Medien

Wie der Krieg Belarus verändern wird

Zum sechsten Mal seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine haben sich Alexander Lukaschenko und Kremlchef Wladimir Putin am vergangenen Wochenende getroffen. Im Gegenzug für seine Loyalität – Lukaschenko beschwor mit lodernden Worten die angebliche Gefahr, die von der NATO ausgehe – soll der belarussische Machthaber in den nächsten Jahren ein enormes Rüstungspaket erhalten, unter anderem das Raketensystem Iskander-M, das mit Atomwaffen bestückt werden kann. Der politische Analyst Alexander Klaskowski kommentierte das Treffen wie folgt:  „Lukaschenko, der dem Kreml jahrelang versprochen hat, dass sich die Belarussen den Panzern der NATO entgegenwerfen würden, ist sicherlich nicht begeistert von der Aussicht auf eine echte Auseinandersetzung mit den Ukrainern oder dem nordatlantischen Bündnis. Doch die Schlinge der katastrophalen Abhängigkeit von Moskau sitzt ihm im Nacken.“

Weil es immer wieder Befürchtungen und Hinweise dafür gibt, dass Lukaschenko sich doch noch mit eigenen Truppen an dem Krieg beteiligen könnte, wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky in einer Ansprache direkt an die belarussische Bevölkerung. Er warnte die Belarussen davor, sich in den Krieg hineinziehen zu lassen.

Die Abhängigkeit von Russland, die Lukaschenko im Zuge der Proteste in seinem Land auf fatale Art und Weise ausgebaut hat, hat Belarus jetzt schon eine unheilvolle Rolle in dem Krieg beschert. Auch vergangenes Wochenende wurden russische Raketen von belarussischem Staatsgebiet und aus dem belarussischen Luftraum in Richtung Ukraine abgeschossen. 

Was aber bedeuten der Krieg und die Rolle Russlands dabei für die belarussische Gesellschaft, die im Sommer 2020 so eindrucksvoll begonnen hatte, sich von ihren autoritären Strukturen emanzipieren zu wollen? Wie wirkt sich die aktuelle Situation möglicherweise auf die belarussische Identität aus, die in vielfacher Hinsicht mit russischen Implikationen verwoben ist? In einer Analyse für das Medium Nasha Niva geht der Politologe Pjotr Rudkowski, akademischer Direktor des Belarusian Institute for Strategic Studies, diesen Fragen auf den Grund.

Quelle Nasha Niva

Sehen wir uns die Bedeutung des Ausdrucks „nach Russland“ [gemeint hier im Sinne von post Russland – dek] näher an. Sogar im für Russland schlimmsten Szenario (Niederlage im Krieg gegen die Ukraine und Verlust der Krim) wird Russland als Staat weiterbestehen. Mit welchem Staatssystem und in welcher politischen Machtkonstellation – das steht auf einem anderen Blatt. 

Doch auch wenn der Krieg für Russland denkbar gut ausgeht – es behält die Krim und entreißt der Ukraine drei, vier Oblaste – wird es aus diesem Krieg extrem geschwächt und ohne Aussicht auf baldige Genesung hervorgehen. Das Land wird sich in einer Wirtschaftskrise befinden, von der internationalen Arena isoliert, ohne verlässliche Bündnispartner – nicht einmal in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) oder in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – und mit angeschlagenem militärischen Image. 

Dazu kommt der innere Faktor. Man sollte Berichten über 70 bis 75 Prozent Unterstützung der „Spezialoperation“ und über 80 Prozent Vertrauen in Putin unter der Bevölkerung Russlands nicht zu viel Bedeutung beimessen. Diese Zahlen sind zwar teilweise überzeugend, aber nur, was die Gegenwart betrifft. Der Krim-Effekt hielt drei Jahre lang an, dann ließ er nach. Und das, obwohl die damalige Spezialoperation a) unblutig, b) schnell erledigt und c) effektiv war. Die heutige Spezialoperation ist jedoch a) ein blutiger Krieg, zieht sich b) schrecklich in die Länge und ist c) ineffektiv. Hier wird der „patriotische“ Aufschwung viel schneller wieder verpuffen. Multipliziert mit der Wirtschaftskrise wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit zur sozialen Instabilität führen.  

Insofern wird Russland nach diesem Krieg „nicht mehr es selbst“ sein. Es wird ein Land sein, das die nächsten Jahre vor allem damit zu tun haben wird, zu überleben und nicht auseinanderzufallen. Es wird nicht mehr das Russland sein, das wir die letzten zwei Jahrzehnte kannten.    

Der kanadische Politologe Seva Gunitskiy veröffentlichte vor ein paar Jahren eine Studie, in der er Faktoren analysierte, die in den letzten zwei Jahrhunderten bei Systemtransformationen eine Rolle spielten. Der Autor zeigte, dass die größten Transformationen stattfinden, wenn sich auch die globale Hegemonie strukturell verändert. Am eindrucksvollsten sah man das nach den zwei Weltkriegen sowie beim Zerfall der Sowjetunion

Es gibt noch einen anderen Kontext von Transformationen – nämlich regionale Umbrüche, die sich viral verbreiten. Ein Beispiel hierfür ist der Arabische Frühling 2010 bis 2012, als durch rund 20 Länder einer Region eine Welle von Protesten mit unterschiedlichen Folgen rollte. 

In der Zeit der Proteste in Belarus 2020 gab es weder Veränderungen in der globalen Hegemonie noch eine virale Welle in der Region. Diese Art von Prozessen nennt Gunitskiy „emulativ-horizontale“ Transformationen. Sie verlaufen langsam und dauern lange, dafür ist das Ergebnis – wenn es denn erreicht wird – ziemlich beständig. Ein Beispiel dafür ist die Demokratisierung in Portugal, Spanien oder Griechenland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. 

Es kann passieren, dass ein Prozess in einem Kontext beginnt und in einem anderen fortdauert. In Polen fanden die Proteste 1980/81 genauso wie in Belarus 2020 in einer Situation statt, in der die globale Hegemonie stabil war und die Region nicht von einer viralen Welle ergriffen wurde. Doch ihre Fortsetzung – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – erfolgte bereits vor dem Hintergrund eines geschwächten Hegemons: der Sowjetunion. Diesmal führten die Proteste zu Veränderungen des Systems: Im Juni 1989 gab es freie Wahlen [in Polen – dek], die kommunistische Autokratie wurde von einer repräsentativen Demokratie abgelöst. 

Vieles weist darauf hin, dass die nächste Folge der belarussischen Proteste vor dem Hintergrund eines geschwächten lokalen Hegemons – Russlands – beginnen wird. Das garantiert noch keinen Erfolg, erhöht jedoch die Chance darauf um ein Vielfaches.   

Bruch mit dem autoritären Status quo

Wenn die Menschen in alten Zeiten schnell ein Haus bauen mussten, dann verwendeten sie das Material, das gerade am besten verfügbar war. Das konnte eine Höhle sein, ein Baum, Steine oder sogar Tierhäute. 

Identität wird meistens auf ähnliche Weise geformt. Eine aktive und langfristige „Suche nach Identität“ passiert nie in der Masse, das ist etwas für sehr motivierte Menschen, die sich die Zeit dafür nehmen können. Die Antwort auf Fragen wie „Wer bin ich? Wer sind wir?“ wird in der Regel aus schnell greifbaren Materialien modelliert: aus der dominanten Sprache im jeweiligen Umfeld und Vorstellungen über ihren Status, aus bestehenden religiösen Traditionen, aus Schulbüchern entnommenen Meinungen über die historische Rolle bestimmter Länder, aus medialen Einflüssen etc. 

In Belarus gibt es einen wichtigen Teil der Gesellschaft, auch wenn er in der Minderheit ist: Menschen, die sich aktiv für Geschichte und Sprache interessieren und ihre Zeit in den Aufbau einer starken nationalen Identität investieren. Bei allem Respekt für diese Minderheit ist es aber auch nicht verwunderlich oder gar befremdlich, dass die Mehrheit entweder nicht so motiviert ist oder einfach nicht genug Zeit und Energie dafür hat. Die Mehrheit legt ihrer Identität Elemente zugrunde, die am leichtesten verfügbar sind. 

Für etliche Generationen von Belarussen waren diese „greifbaren“, am schnellsten verfügbaren Materialien die russische Sprache, die Geschichte Russlands und/oder der UdSSR, russisches Kino, Musik und Sport, sowie ihre Wahrnehmung vom großen Einfluss Russlands in der modernen Welt. Je mehr sie sich an das Leben im unabhängigen Belarus gewöhnten, desto mehr legte sich über die russische sprachlich-kulturelle Identität eine belarussisch-etatistische Identität, die mit einer staatsbürgerlichen Zugehörigkeit zur Republik Belarus einhergeht. Für eine Analyse der Faktoren und Merkmale dieses Umstandes ist hier kein Platz, daher beschränken wir uns darauf, die Gesetzmäßigkeiten zu benennen, kraft derer die Zugehörigkeit zum russischen Sprach- und Kulturraum für viele Belarussen teilweise identitätsstiftend war und immer noch ist. Nicht einmal die Proteste von 2020 haben das wesentlich verändert.  

Der Krieg in der Ukraine führt wahrscheinlich zu einem Bruch in der Identität der Belarussen. Zum ersten Mal haben wir es mit einem internationalen Konflikt zu tun, in dem nur eine Minderheit von Belarussen Russland unterstützt und die Zahl seiner Kritiker höher ist als die Zahl der Befürworter. Im Georgienkrieg oder bei der Annexion der Krim war die absolute Mehrheit der Belarussen auf der Seite Russlands (der Identitäts-Faktor kam zum Tragen). Zusätzliche Bedeutung erhält diese Wendung dadurch, dass in früheren Phasen dieses Konflikts Lukaschenkos Medien keine Unterstützung für Russland signalisiert und sich manchmal sogar Kritik erlaubt haben. Jetzt agiert die offizielle Propaganda zwar im Interesse des Kreml, doch die Verteilung von Unterstützern und Kritikern der „Spezialoperation“ ist vergleichbar mit ihrer Verteilung innerhalb der bulgarischen Gesellschaft.  

Der Faktor der russozentrischen Identität der Belarussen verliert seine Wirkung. Russlands international gefestigtes Image als Aggressor und das Durchsickern von Informationen über Kriegsverbrechen der Russen in die belarussische Gesellschaft werden den Bruch in der Identität noch vorantreiben. Zwar wird die Verwendung der russischen Sprache kaum abnehmen, doch Russlands Image wird sich im belarussischen Weltbild radikal verändern.   

***
Für den Aufschwung 2020 haben Tausende Belarussen mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrer Freiheit bezahlt. 2022 haben für die Verteidigung ihres Landes gegen den Aggressor Zigtausende Ukrainer ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren. Das ist der schmerzhafte Aspekt dieser Vorgänge. Neben dem Gedenken der gefallenen Helden und der Solidarität mit den Leidtragenden ist jedoch auch ein anderer Aspekt zu beachten:

Russland wird als Stabilisator des belarussischen Status quo immer schwächer. Sowohl als Hegemon, als auch als Teil der Identität der Belarussen. Wie Gunitskiys Forschungsarbeit gezeigt hat, erhöht eine solche Schwächung maßgeblich die Chance auf einen Bruch des autoritären Status quo.  

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnosen
en

Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland im Dezember 1999 unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen und Präsident Lukaschenko selbst ist heute vor dem Hintergrund der Niederschlagung der Proteste von 2020 und der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners in den bilateralen Beziehungen mit Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 weder auf historische Erfahrungen als unabhängiger Staat zurückgreifen, noch verfolgte sie Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil: In der ersten Zeit wurden zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl aus seiner persönlichen Antipathie für Lukaschenko und seiner Haltung, Belarus nur als Junior-Partner zu sehen. 

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien. Das russische BIP ist im Vergleich zum belarusischen etwa 26 Mal größer (Stand 2021). Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine ab 2014 kam Belarus wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich für das Land in vielerlei Hinsicht als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet, deren genaue Inhalte aber lange (bis September 2021) nicht veröffentlicht wurden. Im Protestjahr 2020 hatten die Verhandlungen während und vor den belarusischen Präsidentschaftswahlen pausiert. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Seit 2021 erfolgte die Umsetzung der Roadmaps eher stockend. Das hat auch  mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ab Februar 2022 zu tun. Bislang sind erst sieben der 28 Roadmaps vollständig umgesetzt. Es sollen im Laufe des Jahres 2023 noch weitere Roadmaps hinzukommen. Dabei hat Russland begonnen, Belarus zunehmend unter Druck zu setzen, um Zugeständnisse hinsichtlich weitergehender Integrationsschritte zu erreichen. Aus Sicht der belarusischen Exil-Opposition könnte es dadurch in letzter Konsequenz zu einem Verlust der staatlichen Souveränität für Belarus kommen. Vor allem das Unionsprogramm zur Harmonisierung der Steuer- und Zollgesetzgebung, in dem es um die Verwaltung zahlreicher Steuern, wie etwa der Mehrwertsteuer geht, birgt für Lukaschenko das Risiko, über wirtschaftspolitische Entscheidungen im eigenen Land die Kontrolle zu verlieren. Im Rahmen der Logik dieses Vertrages würde als nächstes die Schaffung einer gemeinsamen Steuerbehörde sowie eines einheitlichen integrierten Verwaltungssystems folgen.1

Insgesamt sind die belarusisch-russischen Beziehungen seit 2022 sehr vom Krieg gegen die Ukraine und der militärischen Kooperation zwischen Russland und Belarus geprägt: Belarus wird aufgrund seiner militärischen Unterstützung Russlands international eine Mitschuld an den Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben, was zur Verhängung weiterer wirtschaftlicher Sanktionen geführt hat.2 Die Rolle von Belarus im Ukraine-Krieg wurde und wird viel diskutiert, insbesondere ob mit einem aktiven Kriegseintritt des Landes noch zu rechnen sei. Bislang ist das insbesondere aus innenpolitischen Gründen nicht erfolgt.

Wirtschaftsbeziehungen

Insgesamt leidet die belarusische Wirtschaft erheblich unter den Folgen des russischen Angriffskrieges sowie unter den verhängten Sanktionen. 2022 gab es in der Republik Belarus die schwerste Rezession seit den 1990er Jahren. Auch hat sich die Abwanderungstendenz belarusischer Unternehmen, insbesondere aus dem IT-Sektor, seit dem Krieg nochmal massiv verstärkt.3

Dabei ist der GUS-Raum, vor allem Russland, seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 68 Prozent der belarusischen Exporte und Quelle von 62 Prozent der Importe4 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in den vergangenen Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, sodass auf Belarus horrende Kosten zukommen könnten. So hofft die belarusische Führung weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver. Obwohl in der Vergangenheit sowohl von der russischen als auch von der belarusischen Seite mehrfach öffentlich behauptet wurde, dass eine Lösung für dieses Problem gefunden sei, scheint es immer noch Unstimmigkeiten darüber zu geben.5 Nichtsdestotrotz hat Minsk noch im Dezember 2022 einen für Belarus vorteilhaften Vertrag für einen Lieferzeitraum von drei Jahren für Öl und Gas abschließen können. Dennoch wird die belarusische Forderung nach gleichen Zugängen zu fossilen Energieträgern für alle Wirtschaftssubjekte des Unionsstaates nicht annähernd erfüllt.6 Daher bleibt es für Lukaschenko absolute Priorität, innerhalb des Unionsprogramms einen einheitlichen Markt für Öl und Erdgas sowie für weiterverarbeitete Produkte zu schaffen. Der Bezug dieser Rohstoffe zu Vorzugspreisen stellt nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle des belarusischen Haushalts dar und dient somit Lukaschenkos persönlichem Machterhalt.7 Er moniert daher weiterhin, dass im Gegensatz zu anderen Bereichen des Integrationsprozesses konkrete Vereinbarungen im Energie- und Transportsektor nach wie vor ausstehen.8

Belarus spielte ehedem als Transitland für russische Rohstoffe nach Europa eine zentrale Rolle. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit vom Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Resultat, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent.  

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen beiden Ländern – insbesondere von Russland – auch häufig als ein politisches Druckmittel eingesetzt wurden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich der angestrebte Unionsstaat bisher vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus begann Minsk, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidschan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die das letzte Mal im September 2021 abgehalten wurde – und erneut im Herbst 2023 stattfinden soll. Die größte jemals gemeinsam abgehaltene Übung gab es mit ca. 30.000 russischen Soldaten auf belarusischem Territorium im Februar 2022 im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine und diente als Vorwand für die Vorbereitung der Invasion.

Danach wurden im Zuge des regionalen Truppenverbands mit Russland (der schon lange bestand, aber inaktiv war) kontinuierlich gemeinsame Militärmanöver abgehalten. Das schürte sowohl in der Ukraine als auch im Westen Angst davor, dass sich Belarus mit eigenen Soldaten am Krieg beteiligen könnte und dass Truppen erneut, diesmal gemeinsam, aus Norden vorrücken. Dazu ist es bisher nicht gekommen, auch weil Lukaschenko einen solchen Schritt weiterhin scheut. 

Schritte hinsichtlich einer Integration der belarusischen Streitkräfte unter russisches Oberkommando nahmen indes in jüngster Zeit konkretere Formen an: So hat Russland nun Luftstreitkräfte dauerhaft in Belarus stationiert und das Kommando über die belarusischen Luftstreitkräfte sogar komplett übernommen. Diese Entwicklungen kulminierten im März 2023 in der Ankündigung, auf dem belarusischen Territorium taktische Nuklearwaffen aus Russland zu stationieren, wobei die Kontrolle über diese Waffen nicht an Belarus übertragen werden soll.

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, sowie die Unterstützung für Russland im Krieg gegen die Ukraine, manövrierte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders die beidseitigen Treffen von Lukaschenko und Putin seit 2020 haben verdeutlicht, dass diese Tendenz, trotz aller Emanzipationsversuche, sogar noch zugenommen hat. Damit konterkarierte der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen. Erst aus der Revolte der Söldner-Gruppe Wagner in Russland konnte Lukaschenko in jüngster Zeit wieder nennenswertes eigenes politisches Kapital schlagen, indem er sich als politischer Vermittler zwischen dem Kreml und Anführer Prigoshin einbrachte und Wladimir Putin dadurch einen persönlichen Dienst erwies. Denn: Die Abhängigkeit von Russland entspricht weder Lukaschenkos  Vorstellungen, noch spiegelt  es die Wünsche der Bevölkerung wider.

In einer Umfrage des Belarusian Analytical Workroom vom Sommer 2023 optierten lediglich vier Prozent der Befragten für einen Beitritt der Republik Belarus zur Russischen Föderation. Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern als jeweils unabhängige Staaten in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit offenen Grenzen sowie ohne Zoll- und Visumsbeschränkungen (67 Prozent der Befragten) befürwortet. 13 Prozent wünschten sich eine intergouvernementale Union. 12 Prozent würden ein normales, nicht privilegiertes Verhältnis mit geschlossenen Grenzen, Zoll- und Visumsbeschränkungen bevorzugen. Gefragt nach ihrem bevorzugten militär-politischen Bündnis, gab eine Mehrheit von 45,3 Prozent der befragten Belarusen an, dass das Land gar keiner Allianz angehören solle. 34,2 Prozent hielten an einer Mitgliedschaft in der OVKS fest. Der NATO beitreten würden lediglich 3,2 Prozent. 2,7 Prozent waren der Auffassung, dass Belarus Mitglied beider Bündnisse sein könne und 12,7 Prozent blieben in dieser Frage unentschieden. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg ist die belarusische Gesellschaft gespalten. Mehrheitlich dagegen sind die Befragten aber, dass das belarusische Territorium sowie die militärische Infrastruktur von Russland dafür genutzt werden solle. 50,2 Prozent sprachen sich dagegen aus, 30,7 Prozent dafür, während 15,9 Prozent die Frage als schwierig zu beantworten einschätzten.

Ungeachtet aller Zahlen: Belarus ist und bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Gesellschaft ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. So wurde etwa bei den landesweiten Protesten 2020 in den Losungen und den verkündeten Protestforderungen eine klare geopolitische Positionierung vermieden

Zugleich wird die Führung in Minsk weiter anstreben, seine wirtschaftlichen und rüstungspolitischen Aktivitäten soweit wie möglich zu diversifizieren, um die Abhängigkeit von Russland nicht noch zu verstärken. Da aber ca. 45 Prozent der belarusischen Wirtschaftskraft von westlichen Sanktionen beeinträchtigt sind, können derartige Bemühungen vor allem durch Handel und Kooperation mit nicht-westlichen Staaten erreicht werden.9 Dies erklärt auch die jüngsten außenpolitischen Vorstöße, wie es sie zum Beispiel mit der Bewerbung um einen Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gab.10

aktualisiert am 07.08.2023


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1. Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
2.Europäischer Rat: Restriktive Maßnahmen der EU gegen Belarus 
3.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023  
4.German Economic Team Belarus, Wirtschaftsausblick Ausgabe 17, Mai 2023 
5. Information Analysis Portal of the Union State: Tax maneuver consequences identified as main problem in Belarus-Russia relations 
6. The Jamestown Foundation: Belarus and Russia Dispute the Fundamentals of Their Relationship 
7.Turarbekeva, Roza (2023): Die »Integration« von Belarus und Russland: Die Roadmaps des Unionsstaates, Belarus-Analysen Nr. 66, 14.06.2023 
8.Prezident Recpubliki Belarus': Soveščanie po voprosam vypolnenija integracionnych programm Sojuznogo gosudarstva 
9.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und sb.by: Krutoj: tovarooborot s Rossiej my spokojno možem uvoit' v tečenie 3 – 5 let 
10.Jamestown Foundation: Belarus and Russia Advance Economic Integration (Part Two) und Shanghai Cooperation Organisation: SCO Secretary-General Zhang Ming's visit to the Republic of Belarus 
dekoder unterstützen
Weitere Themen

Die ostslawischen Sprachen

Die ostslawischen Sprachen Russisch, Belarussisch und Ukrainisch stehen in einem engen Verhältnis zueinander — und haben doch jeweils eigene Wurzeln. Der Sprachwissenschaftler Jan Patrick Zeller beleuchtet die Geschichte dieser Sprachen, die vom Kreml im Krieg gegen die Ukraine immer wieder propagandistisch umgedeutet wird. 

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)