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„Der Rubel ist abhängig von bin Salman – möge Allah ihn behüten!“

Anfang März haben sich die 13 Staaten des Ölkartells OPEC mit Russland und anderen Erdöl exportierenden Ländern in Wien an einen Tisch gesetzt. Um der weltweit sinkenden Nachfrage nach Öl- und Ölprodukten zu begegnen, wollten sie gemeinsam die Fördermenge drosseln und damit das Angebot verknappen. Das Vorhaben scheiterte: Vor allem der russische Unterhändler Alexander Nowak hatte sich gegen eine Verknappung gestemmt.

Seitdem sprudeln weltweit die Ölquellen, und die Preise purzeln: Ein Barrel Brent ist derzeit für unter 30 US-Dollar zu haben, die für Russland wichtigste Rohölsorte Urals kostet ohne Rabatte weniger als 25 US-Dollar – bei Förderkosten, die manche ausländischen Experten auf rund 42 US-Dollar taxieren.

Dumping würden aber vor allem „die anderen“ betreiben, sagte kürzlich Rosneft-Chef Igor Setschin, und verwies vor allem auf Saudi-Arabien. Dabei betragen die Förderkosten für saudisches Öl laut derselben Schätzung rund 17 US-Dollar. Aus diesem Grund kann sich das Land offenbar auch leisten, derzeit großzügige Rabatte auf den Marktpreis zu gewähren – auch für Abnehmer in Europa und China, die traditionell Russlands Kunden sind. Die Folge ist ein Preiskrieg, bei dem Russland zunehmend vom Markt verdrängt wird.

War dieser Preiskrieg gewollt, als Russland in Wien ausscherte? Haben sich Setschin und Nowak dabei verkalkuliert? War ihnen nicht klar, dass der Rubelkurs eng am Ölpreis hängt? Die Novaya Gazeta hat den Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew in einem Interview dazu befragt.

Quelle Novaya Gazeta

Irina Tumakowa: Inwieweit ist das Coronavirus schuld daran, dass der Rubelkurs derart gefallen ist? Und inwieweit hat es andere Gründe?

Wladislaw Inosemzew: Das Coronavirus ist gewissermaßen ein Trigger. In letzter Zeit sind die Ölpreise weltweit zurückgegangen. Weil die Nachfrage sehr langsam stieg und zu spüren war, dass sie sich weiter verlangsamt. Die OPEC hat im November 2019 einen Bericht veröffentlicht, in dem sie prognostiziert, dass die Wachstumsraten bei der Ölnachfrage in den kommenden 20 Jahren bei einem Drittel dessen liegen werden, was wir aus den vergangenen 20 Jahren kennen. 
Die Abmachung der OPEC von 2016 sollte die Ölpreise ansteigen lassen. Es hat aber keinen Anstieg gegeben. Im Gegenteil: Sie gingen mit jedem Jahr zurück. Als dann das Coronavirus kam, war die erste Welle des Preisverfalls eine absolut natürliche Reaktion auf die Epidemie und die Maßnahmen der Regierungen in den verschiedenen Ländern. Wenn die OPEC-Abmachung bis zum April gehalten hätte, wären Preise von 45 bis 50 Dollar, wie wir sie noch bis Anfang März hatten, weiterhin möglich gewesen.

Genau das wollten die OPEC-Länder bei ihrem Treffen Anfang Dezember 2019  in Wien auch erreichen, so wie ich das verstehe.

Saudi-Arabien und andere Länder wollten die Produktion noch weiter drosseln, aber Russland war nicht bereit dazu, und die Abmachung platzte. Die letzten Preisrückgänge waren unmittelbar darauf zurückzuführen, dass Saudi-Arabien seinen Kunden riesige Preisnachlässe versprochen und erklärt hatte, dass es bereit sei, um einzelne Märkte einen Krieg zu beginnen – insbesondere um den europäischen Markt, und dazu das Förder- und Absatzvolumen zu erhöhen.

Das heißt, die staatlichen Fernsehsender haben Recht? Ist Saudi-Arabien tatsächlich an allem Schuld, nicht wir?

Russland hat das Abkommen abgelehnt und seine primäre Verantwortung für den Rückgang der Ölpreise liegt auf der Hand. Doch schauen wir uns einmal die Preis-Charts von Freitag, dem 6. März an, und die Erklärung aus Wien, dass das Abkommen geplatzt ist: Von einem Scheitern des Abkommens war bereits am 4. März die Rede, als Nowak nach Moskau abgereist war. Der Ölpreis fiel um fünf bis sechs Prozent. Am Freitag, 6. März, nachdem er zurückgekehrt war und wieder keine Einigung zustande kam, fiel der Ölpreis um weitere vier Prozent und stabilisierte sich bei rund 44 Dollar pro Barrel. Weiter dann, am Wochenende, erklärten die Saudis, dass sie den Europäern und Amerikanern einen Rabatt von 7 bis 8 Dollar auf den aktuellen Preis geben. Sie haben also gesagt: Wir werden nicht für 45, sondern für 37 Dollar verkaufen.

Die Saudis sind gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin immun

Riad war wegen der Position Moskaus empört. Und Mohammed bin Salman ist eben nicht irgendein Schröder, der davon träumt, an die Tränke von Rosneft zu gelangen.

Gegenüber dem berüchtigten Charisma von Putin herrscht hier Immunität. So war also letztendlich das Handeln Saudi-Arabiens der Grund, dass die Ölpreise derart stark nachließen. Übrigens nicht aus Versehen, sondern vollkommen bewusst.

Eine solche Reaktion Saudi-Arabiens hätte man wohl voraussehen können. War der Nutzen durch den Ausstieg aus dem OPEC-Abkommen für Russland größer als der Schaden durch mögliche Folgen? Inwieweit ist dieser Abzug im Interesse Russlands?

Er ist überhaupt nicht im Interesse Russlands. Man hätte ihn aber voraussehen können.

Der Chef von Rosneft verkündet, die Förderung anzukurbeln und die Produzenten von Schieferöl in den Ruin zu treiben. Experten haben aber vielfach gesagt, dass Russland die Förderung bei niedrigen Preisen nicht wird steigern können; die meisten Vorkommen sind nur schwer zu fördern, verbunden mit hohen Kosten. Wo liegt da für Rosneft der Sinn?

Das müssten Sie Setschin fragen; ich stimme Ihnen da vollkommen zu. Das Problem ist auch, dass man die US-amerikanischen Schieferölproduzenten nicht kaputtmachen kann.

Das haben die Amerikaner schon mehrfach bewiesen.

Ja, das haben sie, das ist das eine. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt: Vor einigen Tagen hat die Bank of England den Schlüsselzinssatz gesenkt, vergangene Woche auch die Fed. Selbst wenn eine amerikanische Ölfirma auf Null arbeiten muss, würde es sie nichts kosten, Überbrückungskredite aufzunehmen – und mit dem Ausblick auf steigende Preise weiterzumachen. Selbst wenn irgendeine verrückte Bank versuchen würde, die Firma in den Ruin zu treiben, kann man Insolvenz beantragen und viele Jahre unter dem Schutz des berühmten Chapter 11 des US-amerikanischen Insolvenzrechts tätig sein, während die Umstrukturierung läuft. Dieser Zeitraum kann sich zwei bis drei Jahre hinziehen. In dieser Zeit würde Russland schlichtweg pleitegehen. Und die amerikanischen Firmen würden weiter Öl pumpen, weil sie zumindest für die Löhne und zur Kostendeckung Einnahmen brauchen.

Und für Rosneft gibt es keine Möglichkeit für Überbrückungskredite zu niedrigen Zinssätzen, es fällt ja unter die Sanktionen, in Europa und den USA wird man keine Kredite geben.

Russland hat viele Reserven, mit denen Ölfirmen unterstützt werden können. Anstelle von Krediten wären da Steuererleichterungen, der Fonds für nationalen Wohlstand [FNB], auf den Setschin seit langem schimpft, und so weiter. Ich meine einfach, dass die ganze Logik, mit der Rosneft die amerikanischen Unternehmen kaputt machen will, sehr lächerlich wirkt.

War das denn wirklich die Logik dahinter? Vielleicht hat Herr Setschin ja auch ganz andere Motive?

Na, ich weiß nicht. Vielleicht will er die Preise ruinieren, damit sich der Börsenwert von Lukoil halbiert, und er dann mit Hilfe eines Strafverfahrens gegen Alekperow das Unternehmen kaufen kann. Wie das mit Baschneft der Fall war. Warum auch nicht? Wir wissen nicht, was Setschin im Sinn hat. Wie dem auch sei, auf der Sitzung bei Putin war niemand außer Setschin dafür, den Deal platzen zu lassen. 

Also steht der Staat vor der Alternative: Entweder er unterstützt Rosneft, das gegen die Amerikaner Krieg führt, oder der Staat erfüllt seine sozialen Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung?

Das würde ich so nicht sagen. Der Staat verfügt wirklich über sehr große Reserven. Der Haushalt des vergangenen Jahres ist nicht vollkommen ausgeschöpft worden. Der FNB beläuft sich jetzt auf 124 Milliarden Dollar. Unter Berücksichtigung der Abwertung sind das rund zehn Prozent des BIP. Der Staatshaushalt macht etwa 18 Prozent des BIP aus. Selbst wenn dort eine Lücke von drei Prozent entsteht, dann können bei den heutigen Reserven alle festgeschriebenen sozialen Verpflichtungen zwei, drei, ja sogar vier Jahre lang ohne große Probleme erfüllt werden. Außerdem ist der Haushalt nicht die ganze Wirtschaft, es gibt noch den privaten Sektor. Der Dollar steigt, die Einkommen sinken. Die Bevölkerung überlegt, ob man nicht etwas für schlechte Zeiten zurücklegen sollte, schließlich ist es ja beunruhigend. Die Leute gehen nicht mehr in Cafés, fahren nicht mehr in Urlaub und kaufen keine teuren Sachen.

Das haben wir 2015 gesehen, als der Rubel gegenüber dem Dollar einbrach. Übrigens ebenfalls durch das Vorgehen von Rosneft und dessen Chef.

Ja. Außerdem fällt der Rubel – die Zentralbank ist gezwungen, mit einer Erhöhung der Zinssätze zu antworten. Kredite werden teurer, die Käufe von Wohnraum auf Hypothek und Autos auf Kredit gehen zurück. Das heißt, die Realwirtschaft wird sich abschwächen, selbst wenn der Haushalt wie ein Uhrwerk funktioniert. In Russland ist somit ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich.

Und das alles nur deshalb, weil allein Igor Iwanowitsch Setschin aus dem Deal mit der OPEC aussteigen wollte?

Wir haben hier die Effekte sowohl durch das Coronavirus als auch durch Setschin, und dadurch, dass unsere Wirtschaft zu stark reguliert ist, um angemessen auf Herausforderungen zu reagieren.

In Russland ist ein Wirtschaftsrückgang absolut unausweichlich

Doch der Setschin-Effekt ist nicht zu vernachlässigen. Offenbar ist Setschin einer der größten Newsmaker in der russischen Wirtschaft, wir konnten das auch schon früher sehen, auch beim Deal mit Baschneft und in anderen Situationen. Sein Einfluss sollte nicht unterschätzt werden.

Wie geht es weiter mit dem Rubel?

Ich glaube nicht, dass morgen schon etwas Katastrophales passiert. Ich hatte in diesen Tagen einen sehr viel stärkeren Rückgang erwartet. Ich denke, die Regierung wird den Rubel erst einmal stützen. Für die Menschen in Russland ist der Devisenkurs ein wichtiges symbolisches Moment. Wir erinnern uns an die Situation im Januar 2016, als der Ölpreis innerhalb weniger Tage auf 29 Dollar pro Barrel zurückging und der Dollar auf 85 Rubel hochschnellte. Jetzt gibt es diese Panik nicht. Und das ist gut: Die Zentralbank und das Finanzministerium verfolgen eine sehr viel angemessenere Politik, und die Wirtschaft reagiert nicht so empfindlich auf die Ereignisse. Deswegen schließe ich mich nicht der „100 Rubel für 1 Dollar“-Prognose an. Der neue Korridor wird bei 72 bis 75 Rubeln liegen in den nächsten paar Monaten. Der Kreml wird nicht erklären, wie schön das ist – wie Putin das mal gesagt hat –, wenn man für einen Dollar mehr Rubel kaufen kann. Das Regime spürt jetzt: Seine Popularität ist längst nicht so groß, dass man die Geduld der Bevölkerung auf die Probe stellen könnte.

Ein allzu drastischer Kursrückgang wird nicht begrüßt, doch im Weiteren wird dann alles davon abhängen, was die Saudis machen: Wie stark sie tatsächlich die Ölförderung ankurbeln und in welchem Maße sie den Markt mit ihren Preisnachlässen erobern. Der Rubel ist jetzt von Mohammad bin Salmans Willen abhängig – möge Allah ihn behüten!

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Igor Setschin

Putins Schatten. Grauer Kardinal. Darth Vader. Kaum jemand in Russland ist gegenwärtig mit mehr Klischees belegt als Igor Setschin. Der Philologe und Übersetzer für Portugiesisch und Französisch begleitet Präsident Putin seit über 25 Jahren auf Schritt und Tritt. Ähnlich wie viele andere mächtige Männer im Land, arbeitete er mit ihm bereits Anfang der 1990er Jahre in der Stadtverwaltung von St. Petersburg. 1996 wechselte er mit Putin nach Moskau. Nach dessen Wahl zum Präsidenten wurde Setschin zunächst stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, später stellvertretender Ministerpräsident. Seit 2012 ist er Vorstandsvorsitzender des größten russischen Ölkonzerns Rosneft, dem seit September 2017 auch Altkanzler Gerhard Schröder als Chef des Direktorenrats angehört.

Igor Setschin gilt Vielen als unheimlich. Öffentlich kaum sichtbar, zieht er die Strippen im Hintergrund und kämpft, wenn nötig, mit harten Bandagen. 2003 war er unmittelbar an der Zerschlagung des Unternehmens Yukos[/gnose] von [gnose-723]Michail Chodorkowski beteiligt. Anschließend verhinderte er, dass die Anteile an Gazprom gingen. Stattdessen legte er den Grundstein für den Aufstieg von Rosneft. Im November 2016 lancierte er die Verhaftung des Ministers für Wirtschaftliche Entwicklung Alexej Uljukajew – die erste Verhaftung eines amtierenden Ministers seit dem Ende der Sowjetunion.

Setschins Geschick stützt sich dabei auch auf die persönliche Nähe zum Präsidenten. Als langjähriger Sekretär Wladimir Putins gilt er diesem als treu ergeben. Gegenwärtig selbst ohne politisches Amt,  steuert er derzeit Russlands wirtschaftliche Lebensader: die Erdölindustrie.

Aus einfachen Verhältnissen

Dabei deutet zunächst nichts auf eine derartige Karriere hin. Setschin stammt aus einfachen Verhältnissen. 1960 in Leningrad in einer Arbeiterfamilie geboren, lernt er in der Schule Französisch und studiert ab 1977 an der renommierten Staatlichen Universität Leningrad Romanistik. An der philologischen Fakultät wird er zum Übersetzer für Portugiesisch und Französisch ausgebildet. Noch vor Abschluss des Studiums geht er 1982 nach Mosambik, wo er als Dolmetscher für das sowjetische Militär arbeitet, das sich im dortigen Bürgerkrieg engagiert. 1984 kehrt er nach Leningrad zurück und schließt sein Studium ab. Sein anschließender Militärdienst führt ihn zunächst nach Turkmenistan und schließlich nach Angola. Aus dieser Zeit stammen Gerüchte über eine offizielle Zusammenarbeit Setschins mit der sowjetischen Militäraufklärung GRU und dem KGB. Eindeutig geklärt sind diese bis heute nicht. 

Putins Schatten

Nach seiner Rückkehr aus Afrika wird Setschin 1986 zunächst Mitarbeiter seiner Alma Mater in der Abteilung für Internationales.1 Dank seiner Portugiesischkenntnisse wechselt er 1988 in das Exekutivkomitee des Leningrader Stadtrates, wo er unter anderem die Städtepartnerschaft mit Rio de Janeiro betreut. In diesem Umfeld macht er auch Bekanntschaft mit Anatoli Sobtschak, damals noch Professor an der Leningrader Universität und ab Juni 1990 Vorsitzender des Stadtrates. Unter welchen Umständen und wann Setschin Wladimir Putin zum ersten Mal begegnet, ist hingegen nicht eindeutig überliefert.2

Nach der Wahl Anatoli Sobtschaks zum Bürgermeister im Juni 1991 wird Putin Leiter des Komitees für Außenbeziehungen. Er holt Setschin als Sekretär zu sich und arbeitet in den nächsten fünf Jahren eng mit ihm zusammen. Setschin organisiert Putins Termine und Korrespondenz und erarbeitet sich den Ruf eines treuen Dieners. Nach der Niederlage Sobtschaks bei der Bürgermeisterwahl 1996 gibt Putin sein Amt ab. Setschin folgt im Schlepptau.

Nur einen Monat später wechseln beide nach Moskau. Während Putin bald zum ersten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration berufen wird, später das Amt des Direktors des Inlandsgeheimdienstes FSB übernimmt und im August 1999 schließlich zum Ministerpräsidenten Russlands aufsteigt, folgt ihm Setschin stets wie ein Schatten.

Als Putin am 31. Dezember 1999 die Amtsgeschäfte des Präsidenten übernimmt, macht er Setschin zum stellvertretenden Leiter der Administration unter Dimitri Medwedew. Wie schon in St. Petersburg bleibt Setschin jedoch Herr über Putins Vorzimmer und wacht über dessen Treffen und Termine. Auch nach dem Amtsantritt von Dmitri Medwedew als Präsident im März 2008, bleibt Setschin als stellvertretender Ministerpräsident an Putins Seite.

Rosneft: Setschins Traum

Setschins große Stunde schlägt im Sommer 2003. Im Juni warnt der Rat für nationale Strategie in einem Bericht mit dem Titel „Staat und Oligarchie“ vor einer Verschwörung der Oligarchen.3 Rückblickend lässt sich dieser Bericht als Startschuss für die Zerschlagung und Verstaatlichung von Yukos betrachten, damals Russlands größter privater Erdgas- und Erdölförderer. Einige frühere Yukos-Manager sehen in Setschin den Auftraggeber. Der Autor des Berichts – Stanislaw Belkowski – verneint dies jedoch. Gleichzeitig gibt das ehemalige Yukos-Vorstandsmitglied Alexander Temerko zu Protokoll, dass Setschin den gesamten Prozess um Yukos im Kreml betreut und angeleitet habe. Dabei habe sich dieser nicht selbst für das Unternehmen interessiert, vielmehr sei es ihm um den Schutz seines Dienstherrn gegangen, so Temerko. Neben den politischen Ambitionen Chodorkowskis, sei der Verkauf von Sperrminoritäten strategisch wichtiger Unternehmen an ausländische Investoren für Setschin nicht hinnehmbar gewesen.4

In der Folge wird Yukos mit immer neuen Steuernachforderungen konfrontiert. Zur Begleichung der Schulden wird im Dezember 2004 unter anderem Juganskneftegaz zwangsversteigert – das größte Produktionsunternehmen des Konzerns. Als Käufer taucht die bis dahin völlig unbekannte Briefkastenfirma Baikalfinanzgruppe (BKG) auf. Nur wenige Tage später erklärt Rosneft, damals noch der sechstgrößte Ölförderer Russlands, die Übernahme der BKG. Igor Setschin war bereits im Sommer als einfaches Mitglied in den Direktorenrat von Rosneft berufen worden. Ende Juli 2004 hatte er dessen Vorsitz übernommen.

Die Zerschlagung von Yukos und die Übernahme der Kontrolle von Rosneft durch Setschin gelten damals als erster Schritt in Richtung einer staatlichen Energieholding, in der die Aktiva von Rosneft und Gazprom zusammengeführt werden sollen.5 Doch Setschin hat andere Pläne. Er wiedersetzt sich der schon geplanten Übernahme Rosnefts durch Gazprom, dessen Direktorenrat-Vorsitzender noch Dimitri Medwedew heißt.

Als Präsident versucht Medwedew zaghaft, Staat und Wirtschaft stärker voneinander zu trennen. Im April 2011 muss Setschin als  stellvertretender Ministerpräsident unter Putin den Direktorenrat verlassen. Nur ein Jahr später, nach dem dritten Amtsantritt Putins, kehrt er jedoch zurück und übernimmt im Mai 2012 als Konzernchef endgültig das Ruder bei Rosneft. Gleichzeitig wird der Konzern zum strategischen Unternehmen des russischen Staates erklärt.

An der Seite des Präsidenten leitet Setschin fortan die Sitzungen der neu eingerichteten Kommission für Energiefragen. Im März 2013 übernimmt Rosneft außerdem die Kontrolle über TNK-BP und wird damit zum weltweit größten, börsennotierten Erdölförderer.6

Der Fall Bashneft: Setschins Zukunft

Im Konflikt um den seit 2014 vorbereiteten Erwerb des russischen Erdölförderers Bashneft wird Setschins politischer Einfluss zum ersten Mal auch einer breiteren Öffentlichkeit deutlich. Das ehemalige Staatsunternehmen Bashneft wird 2009 von AFK Sistema als Mehrheitseigner übernommen und schrittweise modernisiert. Im Sommer 2014 meldet das staatliche Ermittlungskomitee jedoch rechtliche Zweifel an der Art und Weise des Geschäfts an. Der Multimilliardär und Eigentümer von AFK Sistema, Wladimir Jewtuschenkow, wird unter Hausarrest gestellt. Gerüchte über eine Wiederholung des Fall Yukos machen die Runde. Die erfolgte Privatisierung wird gerichtlich für unzulässig erklärt. Jewtuschenkow verzichtet auf eine Revision, fast 72 Prozent von Bashneft gehen zurück an den russischen Staat. Die treibende Kraft hinter dem Prozess: Rosneft-Chef Igor Setschin.

Im Frühjahr 2016 wird Bashneft von der Regierung wieder zur Privatisierung ausgeschrieben. Neben acht weiteren Interessenten bietet auch Rosneft mit. Der damalige Minister für wirtschaftliche Entwicklung Alexej Uljukajew spricht sich jedoch gegen die Übernahme durch einen Staatskonzern aus. Für den Wirtschaftsliberalen ist dies nicht mit dem gesteckten Ziel einer Privatisierung vereinbar. Doch es hilft nichts. Im Oktober 2016 kauft Rosneft für knapp 5 Milliarden Euro die Mehrheit an Bashneft. Damit nicht genug. Mitte November wird Uljukajew, der unter einem Vorwand von Igor Setschin in die Rosneft-Zentrale gelockt wird, verhaftet. Der Vorwurf: Bestechung. Zwei Millionen US-Dollar an Schmiergeld für seine angebliche Zustimmung zum Geschäft. 

Der anschließende Prozess gerät zur Farce. Setschin, obwohl selbst als Hauptzeuge geladen, erscheint trotz mehrmaliger Aufforderung nicht vor Gericht. Für Uljukajew ändert dieser Umstand wenig. Im November 2017 wird er zu acht Jahren Lagerhaft bei verschärftem Vollzug und einer Geldstrafe in Höhe des vermeintlichen Schmiergeldes verurteilt.

Dies ist der erste Prozess gegen einen Minister wegen Korruption im post-sowjetischen Russland und zugleich ein deutliches Zeichen der politischen Macht Setschins. Der völlig unerwartete Schritt lässt die Vertreter des liberalen Wirtschaftsbloсks in der Regierung aufhorchen. Für welche Zukunft Russlands Putins Schatten steht, scheint ihnen nur allzu bewusst.

 


1.Vedomosti: Igor' Sečin, pervyj vozle Vladimira Putina
2.Laut der Zeitung Leningradskaja Pravda lernten sich Putin und Setschin bereits Ende der 1980er Jahre als Mitarbeiter der Universität Leningrad kennen, Leningradskaja Pravda: Zaverbovali na 3 kurse. Dies ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, da Putin erst im Januar 1990 aus Dresden in die Sowjetunion zurückkehrte, Ot pervogo lica: Razgovory s Vladimirom Putinym, M., Vagrius, 2000, 76. Nach anderen Informationen geht der erste Kontakt auf eine Reise von Sobtschak 1990 nach Brasilien zurück, FAZ: Igor Setschin. Putins Schatten.
3.Utro.ru: V Rossii gotovitsja oligarchičeskij perevorot
4.Vedomosti: Igor' Sečin, pervyj vozle Vladimira Putina
5.Kommersant: Neftjanoj kardinal und Polit.ru: «Seryj kardinal» Kremlja stal glavnym neftjanikom strany
6.The Guardian: Rosneft takes over TNK-BP in $55bn deal
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Rosneft

Als staatliche Energiegesellschaft Anfang der 1990er Jahre gegründet, stieg das Unternehmen in den 2000er Jahren zu einem zentralen Akteur des russischen Energiesektors auf. Rosneft war Hauptprofiteur der Zerschlagung des YUKOS-Konzerns und wurde durch weitere Zukäufe zu einem der mächtigsten Unternehmen Russlands. Der niedrige Ölpreis und die westlichen Sanktionen machen dem Giganten jedoch zu schaffen.

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Alexej Uljukajew

Alexej Uljukajew (geb. 1956) war von 2004 bis 2013 Erster Stellvertretender Vorsitzender der Zentralbank Russlands und von 2013 bis 2016 Wirtschaftsminister. Am 14. November 2016 wurde Uljukajew überraschend verhaftet, er soll im Rahmen der Übernahme des Ölkonzerns Baschneft durch Rosneft 2 Millionen US-Dollar Schmiergeld angenommen haben. Im Dezember 2017 wurde der ehemalige Minister zu acht Jahren strenger Lagerhaft verurteilt.

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