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Spiel mit der Atomangst

Ausgerechnet am 25. März verkündete Wladimir Putin, noch in diesem Jahr Atomwaffen in Belarus stationieren zu wollen. An diesem Tag begeht die belarussische Opposition traditionell den Dsen Woli, um an die Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 und damit an die Unabhängigkeit des Landes zu erinnern. Diese sehen viele durch den Kreml bedroht, seitdem Alexander Lukaschenko sich nach den Protesten von 2020 in eine unheilvolle Abhängigkeit von Russland manövriert hat. So ließ er in einer höchst umstrittenen Reform den Passus aus der 1994 stammenden Verfassung streichen, der Belarus als  „Nuklearwaffen-freie” Zone deklarierte. Zudem hatte Lukaschenko in jüngerer Zeit dem Westen häufiger damit gedroht, Belarus als Standort für russische Atomwaffen zur Verfügung stellen zu wollen.

Ganz unerwartet kommt Putins Ankündigung also nicht. Bedeutet dieser Schritt im russischen Krieg gegen die Ukraine eine weitere Eskalation mit dem Westen und der NATO? Welche Folgen hätte die Stationierung für Belarus und Lukaschenko, der jetzt schon auf verschiedenen Ebenen in den Krieg verstrickt ist? Für das belarussische Medium Zerkalo beantwortet der Politikanalyst Artyom Shraibman diese und weitere Fragen.

Quelle Tut.by – Zerkalo.io

Wladimir Putins Entscheidung, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren, kam nicht völlig unerwartet, schon deshalb, weil Alexander Lukaschenko im vergangenen Jahr mehr als einmal davon gesprochen hatte. 

Es ist nicht das erste Mal, dass er Putin präventiv zur Eskalation einlädt, indem er aus „Der Kreml hat entschieden“ ein „Wir haben vereinbart“ macht. Genauso war es im Februar vergangenen Jahres mit den Truppenübungen, aus denen ein Krieg wurde, und im Herbst mit der Einladung russischer Truppen [nach Belarus – dek] zur Formierung einer gemeinsamen Einheit. Diese Truppe wurde schließlich zum Deckmantel für die Ausbildung russischer Mobilisierter auf belarussischen Übungsplätzen. 

Interessanterweise formulierte Lukaschenko im September Bedingungen für die Stationierung von Atomwaffen im Land, die aber nicht erfüllt wurden. Damals sagte er, im Falle eines Angriffs auf Belarus oder einer Stationierung von Atomwaffen in Polen durch die USA, sollte es auch in Belarus welche geben. Als Begründung für Putins Entscheidung werden nun tatsächlich Lieferungen von Munition mit abgereichertem Uran an die Ukraine angeführt – dabei handelt es sich allerdings um Geschosse, die mit Nuklearwaffen nichts gemein haben. 

Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen

Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass nicht Lukaschenko festlegt, wann und warum zum ersten Mal seit den 90er Jahren Atomsprengköpfe nach Belarus zurückkehren, seien es auch nur taktische, also von der Kraft her geringere als strategische Raketen, die zu Beginn von Lukaschenkos Regierungszeit abgezogen wurden.

Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen. Ein Vergleich des militärisch-industriellen Potenzials Russlands und seiner Verbündeten auf der einen und der Koalition der Verbündeten der Ukraine auf der anderen Seite ist unmöglich. Eine Niederlage in diesem Krieg kann Putin nur durch die Müdigkeit oder den Unwillen des Westens abwenden, die ukrainischen Streitkräfte mit Waffen zu beliefern. Besondere Bedeutung hätte eine Unterbrechung der Lieferungen vor der nächsten ukrainischen Offensive. 

Alle Optionen für eine nichtatomare Eskalation hat Putin ausgeschöpft. Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch auf dem Schlachtfeld geführt, im Rahmen der russischen Winteroffensive wurden einige wenige zerstörte Kleinstädte und Dörfer bei Awdijiwka und Bachmut eingenommen. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet. Eine zweite Mobilisierungswelle kann nicht so schnell und einfach verlaufen wie die erste. Alle, die kämpfen wollten oder auf das schnelle Geld hofften, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits an der Front. Immer mehr russische Einheiten beklagen einen Mangel an Waffen. Allem Anschein nach gibt es nicht mehr genug Raketen und Drohnen, wie noch im Oktober und November, als massiv und regelmäßig geschossen wurde. Und ihre Effektivität wird von der mit westlichen Systemen gepäppelten ukrainischen Flugabwehr zunichte gemacht. 

Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch geführt. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet

Bleibt also die atomare Drohung. Putin hat nicht zufällig eine klare Deadline formuliert: Die Basis für die taktischen Nuklearsprengköpfe in Belarus wird bis zum 1. Juli fertig sein. Iskander-Marschflugkörper stehen bereit, Piloten bilden wir aus, und dann werden die Nuklearwaffen in 200 bis 300 Kilometer Entfernung von Kyjiw stehen. Voilà, NATO, drei Monate Zeit, denkt euch was aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen mit der Wimper zuckt, ist minimal. Im Laufe der letzten Monate ist seine Entschlossenheit, die Ukraine mit Waffen und Gerät zu beliefern, nur gewachsen. Und das bedeutet, dass wir zur Jahresmitte hin tatsächlich die demonstrative Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Belarus erleben werden. 

Für uns wird das Folgen auf mehreren Ebenen haben: militärisch, außen- und innenpolitisch. 

Die Belarussen lehnen jegliche Eskalation ab

Stellt man sich einen Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges auf der Ebene einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland vor, dann gibt es aus militärischer Sicht keinen Zweifel, dass Depots, Abschussvorrichtungen und Militärflugplätze auf belarussischem Gebiet zum Ziel (mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem der ersten Ziele) von NATO-Raketenschlägen werden. Die Stationierung von Nuklearwaffen beseitigt die Ungewissheit in dieser Frage: Niemand wird eine solche Bedrohung in der Nähe von Warschau, Vilnius, Kyjiw und Riga zulassen.

Innenpolitisch bedeutet die Stationierung russischer Atomwaffen für Minsk einen Schritt neuer Qualität in Richtung der intensiveren Beteiligung am russischen Krieg. Fast ein halbes Jahr lang hat Lukaschenko sich damit zurückgehalten. Im Oktober waren tausende russische neumobilisierte Soldaten ins Land gekommen, dafür hatte es seitdem keinen bestätigten Beschuss der Ukraine von belarussischem Territorium und Luftraum aus gegeben. 

Dadurch, dass das Maß der Kriegsbeteiligung nicht weiter eskalierte, konnte Minsk im westlichen Lager Zweifel säen, ob die Sanktionen gegen Russland und Belarus nicht entsprechend angeglichen werden sollten. Polen und die baltischen Staaten bestehen darauf, doch die Ukraine, viele europäische Staaten und sogar die USA halten eine Differenzierung zwischen Putin und Lukaschenko für sinnvoll. Einige EU-Mitglieder setzen sich gar dafür ein, belarussisches Kali von Sanktionen auszunehmen. 

Die Stationierung von Atomwaffen in Belarus wird die Position der prorussischen Hardliner ganz offensichtlich stärken. Denn es ist ein klares Signal an den Westen, dass es nichts gebracht hat, auf neue Sanktionen gegen Belarus zu verzichten – Lukaschenko hat es nicht davon abgehalten, sich Russland militärisch weiter anzunähern. Es ist gut möglich, dass sowohl die EU als auch die USA die drei Monate, die Putin ihnen als Bedenkzeit zugesteht, nutzen werden, um Lukaschenko ebenfalls Bedenkzeit zu geben, ob er weitere Ergänzungen in seinem Paket von Sanktionspaketen haben will. Doch da Minsk in diesen Fragen ganz klar nicht das Entscheidungszentrum darstellt, ist schon jetzt klar, worauf die gegenseitigen Reaktionen abzielen werden.. 

Genauso vorhersehbar wird die Bewertung dieses Schritts in der belarussischen Bevölkerung sein. Meinungsforscher sind zwar uneinig, inwieweit Umfragen in einer Diktatur zu Kriegszeiten belastbar sind, doch in einigen Fragen zweifelt niemand die Existenz eines nationalen Konsenses (oder etwas, was dem sehr nahekommt) an. Ein Beispiel ist, dass eine erdrückende Mehrheit der Belarussen eine Beteiligung der eigenen Armee am Krieg in der Ukraine ablehnt. Zu diesem Ergebnis kommen absolut alle Umfragen, sowohl telefonisch als auch online, die seit Anfang 2022 durchgeführt wurden, und es bleibt von Monat zu Monat stabil. Es besteht kein Spielraum für Ergebnisverzerrungen.    

Bei der Frage der Stationierung von Atomwaffen in Belarus sieht es ähnlich aus. In Umfragen, die Chatham House im Zeitraum von März bis August 2022 durchführte, war nur jeder Fünfte bereit, eine solche Entscheidung zu unterstützen, 80 Prozent sprachen sich dagegen aus. Aktuellere Daten gibt es nicht, doch berücksichtigt man die stabilen Ergebnisse des ersten Kriegshalbjahres, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich danach eine grundsätzliche Veränderung ergeben haben könnte.

Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen

Die Ursachen für diese Einstellung liegen auf der Hand. Selbst viele prorussische Belarussen, die Putins „Spezialoperation“ befürworten (ihr Anteil liegt in diesen Umfragen bei 35 bis 40 Prozent), verstehen, wie riskant es ist, Brückenkopf für Nuklearwaffen zu sein. Diejenigen, die neutraler oder proukrainisch eingestellt sind, begreifen das ohnehin. Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen. Selbst wenn man eine maximal effektive Wirkung des Fernsehens annimmt, wird höchstens ein Viertel oder ein Drittel der belarussischen Bevölkerung diese Maßnahme befürworten, was Lukaschenko mit einer Minderheit zurücklässt.

Langsam erodieren wird hingegen die Unterstützung, die die Regierung einigen Umfragen zufolge dank des gestiegenen Interesses der Belarussen an Frieden und Nichtbeteiligung am Krieg gewonnen hatte.

„Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“

Lukaschenko hat bereits eine in der Bevölkerung unpopuläre Entscheidung getroffen, als er das Aufmarschgelände für den Angriff und Beschuss der Ukraine bot (laut Daten von Chatham House unterstützten das nur 10 bis 15 Prozent). Damals entschied die Regierung klugerweise, diese Raketenangriffe zu verschweigen, und die Propaganda fokussierte sich darauf, dass Belarus Vorschläge für Friedensinitiativen einbringt, keine Soldaten an die Front schickt und ukrainische Flüchtlinge aufnimmt. 

Über das tatsächliche Maß der belarussischen Beteiligung am Krieg erhielten so nur diejenigen regelmäßig Informationen, die im Süden von Belarus lebten, von wo die Raketenangriffe geführt wurden, und die immer geringer werdende Zahl von Rezipienten unabhängiger Medien. Doch wie soll man vor dem loyalen, politisch uninteressierten Fernsehzuschauer eine solche Nachrichtenbombe wie die Stationierung von Nuklearwaffen im Land verbergen? Vor allem, wenn Putin offen davon spricht und Lukaschenko das Thema schon seit einem Jahr antreibt. Daher wird die Regierung eher versuchen, „aus Gebrechen Großtaten zu machen“, wie es der Oberst im Kultfilm DMB formuliert, und ihren Befürwortern etwas erzählen wie: „Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“, und „denen machen wir die Hölle heiß.“

Lukaschenko schafft selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen

Doch Militarismus kann keine Bevölkerung beruhigen, die sich auf die Forderung nach Frieden und Ruhe geeinigt hat. Angst und Sorge sind scheußlich, selbst wenn der Schützengraben, in dem du sitzt, dir moralisch nahesteht – wenn deine Hauptforderung ist, überhaupt nicht in Schützengräben zu sitzen. Je mehr Lukaschenko mit einem Anstieg der Kriegsgefahr für Belarus assoziiert wird, desto größer werden auch die potenziellen Chancen für Politiker – heute oder in der Zukunft – die Vorschläge machen, wie die Gefahren und die dadurch ausgelösten Ängste abnehmen können. 

Indem er in einem fremden Krieg den Verbündeten spielt, schafft Lukaschenko selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen. Und zwar nicht, weil die Wirtschaft nicht läuft oder die Sicherheitskräfte über die Stränge schlagen, sondern aus demselben Grund, aus dem sie ihn damals gewählt haben. Damit im Land Frieden und Stabilität herrschen.

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Der Vertrag über den Offenen Himmel

Derzeit steckt die Rüstungskontrolle in einer tiefen Krise – und damit auch die mit ihr verbundenen vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM): Mechanismen, die in zähen Gesprächen während des Kalten Krieges zwischen NATO und den Staaten des Warschauer Pakts vereinbart wurden, spielen heute eine immer geringere Rolle. Viele Staaten, darunter vor allem die führenden Militärmächte USA, Russland und China, zeigen kaum noch ein ernsthaftes Interesse an einer neuen Rüstungskontrollpolitik.

Nach der Beendigung des ABM-Vertrags über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (2002), dem Rückzug Russlands aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (2007) und dem Ende des INF-Vertrags über landgestützte nukleare Mittelstreckenraketen (2019), steht nun auch der Vertrag über den Offenen Himmel (OH-Vertrag) auf der Kippe: Dieser trat 2002 in Kraft, um unbewaffnete Beobachtungsflüge über das gesamte Staatsgebiet aller 34 Teilnehmerstaaten zu ermöglichen. Der Vorteil des Vertrags besteht darin, dass die Auflösung der bei diese Flügen gemachten Aufnahmen und die technische Ausstattung der verwendeten Flugzeuge standardisiert sind. Die Regelungen werden von einer gemeinsamen Beratungskommission (OSCC) überwacht, die regelmäßig in Wien zusammentrifft und im Konsens entscheidet. Außerdem stehen die gewonnenen Daten grundsätzlich allen Mitgliedstaaten zur Verfügung. Damit trägt der Vertrag zur militärischen Vertrauensbildung zwischen NATO und Russland bei, er ist aber, gerade für Staaten ohne eigene Militärsatelliten, auch ein wichtiges Mittel, um militärische Veränderungen zu beobachten. 

Trotz dieser Vorteile haben die USA im Mai 2020 ihren Ausstieg aus dem Vertrag angekündigt. Dieser wird im November rechtskräftig. Wird es gelingen, das Abkommen dennoch zu erhalten? 

Russische Militärangehörige besuchen im Jahr 2009 nach einem Überflug die Elmendorf Air Force Base in Alaska / Foto © U.S. Air Force photoillistration/ Staff Sgt. Joshua GarciaDer Vertrag über den Offenen Himmel ist ein komplexes Dokument, das auf fast 100 Seiten minutiös den Ablauf von Überflügen und Missionsplanung, die Verwendung von Sensoren und Aufnahmedaten sowie die Wahl der Beobachtungsflugzeuge festlegt. Auch Einflugpunkte, Flugplätze und die von diesen zu erreichenden Flugentfernungen sind geregelt. Außerdem definiert der Vertrag für jeden Staat sogenannte passive Quoten: Diese bestimmen, wie häufig er von anderen Teilnehmern im Jahr überflogen werden kann. Die Anzahl entspricht auch den aktiven Quoten: Überflüge, die der jeweilige Staat selbst über anderen Staaten durchführt. Insgesamt finden so durchschnittlich 100 Flüge pro Jahr statt.1 

Militärisches Vertrauen durch Transparenz 

Die ursprüngliche Idee für den Vertrag über den Offenen Himmel stammt noch aus den 1950er Jahren. Auf der Vier-Mächte-Konferenz 1955 in Genf schlug US-Präsident Eisenhower angesichts der zunehmenden nuklearen Aufrüstung der Sowjetunion eine gegenseitige Luftaufklärung vor. Moskau lehnte ab. Die sowjetischen Militärs sahen in den Überflügen einen Vorwand zur Spionage. Geheimhaltung galt als probates Mittel, um die damalige Unterlegenheit der UdSSR bei strategischen Nuklearwaffen zu verschleiern.

Erst nach dem Kalten Krieg griff US-Präsident George H. W. Bush im Mai 1989 die Idee wieder auf. Gleichzeitig trieb auch die kanadische Regierung das Vorhaben voran. Diesmal stand die Kontrolle konventioneller Waffensysteme im Mittelpunkt. Außerdem entsprach dieser Wunsch nach mehr militärischer Transparenz dem politischen Zeitgeist zum Ende des Kalten Krieges. 

Nach drei Jahren intensiver Verhandlungen unterzeichneten im März 1992 26 Staaten den Vertrag über den Offenen Himmel. Bis zu den ersten offiziellen Aufklärungsflügen vergingen jedoch noch fast zehn Jahre. Erst im November 2001 hinterlegten Russland und Belarus ihre jeweiligen Ratifizierungsurkunden. Beide Staaten bilden auch eine gemeinsame Staatengruppe, für die eine einheitliche Quote von maximal 42 Flügen pro Jahr gilt. Seit 2002 haben die Vertragspartner über 1500 gegenseitige Überflüge durchgeführt, davon rund ein Drittel über russisches beziehungsweise belarussisches Territorium. 

Implementierung und Vertragsstreitigkeiten

Insgesamt setzen die Teilnehmerländer den Ver­trag seit 2002 zum größten Teil regelkonform um. Bereits vor Inkrafttreten führten sie 400 Testflüge durch, um Vertrautheit im Umgang mit dem komplexen Regelwerk zu erhalten. Dennoch bestanden auch danach noch Implementierungsfragen, von denen viele jedoch im Laufe der Zeit durch Entscheidungen der Beratungskommission Offener Himmel (OSCC) und bilaterale Verhandlungen gelöst werden konnten. 

So hob Russland beispielsweise 2016 Begrenzungen der Flughöhe über Tschetschenien auf, die es 2002 wegen der anhaltenden Konflikte in der Region eingeführt hatte. Im selben Jahr gewährten die USA Zugang zu allen Inselgebieten. Bedenken gegenüber der Sperrung und Begrenzung des nutzbaren Luftraums über Hauptstädten, darunter auch Moskau, konnten in generelle Gespräche über nationale Flugsicherheitsvorschriften überführt werden. 

Parallel zu solchen Fortschritten haben sich die Fronten jedoch verhärtet, vor allem zwischen Russland und den USA. Seit Mai 2010 untersagt Moskau Überflüge in einem zehn Kilometer breiten Korridor an der Grenze zu den georgischen Gebieten Abchasien und Südossetien im Süden des Landes. Da Russland die Souveränität beider Gebiete anerkennt, greift aus Moskauer Sicht eine entsprechende Regelung des Vertrags,2 der Überflüge in diesem Streifen zu Nichtvertragsstaaten untersagt. 

Im Gegenzug hat Georgien seit April 2012 seine Vertragsverpflichtungen gegenüber Russland ausgesetzt. Der Streit darüber führte schließlich dazu, dass 2018 gar keine Überflüge stattfanden, weil sich die Mitgliedstaaten über die jährliche Quotenverteilung nicht einigen konnten. Ein weiterer Streitpunkt ist die im Juni 2014 von Russland eingeführte Obergrenze von 500 Kilometern für Flüge über die Oblast Kaliningrad. Moskau begründet dies offiziell mit Sicherheitsbedenken für die zivile Luftfahrt. 

Die USA bewerten beide Fälle – den Grenzkonflikt mit Georgien und die Begrenzungen über Kaliningrad – mittlerweile als Vertragsverletzung,3 und haben Gegenmaßnahmen ergriffen: 2017 führten sie ebenfalls eine Fluglängenbegrenzung von 900 Kilometer über Hawaii ein und beschränkten die Überflugmöglichkeiten über der Inselgruppe der Aleuten in Alaska. Auch der Zugang zu einigen Flughäfen, die von Russland zuvor für die Betankung von Flugzeugen beziehungsweise die Übernachtung der Crew genutzt worden waren, wurde gestrichen. Zusätzlich haben Russland und die USA vormals bestehende bilaterale Regelungen zur besseren Umsetzung des Vertrags beendet. 

Ausstieg der USA und die Zukunft des Vertrags

Im Oktober 2019 wurde bekannt,4 dass US-Präsident Trump aus dem Vertrag aussteigen will. Während langjährige Gegner des Vertrags diesen Schritt begrüßten, wie etwa der republikanische Senator Tom Cotton, begannen Kongressabgeordnete in Briefen an Außenminister Mike Pompeo vor einem Austritt zu warnen.5 Im Dezember 2019 verfügte der Kongress darüber hinaus sogar parteiübergreifend neue Regelungen im sogenannten Nationalen Verteidigungs-Autorisierungsgesetz (NDAA). Sie verpflichteten die Regierung unter anderem zur Einhaltung einer 120-Tagesfrist vor Einreichung eines offiziellen Austrittsgesuchs. Doch es half nichts. 

Am 21. Mai 2020 setzte sich die Trump-Administration über das NDAA hinweg und erklärte für den darauffolgenden Tag den Austritt der USA aus dem Vertrag.6 Dieser wird nach Ablauf von sechs Monaten im November rechtskräftig. Zwar haben führende Demokraten im US-Kongress mittlerweile auch öffentlich Einspruch gegen das aus ihrer Sicht illegale Vorgehen der Administration erhoben.7 Dass aber Präsident Trump seine Entscheidung noch einmal rückgängig machen wird oder gar vom Senat oder durch Bundesgerichte dazu gezwungen werden könnte, ist nicht zu erwarten. Die USA haben die Durchführung eigener Flüge bereits eingestellt. Darüber hinaus ist der reguläre Flugbetrieb aufgrund der Covid-19-Pandemie seit Mitte März 2020 ausgesetzt. 

Unterdessen haben die meisten Mitglieder auf der vom Vertrag nach einem Austrittsgesuch vorgesehenen Staatenkonferenz am 6. Juli ihr Interesse am Erhalt des Abkommens bekräftigt. Russland veröffentlichte in einem ungewöhnlichen Schritt die Redebeiträge seiner beiden Vertreter, die im Detail auf Bedenken und Forderungen Moskaus verwiesen.8 Russland möchte unter anderem seine bisherigen US-gebundenen Flüge neu über Europa und Kanada verteilen. Auch der Überflug von US-amerikanischen Militäranlagen in Europa soll möglich bleiben. 
Die eigentliche Sorge Moskaus besteht jedoch darin, dass die USA auch nach einem Austritt weiterhin alle Aufnahmen erhalten könnten, die bei Überflügen über Russland gemacht wurden. Dies ist zwar laut Vertrag nicht vorgesehen, aber angesichts der Bündnisverpflichtungen in der NATO durchaus nicht unwahrscheinlich. In den nächsten zwei Monaten werden deshalb sowohl bilateral als auch in einer gesonderten informellen Arbeitsgruppe der OSCC intensive Gespräche geführt werden. Zunächst geht es vor allem darum die offenen technischen Fragen zu klären, die der US-Austritt mit sich bringt: Wie können die dann fehlenden Flugzeugkapazitäten ersetzt werden? Wer übernimmt den Vorsitz in den bisher von den USA geleiteten informellen Arbeitsgruppen? Was bedeutet der Austritt für das Budget der OSCC? Muss die bisherige Quotenverteilung geändert werden? 

Anfang Oktober werden die Mitgliedstaaten auf der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenz des Vertrags dann Farbe bekennen müssen. Die Europäer und Kanada sind in einer schwierigen Lage. Sie sind aufgefordert ihre eigenen Interessen zu wahren und Russland im Vertrag zu halten, ohne die NATO als Militärbündnis öffentlich zu beschädigen. 


1.Graef, Alexander/Kütt, Moritz (2020): Visualizing the Open Skies Treaty 
2.Auswärtiges Amt (1992): Vertrag über den Offenen Himmel 
3.State Department of the United States (2020): Compliance Report 2020. Die Position der USA hat sich in diesen Fällen seit 2018 gewandelt. Sprach das U.S.-Außenministerium bis dahin noch von „compliance concerns“, so wird das russische Verhalten seitdem als „treaty violation“ bezeichnet. Siehe lawfareblog.com: Graef, Alexander (2020): The End of the Open Skies Treaty and the Politics of Compliance 
4.Gordon, Michael R./Salama, Vivian (2019): Trump moves close to ending another Post-Cold War treaty, in: The Wallstreet Journal, 27.10.2019 
5.Menendez, Robert/Reed, Jack (2020): Letter to Secretary of State Mike Pompeo, 28.02.2020 
6.Pompeo, Mike R. (2020): On the Treaty on Open Skies, 21.05.2020 
7.Menendez, Robert et al. (2020): Letter to Secretary of State Mike R. Pompeo and Secretary of Defense Mark T. Esper, 22.06.2020 
8.Außenministerium der Russischen Föderation (2020): O Konferencii gosudarstv-učastnikov Dogovora po otkrytomu nebu po rassmotreniju posledstvij vyxoda SŠA iz Dogovora, 08.07.2020 
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