhe und Sicherheit‘ hat sich als Fiktion herausgestellt
Ein anderer offensichtlicher Grund war, dass Lukaschenko die Corona-Epidemie ignoriert oder gar verlacht hatte. Dadurch ist Belarus jetzt in Europa das Land mit den zweithöchsten Fallzahlen pro Million Einwohner. Und das laut den offiziellen Statistiken, die, wie es aussieht, nach unten „korrigiert“ wurden. Die Dysfunktionalität der Regierung ist für einen zu großen Teil der Bürger spürbar geworden; die versprochene „Ruhe und Sicherheit“ hat sich als Fiktion herausgestellt.
Interessant ist auch, dass es die gleichen Mechanismen sind, die früher die Diktatur gestärkt haben, die nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit verleihen. Zum einen ist da die langjährige Unterdrückung unabhängiger Medien. Sie hat eine massive Nachfrage nach unzensierten Informationen und Meinungen erzeugt, die jetzt von YouTube- und Telegram-Kanälen befriedigt wird. Letzten Endes ist deren Nutzung nicht mehr nur eine Frage des Geschmacks, sondern auch ganz banal des physischen Überlebens. Das belarussische Agitprop hat das ganze Frühjahr über Lukaschenko folgend den Leuten weiszumachen versucht, dass das Coronavirus „nicht schlimmer als eine Grippe“ und überhaupt eine „Psychose“ sei. Und nach dem Unfall, durch den das Wasser in Minsker Leitungen vergiftet wurde, wurde behauptet, dass es trotzdem trinkbar sei. YouTube und Telegram sind in Belarus noch populärer als in Russland und haben letztlich die Wirksamkeit der Propaganda drastisch reduziert. Daher konzentriert sich die repressive Maschinerie auf Blogger: Bereits sieben Blogger sitzen wegen fingierter Strafverfahren in Haft und noch mehr wegen Ordnungswidrigkeitsverfahren; zwei Blogger versuchen sich der Verfolgung zu entziehen und konnten ins Ausland fliehen.
Die gleichen Mechanismen, die früher die Diktatur gestärkt haben, verleihen nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit
Der zweite Faktor ist das zwar nicht formale, doch faktische Verbot von unabhängigen Umfragen. Das hat jahrelang die schwindende reale Unterstützung für das Regime verschleiert. Und so haben die Beliebtheitswerte der Präsidentschaftskandidaten, die auf den größten Internetportalen veröffentlicht wurden, den Herausforderern wieder Hoffnung gemacht: Lukaschenko hatte dort nur rund drei Prozent. Sie sind zu einem nationalen Meme geworden. Allerdings sind nun auch diese Umfragen verboten. Es gibt keine anderen unabhängigen Zahlen. Lukaschenko selbst hat sie unmöglich gemacht. Und ganz gleich, welche Ergebnisse die Zentrale Wahlkommission schließlich zusammenrechnen mag – eine Mehrheit wird diesen Ziffern keinen Glauben schenken.
Als drittes ist die Hürde von 100.000 Unterschriften zu nennen, die eine Voraussetzung für die Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten sind und die man in sehr kurzer Zeit zusammentragen muss. Früher hatte diese Praxis Lukaschenko ermöglicht, sich seine Herausforderer quasi auszuwählen. Jetzt ist dieses Werkzeug detoniert, dank der Mobilisierung von Wählern, die Veränderung wollen: Es haben sich in vielen Städten kilometerlange Schlangen von Menschen gebildet, die für einen der Herausforderer unterschreiben wollen.
Die Menschen haben mit eigenen Augen gesehen, wie viele es sind. Selbst in verschlafenen Kreisstädten.
Empörung und Solidarität statt Angst
Der neue gesellschaftliche Konsens sorgt für eine Gegenreaktion auf die unverhältnismäßige, fast barbarische Gewalt, die chaotischen Festnahmen und die absurden Strafverfahren. Anstelle der gewohnten Angst zeigen sich Empörung und Solidarität. Früher bedeutete fehlende Loyalität den Verlust des Einkommens und eine Marginalisierung. Jetzt verliert man zwar immer noch sein Einkommen, aber man gehört zur Mehrheit und das eigene Handeln wird rundum gutgeheißen. Das ist eine für Belarus neue Situation.
Lukaschenko setzt auf Charisma und Silowiki
Lukaschenko hofft auf sein Charisma, dem er einst seinen Aufstieg verdankte, und hat seine Reisen in die belarussischen Regionen verstärkt. Zugleich überschüttete er die Wähler mit der doppelten Menge an Versprechen, etwas zu erhöhen, umzusetzen, sicherzustellen oder zu lösen. Zudem ist er in Bezug auf Russland aktiver geworden, das sich bei ihm zugleich zum wichtigsten Schreckbild („die russischen Oligarchen wollen Belarus destabilisieren“, „die Strippenzieher von Gazprom und weiter oben“, „Bedrohung für die Unabhängigkeit“) wie auch zur wichtigsten Hoffnung entwickelt (zwei Besuche bei Wladimir Putin innerhalb einer Woche, sein schmeichlerisches „Ich bin in die Hauptstadt der Heimat gefahren“).
Am meisten achtet er jedoch auf den Block der Silowiki. Die Hälfte seiner Treffen, die im Fernsehen gezeigt werden, sind mit Leuten in Uniform. Und auch der vor einem Monat neu ernannte Ministerpräsident Roman Golowtschenko ist ein Silowik. Beim KGB und bei den Inlandstruppen sind sämtliche Urlaube gestrichen worden, bei den Silowiki wurde ein spezielles Regime der Dienstausübung ausgerufen und sogar die Militärdoktrin der belarussischen Armee ist eilig um einen Passus über die Bekämpfung innerer Gefahren erweitert worden.
Ich habe selbst in der belarussischen Armee gedient und eine recht gute Vorstellung davon, wie sie zerfällt. Ich glaube nicht, dass es dem Präsidenten irgendwie helfen würde, Rekruten in einen Kampf gegen jene hineinzuziehen, die mit ihm nicht einverstanden sind. Eher im Gegenteil. Der KGB, die OMON und die anderen Spezialeinheiten aber sind unter Hochdruck tätig – obwohl jeder ihrer Schläge gegen Unzufriedene einen Schlag gegen Lukaschenkos Umfragewerte bedeuten könnte. Nach Einschätzung von Experten liegt Belarus hinsichtlich der Zahl an Sicherheitskräften pro 100.000 Einwohnern weltweit mit an der Spitze. In Minsk hat es zwar nie Barrikaden gegeben, dafür aber mehr als genug Spezialgeräte, um Barrikaden zu durchbrechen. Hätte es in der späten UdSSR eine derartige Unterdrückungsmaschinerie gegeben und die entsprechende Bereitschaft, diese einzusetzen, hätte sich der Kommunismus wohl noch ein paar Jahre länger über Wasser halten können.
Lukaschenko könnte wohl dazu in der Lage sein.
Falls seine neuen Versprechungen nicht verfangen (und so wird es kommen), dann wird er sich nur und ausschließlich auf Gewalt stützen können.
Allerdings hängt die gesamte jahrelang gehegte und gehätschelte Maschinerie der Silowiki jetzt schon in der Luft. Ihr fehlt jede Stütze.