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Wie der Krieg Belarus verändern wird

Zum sechsten Mal seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine haben sich Alexander Lukaschenko und Kremlchef Wladimir Putin am vergangenen Wochenende getroffen. Im Gegenzug für seine Loyalität – Lukaschenko beschwor mit lodernden Worten die angebliche Gefahr, die von der NATO ausgehe – soll der belarussische Machthaber in den nächsten Jahren ein enormes Rüstungspaket erhalten, unter anderem das Raketensystem Iskander-M, das mit Atomwaffen bestückt werden kann. Der politische Analyst Alexander Klaskowski kommentierte das Treffen wie folgt:  „Lukaschenko, der dem Kreml jahrelang versprochen hat, dass sich die Belarussen den Panzern der NATO entgegenwerfen würden, ist sicherlich nicht begeistert von der Aussicht auf eine echte Auseinandersetzung mit den Ukrainern oder dem nordatlantischen Bündnis. Doch die Schlinge der katastrophalen Abhängigkeit von Moskau sitzt ihm im Nacken.“

Weil es immer wieder Befürchtungen und Hinweise dafür gibt, dass Lukaschenko sich doch noch mit eigenen Truppen an dem Krieg beteiligen könnte, wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky in einer Ansprache direkt an die belarussische Bevölkerung. Er warnte die Belarussen davor, sich in den Krieg hineinziehen zu lassen.

Die Abhängigkeit von Russland, die Lukaschenko im Zuge der Proteste in seinem Land auf fatale Art und Weise ausgebaut hat, hat Belarus jetzt schon eine unheilvolle Rolle in dem Krieg beschert. Auch vergangenes Wochenende wurden russische Raketen von belarussischem Staatsgebiet und aus dem belarussischen Luftraum in Richtung Ukraine abgeschossen. 

Was aber bedeuten der Krieg und die Rolle Russlands dabei für die belarussische Gesellschaft, die im Sommer 2020 so eindrucksvoll begonnen hatte, sich von ihren autoritären Strukturen emanzipieren zu wollen? Wie wirkt sich die aktuelle Situation möglicherweise auf die belarussische Identität aus, die in vielfacher Hinsicht mit russischen Implikationen verwoben ist? In einer Analyse für das Medium Nasha Niva geht der Politologe Pjotr Rudkowski, akademischer Direktor des Belarusian Institute for Strategic Studies, diesen Fragen auf den Grund.

Quelle Nasha Niva

Sehen wir uns die Bedeutung des Ausdrucks „nach Russland“ [gemeint hier im Sinne von post Russland – dek] näher an. Sogar im für Russland schlimmsten Szenario (Niederlage im Krieg gegen die Ukraine und Verlust der Krim) wird Russland als Staat weiterbestehen. Mit welchem Staatssystem und in welcher politischen Machtkonstellation – das steht auf einem anderen Blatt. 

Doch auch wenn der Krieg für Russland denkbar gut ausgeht – es behält die Krim und entreißt der Ukraine drei, vier Oblaste – wird es aus diesem Krieg extrem geschwächt und ohne Aussicht auf baldige Genesung hervorgehen. Das Land wird sich in einer Wirtschaftskrise befinden, von der internationalen Arena isoliert, ohne verlässliche Bündnispartner – nicht einmal in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) oder in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – und mit angeschlagenem militärischen Image. 

Dazu kommt der innere Faktor. Man sollte Berichten über 70 bis 75 Prozent Unterstützung der „Spezialoperation“ und über 80 Prozent Vertrauen in Putin unter der Bevölkerung Russlands nicht zu viel Bedeutung beimessen. Diese Zahlen sind zwar teilweise überzeugend, aber nur, was die Gegenwart betrifft. Der Krim-Effekt hielt drei Jahre lang an, dann ließ er nach. Und das, obwohl die damalige Spezialoperation a) unblutig, b) schnell erledigt und c) effektiv war. Die heutige Spezialoperation ist jedoch a) ein blutiger Krieg, zieht sich b) schrecklich in die Länge und ist c) ineffektiv. Hier wird der „patriotische“ Aufschwung viel schneller wieder verpuffen. Multipliziert mit der Wirtschaftskrise wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit zur sozialen Instabilität führen.  

Insofern wird Russland nach diesem Krieg „nicht mehr es selbst“ sein. Es wird ein Land sein, das die nächsten Jahre vor allem damit zu tun haben wird, zu überleben und nicht auseinanderzufallen. Es wird nicht mehr das Russland sein, das wir die letzten zwei Jahrzehnte kannten.    

Der kanadische Politologe Seva Gunitskiy veröffentlichte vor ein paar Jahren eine Studie, in der er Faktoren analysierte, die in den letzten zwei Jahrhunderten bei Systemtransformationen eine Rolle spielten. Der Autor zeigte, dass die größten Transformationen stattfinden, wenn sich auch die globale Hegemonie strukturell verändert. Am eindrucksvollsten sah man das nach den zwei Weltkriegen sowie beim Zerfall der Sowjetunion

Es gibt noch einen anderen Kontext von Transformationen – nämlich regionale Umbrüche, die sich viral verbreiten. Ein Beispiel hierfür ist der Arabische Frühling 2010 bis 2012, als durch rund 20 Länder einer Region eine Welle von Protesten mit unterschiedlichen Folgen rollte. 

In der Zeit der Proteste in Belarus 2020 gab es weder Veränderungen in der globalen Hegemonie noch eine virale Welle in der Region. Diese Art von Prozessen nennt Gunitskiy „emulativ-horizontale“ Transformationen. Sie verlaufen langsam und dauern lange, dafür ist das Ergebnis – wenn es denn erreicht wird – ziemlich beständig. Ein Beispiel dafür ist die Demokratisierung in Portugal, Spanien oder Griechenland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. 

Es kann passieren, dass ein Prozess in einem Kontext beginnt und in einem anderen fortdauert. In Polen fanden die Proteste 1980/81 genauso wie in Belarus 2020 in einer Situation statt, in der die globale Hegemonie stabil war und die Region nicht von einer viralen Welle ergriffen wurde. Doch ihre Fortsetzung – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – erfolgte bereits vor dem Hintergrund eines geschwächten Hegemons: der Sowjetunion. Diesmal führten die Proteste zu Veränderungen des Systems: Im Juni 1989 gab es freie Wahlen [in Polen – dek], die kommunistische Autokratie wurde von einer repräsentativen Demokratie abgelöst. 

Vieles weist darauf hin, dass die nächste Folge der belarussischen Proteste vor dem Hintergrund eines geschwächten lokalen Hegemons – Russlands – beginnen wird. Das garantiert noch keinen Erfolg, erhöht jedoch die Chance darauf um ein Vielfaches.   

Bruch mit dem autoritären Status quo

Wenn die Menschen in alten Zeiten schnell ein Haus bauen mussten, dann verwendeten sie das Material, das gerade am besten verfügbar war. Das konnte eine Höhle sein, ein Baum, Steine oder sogar Tierhäute. 

Identität wird meistens auf ähnliche Weise geformt. Eine aktive und langfristige „Suche nach Identität“ passiert nie in der Masse, das ist etwas für sehr motivierte Menschen, die sich die Zeit dafür nehmen können. Die Antwort auf Fragen wie „Wer bin ich? Wer sind wir?“ wird in der Regel aus schnell greifbaren Materialien modelliert: aus der dominanten Sprache im jeweiligen Umfeld und Vorstellungen über ihren Status, aus bestehenden religiösen Traditionen, aus Schulbüchern entnommenen Meinungen über die historische Rolle bestimmter Länder, aus medialen Einflüssen etc. 

In Belarus gibt es einen wichtigen Teil der Gesellschaft, auch wenn er in der Minderheit ist: Menschen, die sich aktiv für Geschichte und Sprache interessieren und ihre Zeit in den Aufbau einer starken nationalen Identität investieren. Bei allem Respekt für diese Minderheit ist es aber auch nicht verwunderlich oder gar befremdlich, dass die Mehrheit entweder nicht so motiviert ist oder einfach nicht genug Zeit und Energie dafür hat. Die Mehrheit legt ihrer Identität Elemente zugrunde, die am leichtesten verfügbar sind. 

Für etliche Generationen von Belarussen waren diese „greifbaren“, am schnellsten verfügbaren Materialien die russische Sprache, die Geschichte Russlands und/oder der UdSSR, russisches Kino, Musik und Sport, sowie ihre Wahrnehmung vom großen Einfluss Russlands in der modernen Welt. Je mehr sie sich an das Leben im unabhängigen Belarus gewöhnten, desto mehr legte sich über die russische sprachlich-kulturelle Identität eine belarussisch-etatistische Identität, die mit einer staatsbürgerlichen Zugehörigkeit zur Republik Belarus einhergeht. Für eine Analyse der Faktoren und Merkmale dieses Umstandes ist hier kein Platz, daher beschränken wir uns darauf, die Gesetzmäßigkeiten zu benennen, kraft derer die Zugehörigkeit zum russischen Sprach- und Kulturraum für viele Belarussen teilweise identitätsstiftend war und immer noch ist. Nicht einmal die Proteste von 2020 haben das wesentlich verändert.  

Der Krieg in der Ukraine führt wahrscheinlich zu einem Bruch in der Identität der Belarussen. Zum ersten Mal haben wir es mit einem internationalen Konflikt zu tun, in dem nur eine Minderheit von Belarussen Russland unterstützt und die Zahl seiner Kritiker höher ist als die Zahl der Befürworter. Im Georgienkrieg oder bei der Annexion der Krim war die absolute Mehrheit der Belarussen auf der Seite Russlands (der Identitäts-Faktor kam zum Tragen). Zusätzliche Bedeutung erhält diese Wendung dadurch, dass in früheren Phasen dieses Konflikts Lukaschenkos Medien keine Unterstützung für Russland signalisiert und sich manchmal sogar Kritik erlaubt haben. Jetzt agiert die offizielle Propaganda zwar im Interesse des Kreml, doch die Verteilung von Unterstützern und Kritikern der „Spezialoperation“ ist vergleichbar mit ihrer Verteilung innerhalb der bulgarischen Gesellschaft.  

Der Faktor der russozentrischen Identität der Belarussen verliert seine Wirkung. Russlands international gefestigtes Image als Aggressor und das Durchsickern von Informationen über Kriegsverbrechen der Russen in die belarussische Gesellschaft werden den Bruch in der Identität noch vorantreiben. Zwar wird die Verwendung der russischen Sprache kaum abnehmen, doch Russlands Image wird sich im belarussischen Weltbild radikal verändern.   

***
Für den Aufschwung 2020 haben Tausende Belarussen mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrer Freiheit bezahlt. 2022 haben für die Verteidigung ihres Landes gegen den Aggressor Zigtausende Ukrainer ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren. Das ist der schmerzhafte Aspekt dieser Vorgänge. Neben dem Gedenken der gefallenen Helden und der Solidarität mit den Leidtragenden ist jedoch auch ein anderer Aspekt zu beachten:

Russland wird als Stabilisator des belarussischen Status quo immer schwächer. Sowohl als Hegemon, als auch als Teil der Identität der Belarussen. Wie Gunitskiys Forschungsarbeit gezeigt hat, erhöht eine solche Schwächung maßgeblich die Chance auf einen Bruch des autoritären Status quo.  

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er im Dezember 1999 den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen. Präsident Lukaschenko selbst ist heute mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners gegenüber Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht auf eine prägende historische Erfahrung als unabhängiger Staat zurückgreifen. Sie verfolgte auch keine Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil wurden in der ersten Zeit zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl daraus, persönlich keine Sympathien für Lukaschenko zu hegen und in Belarus keinen ebenbürtigen Partner zu sehen.

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien – Putin stellte ehedem fest, dass die belarusische Wirtschaft in etwa drei Prozent der russischen entsprechen würde.1 Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine kam Belarus ab 2014 wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich in vielerlei Hinsicht für das Land als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Wirtschaftsbeziehungen

Russland ist seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 45 Prozent der belarusischen Exporte (82 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte)2 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in letzten Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von den russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, was für Belarus erhebliche Auswirkungen haben wird. So hofft Belarus weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver.

Belarus ist als Transportland für russische Rohstoffe nach Europa zentral und die Transportrouten kürzer als jene durch die Ukraine. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit im Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Ausgang, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent. 

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern auch immer wieder als politisches Druckmittel Anwendung finden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich die Staatenunion vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus unternahm es Bestrebungen, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidshan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die im September 2021 erneut abgehalten werden soll. Zudem sind derzeit drei gemeinsame militärische Ausbildungszentren in Belarus und Russland geplant.3

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, brachte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders ein Treffen von Lukaschenko und Putin in Sotschi im Februar 2021 verdeutlichte, dass die Abhängigkeit Belarus‘ von Russland trotz aller Emanzipationsversuche sowohl in finanzieller Hinsicht, aber auch im Hinblick auf die politischen Beziehungen eine neue Dimension erreicht hat. Damit hat der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen, zunichtegemacht. Auch entspricht diese Abhängigkeit nicht den Wünschen der Bevölkerung:

Im Rahmen einer vor kurzem realisierten ZOiS-Umfrage in Belarus4 gab eine Mehrheit an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne politische Union bevorzugen würden (35 Prozent der Befragten). 23 Prozent wünschten sich lediglich eine Handelskooperation. Engere politische und militärische Beziehungen wurden nur noch von rund 12 Prozent der Befragten befürwortet und die Staatenunion von 7 Prozent (siehe Grafik). Dabei korrelierten Vertrauen in Tichanowskaja und die Beteiligung an Protesten mit der unverbindlichsten Beziehung einer Handelskooperation, während hohes Vertrauen in Lukaschenko mit einer Präferenz für eine engere politische Integration zusammengeht. 21 Prozent der Befragten blieben in dieser Frage unentschieden, was auch auf eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern hindeutet.


Die Daten stammen aus einer Umfrage des ZOiS vom Dezember 2020, bei der 2000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren befragt wurden.

Russland forciert in Folge der Wahlfälschung in Belarus und der anschließenden Proteste den Prozess einer Reform der belarusischen Verfassung. Dem Kreml geht es dabei um die „Wahrung der Verfassungskontinuität“5, was eine klare Anspielung darauf ist, dass man vor allem „Verhältnisse wie in der Ukraine“ verhindern möchte. Russland ist nach wie vor auf die Stabilität in Belarus angewiesen und hofft, dass Lukaschenko während einer Transitionsphase die Angelegenheiten im Land weiter zu steuern vermag. Das Land bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Bevölkerung ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland gegenüber nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. Bei den landesweiten Protesten wurde eine klare geopolitische Positionierung vermieden. Doch Moskau muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die organisierte belarusische Opposition, deren führende Köpfe sich größtenteils im Ausland aufhalten, sich – nach mehreren gescheiterten Versuchen der Kontaktaufnahme mit dem Kreml – explizit mit der Bitte um Unterstützung an den Westen gewandt hat. Auch innenpolitisch könnte die Situation in Belarus zu einem Problem in Russland selbst werden. Denn Lewada-Umfragen zufolge ist es zwar keine Mehrheit, aber auch ein nicht geringer Teil der Russen, welcher die Anliegen der Protestierenden in Belarus nachvollziehen kann – ein wesentlicher Unterschied zur Wahrnehmung des Euromaidans in der Ukraine 2013/14.6 Auch die innerrussische Protestbewegung, die seit Monaten gegen die Verhaftung des Gouverneurs der Region Chabarowsk demonstriert oder auch in zahlreichen Städten für die Freilassung Alexej Nawalnys auf die Straße geht, hat sich immer wieder solidarisch mit der Opposition in Belarus gezeigt.7


 

ANMERKUNG DER REDAKTION:


Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 



1.RFE/RL Poland (2002): Belarus and Ukraine Report, Vol. 4 (24) 
2.German Economic Team Belarus: Wirtschaftsausblick Ausgabe 13 
3.RBK: Šojgu dogovorilsja s Minskom sozdat' učebno-boevye centry dlja voennych 
4.Die ZOiS Umfrage wurde im Dezember 2020 unter 2.000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 durchgeführt. Die landesweite Umfrage wurde durch eine Finanzierung des Auswärtigen Amts ermöglicht. Der Text spiegelt die Meinung der Autorin wider. 
5.Socor, Vladimir (2020): Russia Poised to Arbitrate Regime Change in Belarus, in: Eurasia Daily Monitor, Jamestown Foundation, Vol. 17, Issue 124 
6.Levada-Center: Protests in Belarus 
7.RFE/RL (2021): Minsk, Moscow, And Beyond: Belarus Protests Reverberate On Russian Streets 
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