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„Wolodja, verdirb nicht den Abend“

Langweilig ist es zwischen Moskau und Minsk selten. Einmal mehr illustrierten das die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko am vergangenen Freitag bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz in Richtung Russland losließ. Ein für den 9. Februar geplantes Treffen von Putin und Lukaschenko wurde danach auf unbestimmte Zeit verschoben.

Hat man in den beiden Hauptstädten noch vor wenigen Jahren die Idee des Russisch-Belarussischen Unionsstaats weitergesponnen, sind inzwischen Streitigkeiten um Öl- und Gaszahlungen zur Regelmäßigkeit geworden. Deutlich verschärft hat sich der Ton nach der Krim-Angliederung im März 2014: Lukaschenko stellte damals etwa die vermeintliche historische Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland in Frage und meinte, dass man nach dieser Logik große Teile Russlands an Kasachstan und die Mongolei zurückgeben müsste.

Artyom Shraibman, Politik-Redakteur des unabhängigen belarussischen Nachrichtenportals tut.by, vergleicht Russland und Belarus mit einem alten Ehepaar. Nach der jüngsten Wutrede Lukaschenkos fragt er im russischen Online-Medium Carnegie.ru: Ist es mit der Romantik nun endgültig vorbei? 

Quelle Carnegie

Freundschaft auf Eis?  / Foto © kremlin.ru

Die skandalöse Pressekonferenz von Alexander Lukaschenko Anfang Februar hat die Seiten der russischen Medien gefüllt. Was vielleicht wie ein plötzlicher Wutausbruch erschien, war wohl eher ein ziemlich erwartbares Ereignis in der Abwärtsspirale der russisch-belarussischen Beziehungen.

Der aktuelle Streit zwischen Minsk und Moskau ist vielschichtig wie nie. Wie in einen Strudel werden jeden Monat neue Bereiche der bilateralen Beziehungen hineingezogen, angefangen bei Gas und Öl bis hin zu Grenzfragen und Streitereien um Lebensmittelbestimmungen. Diese Krise speist sich aus sich selbst. Das Negative in der Berichterstattung und wechselseitige Verärgerungen erzeugen neue, unnötige Skandale: Die Verhaftung prorussischer Publizisten, Lukaschenkos demonstrative Abwesenheit bei den Gipfeltreffen der OVKS und der Eurasischen Wirtschaftsunion in Sankt Petersburg sowie die Minsker Entscheidung, den russisch-israelischen Blogger Alexander Lapschin nach Aserbaidschan auszuliefern.

Zuletzt erfolgte die Entscheidung des FSB, an der Grenze zu Belarus ein Grenzregime einzurichten. Dieser Schritt bedeutet in erster Auslegung eine de facto-Einführung von Passkontrollen, und zwar dort, wo es praktisch nie welche gab.

Katharsis eines Präsidenten

Lukaschenkos Pressekonferenz wäre womöglich nicht so emotional geraten, hätte der FSB diese Entscheidung nicht erst wenig Tage vorher verkündet. Vernichtend wäre sie allerdings trotzdem ausgefallen, weil so oder so der Siedepunkt erreicht war. Der Auftritt des belarussischen Präsidenten enthielt mehr Emotionen als Politik: Er machte seinem Ärger Luft, baute den angestauten Stress ab.

Zu Beginn des rekordverdächtigen siebeneinhalbstündigen Gesprächs mit Presse und Volk vermied Lukaschenko sogar das Wort „Russland“. Ungefähr so, wie Wladimir Putin den Namen Alexej Nawalny niemals öffentlich in den Mund nimmt. Gefragt nach den Beziehungen zu Moskau sprach Lukaschenko fast anderthalb Stunden. Dabei begann er mit den Worten: „Die Lage ist an einem Punkt angelangt, an dem ich kaum das Recht habe, etwas zu verhehlen.“ Auf das Thema kam er sogar dann zurück, wenn es  um ganz andere Fragen ging. Eine vollständige Liste der auf der Pressekonferenz geäußerten Vorwürfe gegenüber Russland würde etliche Seiten füllen. Versuchen wir es stichpunktartig:

Lukaschenko beschuldigte Moskau, internationale Öl-, Gas-, und Grenzverträge verletzt zu haben. Er erklärte, er habe wegen des Öl- und Gasstreits gegen Russland bereits Klage eingereicht und die belarussischen Vertreter aus den Zollgremien der Eurasischen Wirtschaftsunion abberufen. In Bezug auf die sich hinziehende Unterzeichnung des Zollgesetzbuches der Eurasischen Union erklärte Lukaschenko, dass er das Dokument bis zu einer Lösung des Öl- und Gasstreits nicht anrühren werde. Er äußerte den Vorwurf – der auf der Hand liegt, aus dem Munde eines Verbündeten jedoch grob klingt – dass Russland Belarus nicht als unabhängigen Staat wahrnehme.

Lukaschenko hat den Innenminister angewiesen zu prüfen, ob nicht ein Strafverfahren gegen Sergej Dankwert, den Chef der russischen Landwirtschaftsaufsicht (Rosselchosnadsor), eröffnet werden könne. Dabei drohte er Dankwert mit einer Untersuchungshaft in Minsk, damit ihm die Lust vergehe, belarussische Lebensmittel zu verbieten. Erneut kam die Weigerung, einen russischen Luftwaffenstützpunkt einzurichten, dabei hat Moskau dieses Thema seit einem Jahr nicht mehr öffentlich angesprochen.

„Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin“, erklärte Lukaschenko programmatisch. Es wurden auch Details aus vertraulichen Verhandlungen auf höchster Ebene ausgeplaudert, mit bissigen Zitaten wie: „Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“ und „Das habe ich Putin bereits gesagt, als der noch Demokrat war“.

Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin

Es wäre falsch zu sagen, dass Lukaschenko vollständig die Kontrolle über sich verloren hätte. Neben Dutzenden skandalöser Erklärungen, die dann meist Schlagzeilen machen, gab es genauso viele besänftigende Töne. Der belarussische Präsident versprach, auf die FSB-Entscheidung über die Verschärfung des Grenzregimes nicht mit gleicher Münze zu antworten, um den Russen keine Probleme zu bereiten. Lukaschenko folgte der in unseren Ländern klassischen Formel „Gut ist der Zar, böse sind die Bojaren“ und gab nicht Putin die Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen, sondern seinem Umkreis: „Da gibt es in der Tat unterschiedliche Kräfte. Sie sind heutzutage leider auch an der Spitze des Landes zu finden. Und was besonders schlecht ist: Einige Dinge weichen von den Ansichten und Entscheidungen des Präsidenten selbst ab.“

Lukaschenko ist ein erfahrener Verhandlungsführer, und der rhetorische Schachzug leuchtet ein. Indem er Putins Untergebenen die Schuld an den Problemen in die Schuhe schiebt, gibt er Putin, so dieser will, die Möglichkeit zu einer Aussöhnung ohne Gesichtsverlust. Auf diese Weise haben beide Seiten die vergangenen 15 bis 20 Jahre agiert: Sobald die Menge der Streitereien auf Ebene der Ministerien und Staatskorporationen qualitativ relevant wurde, mischten sich die Präsidenten ein, und im Namen der jahrhundertealten Bruderschaft entschieden sie alles gütlich.

Jetzt geschieht nichts dergleichen, und so gelangen wir zu einem weiteren Grund für Lukaschenkos  demonstrativen Zorn: Er will den früheren Putin am Verhandlungstisch zurückhaben, statt all jene unfreundlichen Gesprächspartner aus Moskau, mit denen Minsk in den vergangenen Monaten zu tun hatte.

Es stimmt, dass zwischen den Präsidenten eine persönliche Abneigung und eine psychologische Unvereinbarkeit besteht. Andererseits war Wladimir Putin nahezu das einzige Kraftzentrum innerhalb der russischen Elite, das die Beziehungen der beiden Staaten potenziell auf positive Bahnen lenken konnte.

Die schwindende goldene Mitte

Traditionell hat es in der russischen Elite drei Ansätze für die Beziehungen zu Belarus gegeben, zwei extreme und einen zentristischen.

Eins der Extreme ist der Ansatz der pragmatischen Marktwirtschaftler in der Regierung, zu deren Exponenten Dimitri Medwedew und Arkadi Dworkowitsch gezählt werden können – sowie zuvor auch Alexej Kudrin und Anatoli Tschubais. Auf der Expertenebene werden diese Positionen in Kreisen der Higher School of Economics vertreten. Diesen Leuten ist eine imperiale Agenda, die Idee eines „Sammelns postsowjetischer Erde“ fremd; Lukaschenkos Lieblingsargument „Wir haben doch gemeinsam in den Schützengräben gekämpft!“ lässt sie kalt. Das von einigen russischen Intellektuellen verehrte Lager der Pragmatiker war für die belarussische Regierung immer schon  der unangenehmste Verhandlungspartner. Diese russischen Funktionäre und Experten vertreten am aktivsten den Standpunkt, dass Minsk im Großen und Ganzen ein Schmarotzer sei und endlich nicht mehr durchgefüttert werden sollte.

Das andere Extrem ist imperial und nationalistisch. Es ist im Block der Silowiki verbreitet sowie auf der Expertenebene unter Verfechtern des Russki mir, radikalen Eurasiern und Slawophilen. Deren Agenda ist einfach: Die Unabhängigkeitsspielchen der Provinz im Nordwesten sind natürlich amüsant, doch werden sie früher oder später ein Ende haben müssen. Solange Lukaschenko auf einem Integrationskurs bleibt, ist er auf unserer Seite, sobald er aber dem Westen Avancen macht, muss man ihn daran erinnern, wer hier der kleine Bruder ist.

Der belarussische Präsident hat auch das imperiale Lager in der russischen Elite nicht allzu sehr in sein Herz geschlossen, weil er weiß, dass ihm in dessen Weltbild allenfalls ein Gouverneursposten zufallen würde. In guten Zeiten immerhin hatte Lukaschenkos traditionelle Rhetorik von der unverbrüchlichen slawischen Bruderschaft durchaus eine Wirkung auf die russischen Imperialen gehabt.

Putin als Schlichter zwischen den Extremen

Wladimir Putin übernimmt auf der innerrussischen Bühne oft die Rolle des zentristischen Schlichters zwischen dem pragmatisch-liberalen Kremlturm einerseits und dem der Konservativen und Silowiki andererseits. Einen solchen vermittelnden Ansatz hatte Putin auch stets gegenüber Minsk verfolgt, was Lukaschenko sehr entgegenkam.

Zum einen ist der auf Integration gerichtete Eifer des Kreml fast immer duldsam gewesen, weil Putin kein fanatischer Anhänger der eurasischen Ideen ist. Zum anderen drehte Putin regelmäßig die von der eigenen Regierung zugedrehten Öl- und Gashähne wieder auf, weil er für Beschwörungen einer slawischen Bruderschaft empfänglich ist.

Die Konflikte zwischen Minsk und Moskau erfolgten immer dann, wenn die Linie des Kreml einem der beiden Extreme zuneigte: angefangen mit Putins Vorschlag, dass Belarus 2004 in Form von sechs Verwaltungsgebieten Russland beitreten könnte, bis hin zum Schwenk in Richtung der Pragmatiker unter der formalen Präsidentschaft Medwedews. Es ist kein Zufall, dass die letzte anhaltende Krise der Beziehungen – mit ihren Milch-, Zucker-, Öl- und Informationskriegen – in den Jahren 2009 und 2010 war.

Plumper Druck auf Minsk: Ölhahn auf und wieder zu

Lukaschenkos Problem besteht heute darin, dass die goldene Mitte allmählich aus der Rechnung herausfällt. Denn diese extremen und bislang marginalen Ansätze innerhalb der russischen Außenpolitik sind nun eigenmächtig und ebenbürtig geworden, zumindest wenn es um Belarus geht. Es scheint, als sei Wladimir Putin vollauf mit der globalen Agenda beschäftigt und kümmere sich einfach nicht mehr um Kleinigkeiten wie die Streitereien mit Minsk. Deren Lösung wurde delegiert an Silowiki und Traditionalisten oder aber an Pragmatiker und Technokraten. Hierher rührte denn auch der plumpe Druck auf Minsk zur Errichtung eines Luftwaffenstützpunktes einen Monat vor Lukaschenkos Wiederwahl 2015 und das Ansetzen des Energiehebels bis zum Anschlag: Nämlich dann, wenn Moskau zur Eintreibung der Minsker Schulden aus Gaslieferungen ganz unverhohlen einfach die Öllieferungen drosselt.

Das hatte auch Lukaschenko beiläufig erwähnt, als er auf der Pressekonferenz von den schleppenden Gasverhandlungen mit Putin sprach: „Als wir bei ihm waren, haben wir bis zwei Uhr nachts alles besprochen, ganz familiär. Und dann kam die letzte Frage: Er nimmt seine Unterlagen und versucht, mir irgendwas zu erklären. Ich sagte ihm: ‚Warte mal, willst du sagen, dass ihr diesen Weg nicht so gehen könnt, wie eigentlich beabsichtigt?‘ ‚Ja, ich habe meine Gründe, die Minister haben sich bei mir gemeldet‘.“

Lukaschenko möchte, dass Putin wie früher die Minister im fraglichen Moment aus Konflikten heraushält und selbst entscheidet – und nicht, andersherum, die Probleme auf Untergebene abwälzt. Daher rührt auch der heftige Ton der Pressekonferenz. Der belarussische Präsident möchte sich beim russischen Kollegen laut Gehör verschaffen, damit dieser endlich den erbärmlichen Zustand der Beziehungen zur Kenntnis nimmt.

Herbst einer Ehe

Wie im Streit zweier Eheleute muss einer manchmal laut werden. Minsk hat Dampf abgelassen. Jetzt sollte das Pendel des Konflikts – zumindest auf der öffentlichen Ebene – vom nervenaufreibenden Höhepunkt langsam wieder in ruhigere, eingeschliffene Bahnen zurückschwingen.

Der Öl- und Gasstreit wird, falls er nicht beim Treffen von Putin und Lukaschenko am 9. Februar beigelegt werden kann [das Treffen wurde verschoben - dek], vor dem Gerichtshof der Eurasischen Union landen. Die belarussischen Schulden von einer halben Milliarde US-Dollar werden derweil weiter anwachsen und darauf warten müssen, dass die Politiker sie wenigstens zum Teil abschreiben oder Kompensationsmechanismen finden.

Derweil wird Sergej Dankwert wohl kaum ein Strafverfahren zu befürchten haben, solche Spitzen sind zu riskant, schließlich handelt es sich um einen hochrangigen Funktionär der föderalen Verwaltung. Dankwert wird allerdings auch kaum aufhören, immer mal belarussisches Rindfleisch und Milch an der Grenze zurückzuschicken. Der Blogger Lapschin wird wohl nach Aserbaidschan ausgeliefert werden [Lapschin wurde inzwischen bereits ausgeliefert – dek] und danach in eines der Länder überstellt, deren Staatsangehörigkeit er hat. Die Fachleute vom Grenzschutz werden sich hinsetzen und erörtern, wie man nun auf neue Art mit der gemeinsamen Grenze leben wird: Die visafreie Einreise für Europäer und Amerikaner nach Belarus tritt ab dem 12. Februar in Kraft, und Moskau wird begreifen, dass bisher kein Strom westlicher Migranten die Gebiete Smolensk und Brjansk im Sturm nimmt.

Doch der Konflikt wird nie mehr ganz verschwinden. Um erneut die Ehe-Analogie zu bemühen: In den Beziehungen zwischen Belarus und Russland hat der Alltag endgültig die Romantik abgetötet, mit der vor 20 Jahren alles anfing. Aus einem komplizierten Bund zweier emotionaler Partner mit ihren Macken und einem Hang zu gegenseitiger Erpressung ist eine Scheinehe geworden. Der Mann hat jetzt neue Interessen, die Frau kokettiert mit dem Nachbarn, zuerst als Neckerei und Spiel der Eifersucht, dann aus längerfristigem Kalkül: Womöglich wird man sich früher oder später eine neue Bleibe suchen müssen.

Geht es einer Scheidung entgegen?

Geht es einer offiziellen Scheidung entgegen? In absehbarer Zukunft nicht, das wäre nicht die slawische Art. Die heutigen Eliten, seien es die in Minsk oder in Moskau, werden sich wohl an den vielzähligen Formaten bilateraler Integration festhalten: Unionsstaat, OVKS, Eurasische Wirtschaftsunion, GUS, all diese hübschen Stempel im Pass. Umso mehr, als von deren Existenz für Belarus ganze Wirtschaftszweige abhängen und für den russischen Nachbarn das Image eines attraktiven Gravitationszentrums, das Russland aufrechterhalten will.

Doch das ändert nichts am Kern der Sache – das gewohnte Beziehungsformat steckt in der Sackgasse. Während sie sich ständig neue Beulen zufügen, wird beiden Seiten bewusst, dass eine Integration derart unterschiedlich großer und gleichzeitig autoritärer Länder nicht sowohl gleichberechtigt als auch finanziell unkompliziert sein kann. Alle Versuche Moskaus, seine jahrelangen Investitionen in einen größeren Einfluss auf Minsk umzumünzen, werden auf Widerstand stoßen. Im gleichen Maße, wie sich Belarus an seine Unabhängigkeit gewöhnt hat, ist dessen ewiger Präsident nicht fähig, seine Macht mit irgendjemandem zu teilen. Und die belarussischen Versuche, Moskau für das frühere Lehens-Modell wiederzugewinnen – in Belarus trägt das den schönen Namen „Öl gegen Küsse“ – sind ebenfalls fruchtlos. Der Kreml ist daran nicht mehr interessiert.
Selbst wenn es gelingen sollte, den aktuellen Streit unter großen Anstrengungen einzudämmen, wird er in die Geschichtsbücher eingehen, zumindest in die belarussischen. Nach der Unabhängigkeitserklärung und deren institutioneller Verankerung – eine eigene Bürokratie, Währung und Armee – ist dieser Konflikt für Belarus eine der wichtigsten Etappen, um sich von der einstigen imperialen Metropole abzunabeln.

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Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde mit der Auflösung der Sowjetunion am 8. Dezember 1991 gegründet und umfasste zunächst alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit Ausnahme des Baltikums. Die GUS ist ein loser Staatenverbund, der trotz breiter Kooperationsziele kaum wirkliche Integration geschaffen hat. Wichtiger wurden im Laufe der Zeit andere Projekte, wie etwa die Eurasische Wirtschaftsunion.

„Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ – dieser Ausdruck, der in den 1990er Jahren in aller Munde war, hört man noch immer gelegentlich. Ursprünglich angetreten mit umfassenden Kooperationszielen, stellte sich das Bündnis aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion bald weitgehend als Papiertiger heraus: Zahllose Gremien tagten, wurden jedoch kaum eingesetzt, um echte Probleme zu lösen, die Kooperation zu vertiefen oder die Staaten rechtlich zu integrieren. Die GUS ist nicht mehr als ein loser Staatenverbund – dient allerdings als Basis für ernsthaftere Integrationsprojekte im post-sowjetischen Raum.

Die Gründung der GUS ist das Spiegelbild der Auflösung der Sowjetunion: Die Präsidenten der Ukraine, Russlands und Belarus’ unterzeichnen am 8. Dezember 1991 die Vereinbarungen von Beloweschskaja Puschtscha, die das Ende der UdSSR besiegelt und mit demselben Federstrich die GUS als Nachfolgeorganisation einsetzt. Bis zum Ende des Jahres treten ihr alle ehemaligen Teilrepubliken bei – bis auf die baltischen Staaten, die sich sofort in Richtung EU orientieren, und bis auf Georgien, das erst 1993 dazukommt.

Wie ist diese Gemeinschaft konzipiert? Ihre Charta von 1993 stellt klar: Alle beteiligten Staaten sind souverän, die GUS hat – im Gegensatz zur EU – „keine supranationalen Kompetenzen“.1 Die Staaten verpflichten sich zu Kooperation in Wirtschaft, Umweltschutz, Menschenrechten und Sicherheitspolitik und etablieren zahlreiche Gremien, deren Vereinbarungen jedoch nie in nationales Recht umgesetzt werden.2 Auch um die gelegentlichen Handelskriege zu schlichten, ist die Organisation kein effektives Forum. Ein Grund dafür liegt in Russlands Außenpolitik, die bis in die 2000er hinein klar nach Westen ausgerichtet war. Russland setzte oft nur dann auf Integration mit den post-sowjetischen Nachbarn, wenn das gegenüber der EU oder dem Baltikum von strategischem Nutzen war.3 Zudem sind die einzelnen GUS-Mitgliedsstaaten für Russland von höchst unterschiedlicher Wichtigkeit – klar, dass Russland stärker auf bilaterale Vereinbarungen und kleinere Verbünde setzt, wie etwa die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Gründung 2002) oder die Zollunion mit Belarus und Kasachstan (Gründung 2010).4

Die GUS hat jedoch durchaus Effekte, wenn auch vor allem psychologische: Zum einen dämpft das Bekenntnis zur Kontinuität die Zerfallsdynamik der ehemaligen UdSSR. Der offiziell kundgegebene Wille zur Integration vereinfacht auch die transnationale Zusammenarbeit unter den Staaten, die sich ohnehin noch immer eine gemeinsame Infrastruktur teilen, eine Sprache sprechen und kulturell und sozial stark miteinander verbunden sind.5 Auch für die jeweiligen Staatschefs spielt die GUS eine stabilisierende Rolle: So erklärt die Wahlbeobachtungsorganisation der GUS auch heute noch regelmäßig Wahlen in der Region für frei und fair – insbesondere dort, wo die OSZE Probleme sieht (wie z. B. 2005 in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan und 2011 in Russland).

Der größte formale Erfolg der GUS ist sicher die Errichtung einer Freihandelszone im Jahr 2011 – die Erfüllung eines seit Anbeginn anvisierten Ziels. Allerdings umfasst das Abkommen nicht alle ursprünglichen GUS-Staaten: Georgien ist bereits 2008 nach dem Russisch-Georgischen Krieg aus der GUS ausgetreten. Auch Aserbaidschan und Turkmenistan sind, obwohl GUS-Mitglieder, nicht Teil der Freihandelszone. Und die Ukraine, die Teil des Abkommens war, wird von Russlands Präsident Putin persönlich Anfang Dezember 2015 ausgeschlossen – wegen ihrer wirtschaftlichen Assoziation mit der EU.6

Die GUS als solche, so zeigt sich, hat nie die Integrationskraft entfaltet, die ihre Gründer in der Charta festgelegt hatten. Zu unterschiedlich sind die Interessen der beteiligten Staaten, zu asymmetrisch die Beziehungen. Auf Basis des lockeren Verbundes etablieren sich jedoch viele andere Integrationsprojekte kleineren Umfangs, mit deren Hilfe die beteiligten Staaten – allen voran der regionale Hegemon Russland – ihre Interessen effektiver wahrnehmen können. Das wichtigste Projekt dieser Art ist bislang ohne Zweifel die Eurasische Zollunion, die 2015 mit zwei neuen Mitgliedern in die Eurasische Wirtschaftsunion übergeht.


1.dipublico.org: Charter Establishing the Commonwealth of Independent States (CIS)
2.Libman, Alexander (2007): Regionalisation and regionalism in the post-Soviet space: Current status and implications for institutional development, in: Europe-Asia Studies, 59(3), S. 401-430, hier S. 403
3.Lo, Bobo (2002): Russian foreign policy in the post-Soviet era, Hampshire, S. 72-96
4.Zu diesen Projekten siehe z. B. Meister, Stefan (2011): Ein neues Etikett für Russlands Politik im GUS-Raum, Russlandanalysen Nr. 237
5.Libman (2007), S. 415-17
6.The Moscow Times: Russia Suspends Free Trade Agreement with Ukraine
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)