Medien

Machtspieler

Anfang September 2020 trafen sich Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, der sich mit der größten Krise seiner Amtszeit konfrontiert sah, in Sotschi. Dort sagte der russische Präsident seinem angeschlagenen belarussischen Kollegen die Unterstützung des Kreml zu, was durch einen Milliardenkredit untermauert wurde. Mit der Rückendeckung durch die russische Führung, die in drei weiteren Treffen manifestiert wurde, gingen die belarussischen Machthaber seit dem mit aller Gewalt gegen die Protestbewegung vor, gegen unabhängige Medien, gegen Kulturschaffende oder gegen die Zivilgesellschaft, um jeglichen Widerstand im Land zu ersticken. Der Repressionsapparat folgt bis heute konsequent seiner Linie, erst vor zwei Wochen wurde der unabhängige belarussische Journalistenverband BAJ von den Behörden liquidiert. Und Anfang dieser Woche wurde Maria Kolesnikowa, eine der führenden Oppositionsfiguren, zu elf Jahren Haft verurteilt. Viele Belarussen haben das Land im Zuge der Erstarkung des Machtapparates verlassen.

Am heutigen 9. September 2021 steht in Moskau das fünfte Treffen der beiden autokratischen Staatsführer seit dem Bündnisschluss am Schwarzen Meer vor einem Jahr an. Dort sollen Medienberichten zufolge unter anderem auch weitere Integrationspläne zwischen Belarus und Russland besprochen werden. Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in seinem Stück für das belarussische Medium Naviny.by, welche Strategien der Kreml in Bezug auf Lukaschenko, der kürzlich Geburtstag hatte, und Belarus verfolgen könnte.
 

Quelle BelaPAN/Naviny.by

Vor einem Jahr musste Alexander Lukaschenko seinen Geburtstag in kugelsicherer Weste und mit Kalaschnikow in der Hand feiern. Die protestierenden Belarussen brachten beleidigende „Geschenke“ zum Präsidentenpalast (z. B. einen Spielzeughubschrauber mit der Aufschrift „Nach Den Haag“) und riefen wenig schmeichelhafte Wünsche. Und obwohl niemand den Palast zu stürmen gedachte, fühlte es sich für die Führungsriege doch recht ungemütlich an. Dass das Regime in jenen Augusttagen standhielt, verdankt es in großem Maße der Unterstützung des Kreml.

Heute, ein Jahr später, fühlt sich der Führer des Regimes ungleich selbstbewusster. Und Wladimir Putin, der im August 2020 Vertreter der Streitkräfte für den Unterstützungsfall an der belarussischen Grenze zusammengezogen hatte, versicherte in seinem Geburtstagsgruß an Lukaschenko: „Die belarussischen Freunde können immer auf die Unterstützung Russlands zählen.“

Doch wer sind denn Putins Freunde?

Stellt sich die Frage, wer eigentlich zu Putins Freunden gehört. Sicher nicht Swetlana Tichanowskaja oder gar Viktor Babariko (wobei dieser politische Feind Lukaschenkos, der zu 14 Jahren Strafkolonie verurteilt wurde, eine Bank mit Gazprom-Kapital leitete).

Noch im August letzten Jahres ließ Putin verlauten, dass keine in der Verfassung nicht vorgesehenen Organe gegründet werden dürften, vermutlich mit Blick auf den auf Tichanowskajas Initiative hin entstandenen Koordinierungsrat. Im Großen und Ganzen hat Moskau der belarussischen Opposition noch nie vertraut – weder der alten, noch der neuen.

Grundsätzlich hat sich Putin damals klar hinter Lukaschenko gestellt und erklärt, dass es Einflussversuche von außen auf die Prozesse in Belarus gäbe (sprich: westliche Puppenspieler). Damit unterstützte er letztlich die Interpretation der Ereignisse, die die belarussischen Machthaber und ihre Propaganda vertraten.

Putin und Lukaschenko hatten nicht nur einmal Meinungsverschiedenheiten (und sie werden sie wohl auch in Zukunft haben), doch in diesem kritischen Moment überwog die Klassensolidarität.
Für den russischen Präsidenten war das Wichtigste, dass der autoritäre Amtsbruder im Nachbarland (das zudem noch als Aufmarschgebiet von Bedeutung gilt) nicht von der aufbegehrenden Straße gestürzt wird. Zumal dies ein schlechter Präzedenzfall wäre, dessen Beispiel die Russen anstecken könnten.

Die Oberhäupter beider Regime fürchten das politische Erwachen des Volkes, wenn es in Massen den Wunsch zum Ausdruck bringt – um mit Janka Kupala zu sprechen – „sich Menschen zu nennen“.

Gab es einen Putin-Patruschew-Plan?

Man sollte nicht vergessen, dass zu Beginn der belarussischen innenpolitischen Krise Putin und andere Moskauer Politiker sofort die Bedeutung von Verfassungsreformen und dem gesellschaftlichen Dialog bekräftigten.

Einige Kommentatoren sprachen damals von einem Putin-Patruschew-Plan (Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, war angeblich nach Minsk geflogen, um Lukaschenko mit dem Plan vertraut zu machen.)

Dieser Version zufolge bestand Moskau auf einem sanften Machttransit in Belarus im Anschluss an eine Verfassungsreform. Einfacher gesagt, Lukaschenko sollte abgelöst werden, indem er nicht bei vorgezogenen Neuwahlen antritt, sondern durch einen beliebteren Kandidaten ersetzt wird, der dem Kreml zusagt  und dem Westen nicht aufstößt. Zusätzlich sollte zu einer parlamentarisch-präsidentiellen Regierungsform übergegangen, politische Gefangene befreit und ein Dialog mit den Gegnern, inklusive Tichanowskaja, geführt werden.

Wir wissen nicht, ob es diesen Plan tatsächlich gegeben hat. Doch wenn es ihn gab, so liegt er heute schon in Schutt und Asche. Lukaschenko wird keinen Dialog mit politischen Gegnern führen. Sie kommen hinter Gitter, werden in die Emigration gedrängt, als Terroristen und Faschisten dargestellt. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind unters Messer gekommen, unabhängige Medien werden mit Napalm weggeätzt. Der Führer des Regimes hat entschieden, die Situation mit Gewalt und Verbreitung totaler Angst zu zementieren.

Die neue Verfassung wird voraussichtlich keine Voraussetzungen für eine Demokratisierung des Landes schaffen. Ganz im Gegenteil, sie sieht sogar ein Organ mit Sonderstatus vor, das als zusätzliche Absicherung der gegenwärtigen Machtriege vor unerwünschten Veränderungen dient: die Allbelarussische Volksversammlung.

Auch eine Freilassung der politischen Gefangenen ist derzeit nicht in Sicht. Zwar wird ab und zu jemand aus der Haft entlassen. Doch erstens kann nicht von voller Freiheit gesprochen werden (der ehemalige Diplomat Igor Leschtschenja teilte mit, dass er weiterhin als Verdächtigter in einem Strafverfahren gilt und ist damit kein Einzelfall). Zweitens werden vornehmlich jene freigelassen, die Gnadengesuche geschrieben haben oder auferlegte Geldstrafen beglichen haben (wie im Fall des Press Club Belarus).

Die Behörden spielen also mit den politischen Häftlingen Katz und Maus. Ein Schuldeingeständnis, dass die Menschen unschuldig gelitten haben, die Freilassung aller oder gar die Bestrafung ihrer Peiniger kommt für das Regime nicht in Frage.

Absolut nichts äußert Lukaschenko über Termine für Neuwahlen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er darauf zählt, bis zum Ende der Amtszeit – also 2025 – auf seinem Thron zu bleiben.

Lukaschenko tut, was Moskau dient

Seit August 2020 kam unter Politologen die Mode auf, Lukaschenko als zu „toxisch“ für den Kreml zu bezeichnen. Sind denn Baschar al-Assad oder Nicolas Maduro nicht toxisch? Moskau unterstützt bereitwillig die fragwürdigsten Machthaber auf der ganzen Welt, besonders, wenn es dabei Washington eins auswischen kann.

Ja, vermutlich hätte der Kreml im Idealfall nichts dagegen, Lukaschenko mit einer eigenen Kreatur zu ersetzen, einem weniger schwierigen und skandalösen Menschen.

Doch das ist nicht so einfach, solange Lukaschenko kein Interesse hat abzutreten. Und im Moment hat er ein starkes Gegenargument: Die Proteste sind niedergeschlagen, die Gewalt wirkt, er ist wieder Herr der Lage. Kein Grund also, die Pferde scheu zu machen und das System zu zerschlagen.

Schließlich spielt Moskau in die Hände, dass Lukaschenko selbst Belarus in noch größere Abhängigkeit von Russland treibt. Er setzt die Konfrontation mit dem Westen fort und nimmt sich so die Möglichkeit, zwischen den Machtzentren zu manövrieren, wie das vormals der Fall war. Minsk drohen neue Sanktionen, die den Bedarf der belarussischen Wirtschaft an russischer Unterstützung verschärfen. Die Zerstörung einer nationalbewussten Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien erleichtert es dem Kreml zudem, seine Großmachtsbestrebungen in Richtung Belarus zu expandieren.

In Moskau erkennt man vermutlich, dass es einen so antiwestlichen Führer mit solcher Leidenschaft für die Unterdrückung der nationalen Idee in Belarus so bald nicht mehr geben wird.

Des Weiteren hat die belarussische Führung angestrebt, das Neutralitätsgebot aus der Verfassung zu streichen und mit dem Leitsatz der kollektiven Verteidigung (also dem militärischen Bündnis mit Russland) zu ersetzen.

Wichtig ist zudem, dass Lukaschenko faktisch bereits zugesagt hat, bis Jahresende ein Paket von Bündnisprogrammen zu unterzeichnen – diese Road Maps zur Vertiefung der Integration hatte er im Dezember 2019 noch abgelehnt. Ende August wurde bekanntgegeben, dass bei dem für den 9. September angesetzten Treffen zwischen Lukaschenko und Putin in Moskau die Bündnispläne zu den zentralen Punkten auf der Agenda gehören werden.

Der belarussische Führer sträubt sich mittlerweile also weniger, und tut, was dem Kreml dient. Warum sollte man sich also damit beeilen, ihn abzusetzen? Zumal jeder Machtwechsel, vor allem in einem so überausgeprägt personalistischen Regime, auch ein Risiko birgt.

Der Kreml treibt seine Interessen voran

All das heißt natürlich nicht, dass im Verhältnis zwischen Lukaschenko und Putin Idylle herrscht. Das belarussische Regime braucht Geld und erschwingliche Rohstoffpreise, Moskau zeichnet sich nicht durch besondere Großzügigkeit aus.

Lukaschenko gab kürzlich zu, dass die Frage des Gaspreises im Rahmen der Abstimmung des Unionsprogramms weiter für Diskussion sorge. Den durch das eigene Steuermanöver verursachten Anstieg des Ölpreises ist Russland gegenüber Minsk nur bereit, in Form von Krediten auszugleichen, nicht durch Abstandszahlungen, wie die belarussische Seite es wünscht.

Geheimnisvoll bleiben die stundenlangen bilateralen Gespräche zwischen Putin und Lukaschenko. Unwahrscheinlich, dass sie verbissen um den Gaspreis streiten. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml doch die Idee einer gewissen Modernisierung des belarussischen politischen Systems in Gang bringen möchte, um mit einem weniger selbstherrlichen Präsidenten und mehr Machtverteilung zwischen einzelnen Organen die Möglichkeit zu haben, prorussische Parteien zu installieren und so in Parlament und Regierung mitspielen zu können.

Interessant wird sein, ob Lukaschenko vor seinem Besuch bei Putin einen eigenen Vorschlag für die Verfassungsänderung vorstellen wird (ein Entwurf soll am 1. September auf seinem Schreibtisch liegen). Wenn er sich weiter bedeckt hält und Zeit schindet, deutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass mit dem Kreml noch bei Weitem nicht alles abgestimmt ist.

Auf jeden Fall versteht man in Moskau, dass Lukaschenko nicht ewig ist und steckt die eigenen Positionen in Belarus mit Weitblick ab, um auch in Zukunft die eigenen Interessen gesichert zu wissen. Und für diese Aufgabe benötigt Moskau Lukaschenko noch.

Dabei scheint der Kreml aber nicht gewillt, den aktuellen Präsidenten um jeden Preis und in kürzester Zeit loszuwerden. Ebenso offensichtlich ist, dass Putin keine tatsächliche Demokratisierung von Belarus gebrauchen kann.

Gleichwohl kann man kaum von echtem Vertrauen zwischen Putin und Lukaschenko sprechen. Letzterer versteht sehr gut, dass der Familienname des Herrschers von Belarus für den Kreml nicht von Belang ist – die Hauptsache ist die Kontrolle über dieses strategisch wichtige Territorium. Und deshalb kann irgendwann der Moment kommen, in dem auf einen anderen Spieler gesetzt wird.

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er im Dezember 1999 den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen. Präsident Lukaschenko selbst ist heute mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners gegenüber Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht auf eine prägende historische Erfahrung als unabhängiger Staat zurückgreifen. Sie verfolgte auch keine Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil wurden in der ersten Zeit zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl daraus, persönlich keine Sympathien für Lukaschenko zu hegen und in Belarus keinen ebenbürtigen Partner zu sehen.

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien – Putin stellte ehedem fest, dass die belarusische Wirtschaft in etwa drei Prozent der russischen entsprechen würde.1 Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine kam Belarus ab 2014 wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich in vielerlei Hinsicht für das Land als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Wirtschaftsbeziehungen

Russland ist seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 45 Prozent der belarusischen Exporte (82 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte)2 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in letzten Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von den russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, was für Belarus erhebliche Auswirkungen haben wird. So hofft Belarus weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver.

Belarus ist als Transportland für russische Rohstoffe nach Europa zentral und die Transportrouten kürzer als jene durch die Ukraine. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit im Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Ausgang, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent. 

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern auch immer wieder als politisches Druckmittel Anwendung finden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich die Staatenunion vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus unternahm es Bestrebungen, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidshan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die im September 2021 erneut abgehalten werden soll. Zudem sind derzeit drei gemeinsame militärische Ausbildungszentren in Belarus und Russland geplant.3

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, brachte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders ein Treffen von Lukaschenko und Putin in Sotschi im Februar 2021 verdeutlichte, dass die Abhängigkeit Belarus‘ von Russland trotz aller Emanzipationsversuche sowohl in finanzieller Hinsicht, aber auch im Hinblick auf die politischen Beziehungen eine neue Dimension erreicht hat. Damit hat der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen, zunichtegemacht. Auch entspricht diese Abhängigkeit nicht den Wünschen der Bevölkerung:

Im Rahmen einer vor kurzem realisierten ZOiS-Umfrage in Belarus4 gab eine Mehrheit an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne politische Union bevorzugen würden (35 Prozent der Befragten). 23 Prozent wünschten sich lediglich eine Handelskooperation. Engere politische und militärische Beziehungen wurden nur noch von rund 12 Prozent der Befragten befürwortet und die Staatenunion von 7 Prozent (siehe Grafik). Dabei korrelierten Vertrauen in Tichanowskaja und die Beteiligung an Protesten mit der unverbindlichsten Beziehung einer Handelskooperation, während hohes Vertrauen in Lukaschenko mit einer Präferenz für eine engere politische Integration zusammengeht. 21 Prozent der Befragten blieben in dieser Frage unentschieden, was auch auf eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern hindeutet.


Die Daten stammen aus einer Umfrage des ZOiS vom Dezember 2020, bei der 2000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren befragt wurden.

Russland forciert in Folge der Wahlfälschung in Belarus und der anschließenden Proteste den Prozess einer Reform der belarusischen Verfassung. Dem Kreml geht es dabei um die „Wahrung der Verfassungskontinuität“5, was eine klare Anspielung darauf ist, dass man vor allem „Verhältnisse wie in der Ukraine“ verhindern möchte. Russland ist nach wie vor auf die Stabilität in Belarus angewiesen und hofft, dass Lukaschenko während einer Transitionsphase die Angelegenheiten im Land weiter zu steuern vermag. Das Land bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Bevölkerung ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland gegenüber nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. Bei den landesweiten Protesten wurde eine klare geopolitische Positionierung vermieden. Doch Moskau muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die organisierte belarusische Opposition, deren führende Köpfe sich größtenteils im Ausland aufhalten, sich – nach mehreren gescheiterten Versuchen der Kontaktaufnahme mit dem Kreml – explizit mit der Bitte um Unterstützung an den Westen gewandt hat. Auch innenpolitisch könnte die Situation in Belarus zu einem Problem in Russland selbst werden. Denn Lewada-Umfragen zufolge ist es zwar keine Mehrheit, aber auch ein nicht geringer Teil der Russen, welcher die Anliegen der Protestierenden in Belarus nachvollziehen kann – ein wesentlicher Unterschied zur Wahrnehmung des Euromaidans in der Ukraine 2013/14.6 Auch die innerrussische Protestbewegung, die seit Monaten gegen die Verhaftung des Gouverneurs der Region Chabarowsk demonstriert oder auch in zahlreichen Städten für die Freilassung Alexej Nawalnys auf die Straße geht, hat sich immer wieder solidarisch mit der Opposition in Belarus gezeigt.7


 

ANMERKUNG DER REDAKTION:


Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 



1.RFE/RL Poland (2002): Belarus and Ukraine Report, Vol. 4 (24) 
2.German Economic Team Belarus: Wirtschaftsausblick Ausgabe 13 
3.RBK: Šojgu dogovorilsja s Minskom sozdat' učebno-boevye centry dlja voennych 
4.Die ZOiS Umfrage wurde im Dezember 2020 unter 2.000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 durchgeführt. Die landesweite Umfrage wurde durch eine Finanzierung des Auswärtigen Amts ermöglicht. Der Text spiegelt die Meinung der Autorin wider. 
5.Socor, Vladimir (2020): Russia Poised to Arbitrate Regime Change in Belarus, in: Eurasia Daily Monitor, Jamestown Foundation, Vol. 17, Issue 124 
6.Levada-Center: Protests in Belarus 
7.RFE/RL (2021): Minsk, Moscow, And Beyond: Belarus Protests Reverberate On Russian Streets 
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