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„Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun“

Seit Wochen befürchtet die ukrainische Führung, Alexander Lukaschenko könnte eigene Truppen in den Krieg entsenden und zusammen mit Russland eine zweite Front eröffnen. Am 3. Juli, dem Tag der Unabhängigkeit, erklärte der belarussische Machthaber in einer Rede zum Feiertag in deutlich aggressiver Rhetorik: „Wir sind das einzige Land, das die Russen in diesem Kampf unterstützt. Diejenigen, die uns Vorwürfe machen: Wussten Sie nicht, dass wir ein enges Bündnis mit der Russischen Föderation haben? Dass wir praktisch schon eine gemeinsame Armee haben ...? Wir waren und werden mit dem brüderlichen Russland zusammen sein. Unsere Teilnahme an der Spezialoperation wurde von mir vor langer Zeit beschlossen.“

Belarussische Medien berichten aktuell von Einberufungsbescheiden, die verstärkt in Belarus verschickt würden. Am vergangenen Wochenende begann das ukrainische Militär, die Grenzregion zur Ukraine zu verminen. Entsprechend hitzig wird in Medien und sozialen Medien über die Rolle von Lukaschenko und der belarussischen Gesellschaft im Angriffskrieg des Kreml gegen die Ukraine debattiert. Das ukrainische Online-Portal Ewropeiskaja Prawda kritisiert in einem Leitartikel die zweideutige Politik der ukrainischen Führung, die bis heute nicht die Beziehungen zu Lukaschenko abgebrochen, lange auf den intensiven Handel zwischen beiden Ländern gesetzt habe und immer noch zögerlich sei, einen intensiveren Dialog mit der belarussischen Opposition zu führen. So heißt es in dem Text: „Ja, Tichanowskaja ist nach wie vor eine unerfahrene Politikerin, aber sie ist für den Rest der Welt zu einem Symbol der belarussischen Opposition geworden, und Kiew ignoriert sie demonstrativ.“ Abseits der offiziellen politischen Beziehungen organisieren Belarussen in vielen Ländern Hilfs- und Solidaritätsaktionen für die Ukraine, Freiwillige kämpfen auf Seiten der Ukraine im Krieg, schon die Maidan-Proteste wurden von vielen Belarussen vor Ort unterstützt, sie zogen damals auch in den Krieg in der Ostukraine.

Für das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich auch der Journalist Igor Lenkewitsch mit den ukrainisch-belarussischen Beziehungen. Er plädiert dafür, mit kühlem Kopf auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu reagieren und den Schwerpunkt der Beziehungen auf eine untere Ebene, nämlich auf die der Gesellschaften beider Länder, zu verlegen.

Quelle Reformation

Die Beziehungen zwischen den Staatsführungen von Belarus und der Ukraine sind verworren. Kiew erkennt Alexander Lukaschenko offiziell nicht als rechtmäßig gewählten Präsidenten an; und von Swetlana Tichanowskaja wurde in der Ukraine eine Vertretung eröffnet. Zugleich hat sich der ukrainische Regierungschef Wolodymyr Selensky mit Tichanowskaja noch nicht getroffen, während der Kontakt zu Lukaschenko anscheinend weiterhin besteht – wenn auch „sehr begrenzt“. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba berichtet, die Kommunikation zwischen Kiew und Minsk sei „amtlich-nüchtern“, der Kontakt bleibe aber eingeschränkt. Doch immerhin bestehen diese Kontakte. Und ungeachtet des Vorwurfs, dass Belarus sich an der russischen Aggression beteiligt, halten Belarus und die Ukraine ihre diplomatischen Beziehungen aufrecht. 

Wolodymyr Selensky zufolge hat Lukaschenko mit gewissen Signalen zu verstehen gegeben, dass er keine Kontrolle über die Aktionen der russischen Truppen habe. Lukaschenko selbst aber gab zur feierlichen Zusammenkunft am Vorabend des Tags der Unabhängigkeit bekannt, dass ukrainisches Getreide künftig über Belarus transportiert werden soll. Die Belarussische Eisenbahn hat für diesen Gütertransport bereits eine Vorauszahlung erhalten, was ohne Kontakte auf höchster Ebene unmöglich gewesen wäre. Parallel dazu besteht ein Kontakt zu den belarussischen demokratischen Kräften. Tichanowskajas Vertretung in Kiew ist aktiv, sie soll Beziehungen zur ukrainischen Regierung aufbauen und die Interessen der Belarussen in der Ukraine schützen. Noch vor dem Krieg, im Sommer 2021, hatte Swetlana Tichanowskaja gesagt, sie und ihre Mitarbeiter seien „mit den Vertretern der ukrainischen Regierung im Gespräch“. „Mit Herrn Kuleba habe ich ein Mal online gesprochen, und vorgestern sind Herr Selensky und ich uns bei einer Veranstaltung in Litauen begegnet [gemeint war die Internationale Konferenz zu Reformen in der Ukraine, die am 7. Juli 2021 in Vilnius stattfand – Anm. von Reform.by]. „Offizielle Treffen gab es noch nicht“, erklärte Swetlana Tichanowskaja damals. Bis heute fand allerdings noch kein offizielles Treffen zwischen Swetlana Tichanowskaja und Wolodymyr Selensky statt. Man könnte meinen, die ukrainische Regierung bemüht sich, die demokratisch gewählte Regierungschefin von Belarus zu ignorieren.

Lukaschenko hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium

Die ukrainische Führung kann man da verstehen. Vertritt man in der Ukraine gegenwärtig auch die Ansicht, die belarussische Armee sei ineffizient und im Falle einer Einmischung bloß Kanonenfutter, so gibt es dennoch wenig Interesse an einer zusätzlichen Frontlinie an der belarussischen Grenze. Denn das würde einen schweren Schlag für die Ukraine bedeuten, die gezwungen ist, den konzentrierten Vorstoß russischer Truppen im Osten abzuwehren.

Bislang sieht es so aus, als könne auch Lukaschenko keine zweite Front gebrauchen. Er hat genug eigene Probleme mit seiner Legitimität, hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium. Außerdem ist die Mehrheit der Belarussen jüngsten Umfragen zufolge gegen eine direkte Beteiligung unseres Landes am russisch-ukrainischen Krieg.

Aber das heißt nicht, dass die Ukraine vom Norden her in vollkommener Sicherheit ist. Lukaschenko könnte der belarussischen Armee gut und gerne den Angriffsbefehl erteilen, sollte sich beispielsweise eine Niederlage der Ukraine abzeichnen. Dessen ist man sich auch in Kiew bewusst und hält sich in Bezug auf die belarussische Armee an eine vorsichtige Formulierung: „stellt derzeit keine Bedrohung dar“. In dieser Form sind die belarussisch-ukrainischen Beziehungen seit Kriegsbeginn erstarrt. Das offizielle Minsk gibt weiterhin „Signale“, und Selensky erkennt Tichanowskaja weiterhin nicht an. Denn bei einer Anerkennung wäre Kiew nolens-volens gezwungen, den zustande gekommenen Status quo dieser Beziehungen zu ändern. 

Es ist nicht auszuschließen, dass zwischen Kiew und dem Minsker Regime geheime Absprachen bestehen. Allein schon, um unnötige Provokationen zu vermeiden. Aber auch wirtschaftliche Interessen sollte man nicht außer Acht lassen. Vor dem Krieg war Belarus ein wichtiger Handelspartner für die Ukraine. Zudem sind einige hochrangige Vertreter des ukrainischen Establishments eng mit mit unserem Land verbunden gewesen: Ukrainische Medien berichteten, David Arachamija, der Fraktionschef von Sluha Narodu und spätere Vertreter der ukrainischen Delegation bei den Verhandlungen mit der Russischen Föderation, stünde mit einigen Unternehmen in Verbindung, welche wiederum in Stromlieferungen aus Belarus in die Ukraine involviert seien. Davon ist nichts bestätigt, aber in Zeiten von Krieg und Sanktionen tauchen nicht wenige bequeme und lukrative „Grauzonen“ für alle Beteiligten auf. 

Im Netz schlagen indes immer wieder Hasswellen hoch. Nur um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der ukrainische Journalist Wachtang Kipiani fordert von Belarus Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen für die Beteiligung am Krieg. Ein anderer verlangt von den Belarussen eine öffentliche Verurteilung des Krieges, Massenproteste und Sabotageakte im Landesinneren (angeblich gebe es diese bislang nicht, behauptet diese Person). Es geht sogar so weit, dass einige Kommentatoren von den Belarussen erwarten, die Panzer mit bloßen Händen aufzuhalten und sich an deren Ketten zu Hackfleisch verarbeiten zu lassen. Die himmelschreiende Dummheit dieser Forderungen irritiert die Verfasser dabei nicht – aber die objektive Wirklichkeit war in der „schwarzen“ PR noch nie gefragt. Die Initiatoren solcher Endlosvorwürfe kaprizieren sich darauf, mit allen Mitteln zu beweisen, es gäbe keinen Unterschied zwischen Lukaschenko und dem Rest der Belarussen. Systematisch ziehen sie in Zweifel, dass sich Belarussen und ihre Vertreterin Swetlana Tichanowskaja gegen den Krieg aussprechen. Auch anonyme Kommentatoren versuchen mit beneidenswerter Beharrlichkeit nachzuweisen, dass es diesen Unterschied zwischen Lukaschenko und den Belarussen nicht gebe.

Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational

All diese Hasswellen erinnern an gut geplante PR-Aktionen. Vielleicht lädt die gegenwärtige Situation in den politischen Beziehungen manche Leute dazu ein, einen Keil zwischen die Ukrainer und die Belarussen zu treiben. Aber eigentlich ist es nicht wichtig, wer dahintersteckt – Moskau oder bestimmte Kräfte in Kiew oder Minsk. Wichtig ist nur unsere Reaktion. Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational. Es ist besser, die heutigen belarussisch-ukrainischen Beziehungen, mindestens mal an der Basis, ohne einen Überschuss an Emotion zu betrachten – und ohne gegenseitige Vorwürfe, man sei nicht radikal oder empathisch genug in Anbetracht der Tragödie des jeweils anderen. Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun, ohne Dankbarkeit oder Anerkennung zu erwarten. 

Was Tichanowskajas Vertretung angeht, so sollten sich sie und ihr Team der Koalition gegen Putin anschließen und mit allen Mitteln zum Sieg der Ukraine beitragen. Die belarussisch-ukrainischen Beziehung wird man sowieso von neuem aufbauen müssen. Aber erst nach dem Sieg.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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