Alexander Lukaschenko hat in den vergangenen 30 Jahren ein hochzentralisiertes und -personalisiertes Machtgefüge geschaffen, in dem praktisch keine wichtigen Entscheidungen ohne ihn getroffen werden können. Dabei ist der belarussische Machthaber schon 70 Jahre alt. Die Frage, wie eine Nachfolge aussehen könnte, ist also zentral für das Überleben des von Lukaschenko geschaffenen autoritären Systems.
In einem Projekt der Initiative Center for New Ideas analysieren Ryhor Astapenia und Pavel Matsukevich mögliche Szenarien eines Machttransits. Welche Gruppierungen und Organe könnten im Falle von Lukaschenkos Aus die Macht übernehmen? Welche Rolle spielen Lukaschenkos Söhne dabei? Im Interview mit dem Online-Portal GazetaBy gibt Astapenia Antworten.
Alexander Lukaschenko mit seinen Söhnen Viktor, Nikolai und Dmitri (v.l.n.r.) bei einer Parade zum Tag des Sieges in Minsk im Jahr 2019. / Foto © Itar-Tass/ Imago
Gibt es überhaupt einen Anlass, über Machtwechsel zu sprechen, abgesehen von der Tatsache, dass Alexander Lukaschenko schon über siebzig ist? Das Alter muss ja nicht nichts bedeuten, Robert Mugabe hat in Simbabwe noch mit 93 regiert ...
Es liegt auf der Hand, dass Lukaschenko so lange wie möglich regieren will. Andererseits zeugen seine Taten – die Gründung der Allbelarussischen Volksversammlung und die sich mehrenden Gespräche darüber, dass „es Zeit für mich ist, abzutreten“ – davon, dass das Thema auf der Agenda steht.
Natürlich sollte man dem fahrenden Zug nicht vorauseilen und behaupten, dass es schon morgen einen neuen Präsidenten geben könnte. Aber die Frage wird zunehmend aktuell. Deshalb sprechen wir im Titel unserer Studie vom „Beginn des Machttransits“.
Hat der Prozess aus Ihrer Sicht wirklich begonnen oder wurden die Mechanismen wie die Volksversammlung nur für alle Fälle geschaffen? Vielleicht kommen sie nie zum Einsatz, wenn sich Lukaschenkos Gesundheit nicht gerade rapide verschlechtert?
Ich denke, Lukaschenko will nicht zu viele Signale aussenden, dass er abtreten will. Das würde bei verschiedensten Akteuren viele Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen auslösen. In Russland, in der belarussischen politischen Emigration und auch innerhalb des Landes würden unnötige Gärungsprozesse beginnen.
Betrachtet man aber alle Veränderungen in Kombination – die Verankerung von Sicherheitsgarantien für Expräsidenten in der Verfassung, die Erwähnung einer neuen politischen Klasse in der Neujahrsansprache und den Beschluss, dass die Macht nach dem Tod des Staatsoberhauptes auf die Volksversammlung übergeht – dann kann man vom Beginn des Machttransits sprechen.
Lukaschenko verändert sich sichtlich, man sieht das gut, wenn man ihn mit Fotos aus früheren Jahren vergleicht. Es ist praktisch unausweichlich, dass es innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre einen neuen belarussischen Staatschef geben wird.
Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will
Gemeinsam mit ihrem Co-Autor Pavel Matsukevich, Senior Researcher am Center for New Ideas, unterscheiden Sie zwei Szenarien für den Machtwechsel: den geplanten und den unkontrollierten. Wie realistisch ist es denn, dass Lukaschenko, wenn er nicht gerade im Sterben liegt, jemand anderem die Macht übergibt?
Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will. Es wäre aber naiv zu denken, dass wir alles über ihn wissen. Es gibt viele Faktoren, die seine Entscheidungsfindung beeinflussen können. Deshalb würde ich hier sagen: fifty-fifty.
Lassen Sie uns noch ein wenig spekulieren. Soziologen stellen gern Fragen wie „Wen würden Sie wählen, wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären?“. Wenn der Machtwechsel morgen in seine aktive Phase überginge, auf wen würde Lukaschenko setzen?
Wenn wir uns den Aufbau des Systems anschauen, sehen wir, dass es einen bestimmten Kreis von Menschen gibt, die schon vergleichsweise lange an der Macht sind und sich eine bedeutende Rolle erarbeitet haben: Nikolaj Snopkow (erster Vizepremier - GazetaBy), Alexander Turtschin (Premierminister), Dmitri Krutoj (Chef der Präsidialverwaltung und andere. Das ist die Gruppe, die das Funktionieren der Wirtschaft und im Prinzip auch des Staates verantwortet.
Natürlich gibt es die Familie (darunter fasst die Studie Alexander Lukaschenkos Verwandte und Vertraute zusammen, auch seine Kinder, die ebenfalls über große Ressourcen verfügt. Berücksichtigt man Lukaschenkos monarchische Befugnisse, wäre es naiv, eine Erbfolge beim Machtwechsel auszuschließen, also eine Übergabe vom Vater an den Sohn (höchstwahrscheinlich an den ältesten). Das könnte vom politischen System als ausreichend logische Entscheidung akzeptiert werden und auch für den Kreml legitim klingen. Sobald man aus einem weiteren Personenkreis auswählen muss, wächst Russlands Einfluss auf den Prozess.
Häufig wird auch über die Silowiki als potenzielle Anwärter auf die Macht gesprochen. Ihre Chancen würden im Fall einer Krisensituation wachsen – bei einem scharfen Konflikt mit einem anderen Staat oder Massenprotesten innerhalb von Belarus. Andererseits haben diese Menschen nie die Verantwortung für das Funktionieren des Staates getragen. Die Silowiki sind in diesem System Bonusempfänger, keine Gestalter.
Genau das halte ich für die kontroverseste Schlussfolgerung in Ihrer Studie: „Im Falle eines Machtwechsels werden sie [die Silowiki] sich wahrscheinlich mit der neuen Macht verbünden, sofern der Wechsel aus dem System entsteht, und nicht selbst die Macht beanspruchen.“
Die Silowiki haben tatsächlich nie selbst gestaltet, aber was hindert sie daran, dieselben Technokraten anzuheuern (oder sie zu zwingen ihnen zu dienen), die jetzt für Lukaschenko arbeiten? Zudem gibt es das russische Modell, wo eine Elwira Nabiullina vorgeblich die Probleme für Wladimir Putin löst.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die Silowiki zudem Unterstützung aus Russland erhalten, insbesondere im Fall eines unkontrollierten Machtwechsels.
Hier ist es wichtig, die aktuell bestehende Hierarchie zu betrachten, in der die Silowiki etwas niedriger stehen als die Leiter der Regierung und der Präsidialverwaltung. Der Logik nach kommen die Silowiki also nicht an erster Stelle, wenn die Macht von oben nach unten weitergegeben wird. Natürlich kann man die Situation, wenn Alexander Lukaschenko abtritt, nur schwerlich nicht als Krise bezeichnen [lacht], aber dennoch haben die Vertreter in der Verwaltungsvertikale mehr Möglichkeiten. Zudem spielt es eine Rolle, dass diese Leute schon länger im System sind. Bei den Silowiki gibt es häufiger Rotation.
Ich stelle eine naive Frage: Wenn Viktor Lukaschenko der wahrscheinlichste Nachfolger ist, warum hat sein Vater dann schon mehr oder weniger eine Million Mal gesagt: „Meine Söhne werden keine Präsidenten“?
Es ist eine gewisse Koketterie zu sagen „ich werde das nicht tun“. Warum sollte man das Thema des Machttransits an die Kinder eher als nötig aufbringen? Wenn die Entscheidung getroffen wird, wird sie umgesetzt. Im aktuellen Rechtssystem findet sich für alles ein Weg, wenn nötig über Nacht. Jetzt darüber zu sprechen, würde mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Es würde nur Leute verprellen.
Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass Lukaschenko für einen geplanten Machttransit einen Präsidenten mit einem anderen Familiennamen im Blick hat. Als er das Amt des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees abgeben musste, ging der Titel an seinen Sohn: vermutlich der Logik des aktuellen Machthabers folgend, dass es in Belarus keine Präsidenten mit einem anderen Familiennamen geben darf.
In Ihrer Studie heißt es: „Es ist ungewiss, welche Institutionen für den Machttransit genutzt werden. Es gibt zu viele Optionen dafür.“ Welche Varianten gibt es denn, außer die formal existierenden „Präsidentschaftswahlen“?
In Anbetracht der Tatsache, dass die Machthabenden die Gesetzgebung beliebig ändern und sie im Prinzip sogar ignorieren können, gibt es sehr viele Varianten. Zum Beispiel könnte ein neuer Präsident von der Allbelarussischen Volksversammlung gewählt werden.
Ein Machttransit könnte auch einfach nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden
Es gibt das Szenario, dass das Land im Fall des Todes von Alexander Lukaschenko vom Sicherheitsrat regiert wird. In diesem Fall würde aber der Vorsitzende des Rates der Republik der Nationalversammlung zum formalen Staatsoberhaupt. Das ist aktuell kein Silowik. Und auch das ist ein Argument für die These, dass die Silowiki im Moment des Machtwechsels keine dominante Position innehaben werden. Man kann sich noch viele weitere Varianten ausdenken. Alles in allem hängt es aber nicht von den Institutionen ab. Der politische Wille entscheidet. Wenn es ihn gibt, wird es Veränderungen geben. Wenn nicht, dann nicht.
Selbst wenn man einmal annimmt, dass Alexander Lukaschenko plötzlich stirbt, dann müsste die Macht eigentlich auf den Sicherheitsrat übergehen. Das heißt aber nicht, dass es so kommt. Es kann auch einfach alles nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden.
Inwiefern können personelle Veränderungen auf der politischen Führungsebene Ihre Studienergebnisse beeinflussen – aktuell und zukünftig?
Wir beobachten natürlich die Personalwechsel und die Änderungen in den Strukturen, wer geht, wer dazukommt. Einen Tag nach Erscheinen unserer aktuellen Studie wurde Wladimir Karanik [bis 22.05.25 Vizepremier] in die Akademie der Wissenschaften versetzt und Natallja Petkewitsch aus der Präsidialverwaltung [als neue Vizepremier] in die Regierung geholt. Das System modernisiert sich zusehends. Eine Person ist gegangen, die selbst nach den Maßstäben der herrschenden Klasse eine verknöcherte Weltsicht vertritt.
Wir verfolgen also diese Personalwechsel, beforschen aber eher das Gesamtsystem als einzelne Personen. Nicht immer gibt es genügend Informationen, um eine konkrete Ernennung oder Entlassung erklären zu können. Aber wenn man die Situation langfristig beobachtet, kann man bestimmte Tendenzen erkennen, vor allem eine Verjüngung des Personals. Es kommen kompetentere Leute an die Macht.
In Ihrer Studie wird die Opposition nur ganz am Rande erwähnt. Dennoch, was können die demokratischen Kräfte tun, um eine relevante Rolle zu spielen, sobald die aktive Phase des Machttransits beginnt?
Der zentrale (man könnte auch sagen: der einzige) Hebel der Demokraten wird der Westen sein. Vorausgesetzt, der Westen will, dass die Opposition in irgendeiner Form am politischen Leben in Belarus teilnimmt, kann er vermutlich Einfluss auf die herrschende Klasse ausüben. Deshalb muss man darauf hinarbeiten, dass der Westen sich für Veränderungen in Belarus starkmacht.