Medien

„Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

Während der anhaltenden landesweiten Proteste in Belarus sind mehr als 6000 Menschen verhaftet worden. In sozialen Medien tauchten zahlreiche Fotos von großen Menschenmengen vor Gefängnissen auf, die Leute waren auf der Suche nach ihren Angehörigen. Derzeit häufen sich Berichte, wonach zahlreiche Festgenommene wieder aus den überfüllten Gefängnissen entlassen werden, viele davon mit Verletzungen. Hunderte Frauen, teilweise in Weiß gekleidet und mit Blumensträußen, bildeten in zahlreichen Städten Ketten, um ihre Solidarität mit Verhafteten und Verwundeten auszudrücken. Landesweit haben außerdem Mitarbeiter von Fabriken gestreikt und unter anderem faire Wahlen und die Freilassung der Festgenommenen gefordert. Auch Krankenhauspersonal versammelte sich und forderte ein Ende der Gewalt.

Unterdessen häufen sich in unterschiedlichen Medien Augenzeugenberichte von grausamer Polizeigewalt, auch Folter. Auch der russische Znak-Korrespondent Nikita Telishenko war am 10. August in Minsk festgenommen worden. Sein Bericht über die Gewalt, die er danach gesehen und erfahren hat, wird derzeit in sozialen Netzwerken zehntausendfach geteilt und gelesen.

Quelle Znak

Am Abend des 10. August wurde der Znak-Korrespondent Nikita Telishenko in Minsk festgenommen, ehe eine Protestaktion gegen die Wahlfälschungen losging. Er kam beruflich nach Belarus, im Auftrag seiner Redaktion. Nach der Festnahme gab es 24 Stunden keinen Kontakt zu ihm. Nikita wurde erst am Dienstagabend freigelassen.

Inhaftierung 

Ich wurde am 10. August festgenommen, als ganz Minsk an der zweiten Protestaktion gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in Belarus teilnahm. Die Aktion war in der Uliza Nemiga geplant, wo bereits Kampffahrzeuge und Lastwagen aufgefahren waren. In den Durchgängen und zwischen den Häusern waren viele Soldaten, Spezialkräfte der OMON und die Polizei. Ich bin da einfach langgelaufen und habe mir die Vorbereitungen für die Demonstration angeschaut. Ich sah Wasserwerfer, schrieb das an das Redaktionsbüro, und eine Minute später kamen Polizeibeamte auf mich zu, sie trugen normale Uniform. Sie baten mich, zu zeigen, was denn in meiner Tasche sei, sie erschien ihnen verdächtig. Ich zeigte ihnen, dass ich darin einen Pulli hatte. Danach ließen sie mich gehen.


Dann sah ich an der Haltestelle Sportpalast, wie sich die OMON-Kräfte alle schnappten, die aus einem Bus ausstiegen, und sie in einen Gefangenentransporter steckten. Ich fotografierte das mit meinem Telefon und schrieb der Redaktion, berichtete über die ersten Verhaftungen bei der zweiten Protestaktion. Dann ging ich in Richtung des Heldenstadt-Obelisken [beim Museum des Großen Vaterländischen Kriegs – dek], wo sich am Tag zuvor Demonstranten und Ordnungskräfte eine regelrechte Schlacht geliefert hatten, und wollte sehen, wie der Ort nun aussah. Aber auf halbem Weg kam ein Minivan auf mich zu. Und schon waren bewaffnete OMON-Leute herausgesprungen. Sie rannten auf mich zu und fragten, was ich hier mache. Später wurde mir klar, dass sie die Koordinatoren der Aktion suchten, sie wussten, dass die Demonstranten per Telegram Informationen über die Bewegung der Polizei austauschten und über Hinterhalte berichteten. Sie haben mich wohl für einen von denen gehalten. Ich sagte ihnen: „Ich habe nicht einmal Telegram auf meinem Telefon, ich schreibe eine SMS, ich bin Journalist, ich schreibe an die Redaktion.“ Sie schnappten mein Telefon, lasen die Nachrichten und setzten mich dann ins Auto. Ich sagte ihnen, dass ich gegen nichts verstoßen, nicht an der Protestaktion teilgenommen habe, dass ich Journalist sei, worauf ich die Antwort bekam: „Setzen Sie sich, gleich kommen die Chefs und klären die Sache.“

Bald kam eine GAZelle, die zum Gefangenentransporter umgerüstet war. Sie verdrehten mir die Arme und steckten mich da rein. Ich bat um ein Telefon, um die Redaktion darüber zu informieren, dass ich nun doch festgenommen wurde. 

„Wir haben dich nicht festgenommen“, sagte mir einer der OMON-Männer. 

„Nun, ich bin hinter Gittern“, antwortete ich.

„Halt die Klappe“, parierte er. 

Dann nahmen sie meinen Pass und sahen, dass ich russischer Staatsbürger bin. 

„Und ... was machst du [obszönes Wort für männliches GeschlechtsorganZnak] hier?“

„Ich bin Journalist“, antwortete ich.

An diesem Punkt war der Dialog mit den OMON-Leuten beendet. Ich saß in der GAZelle und wartete darauf, dass sie mit genau solchen Nicht-Festgenommenen wie mir gefüllt würde. Es dauerte eine halbe Stunde. Neben mir saß dann ein 62-jähriger Rentner. Sein Name war Nikolaj Arkadjewitsch. Er erzählte mir, dass er auf dem Weg zum Einkaufen festgenommen worden war: Er hatte gesehen, dass sich die OMON-Leute einen Jungen gegriffen hatten. „Ich bin für ihn eingetreten, habe versucht, ihn freizukriegen. Ich sagte ihnen: ,Er ist ein Kind, was tun Sie da?‘“ Schließlich rannte der Junge weg, und er wurde festgenommen. 

Nikolaj Arkadjewitsch hatten sie seinen Angaben zufolge heftig in die Leber geschlagen. Er bat darum, einen Krankenwagen zu rufen, doch niemand reagierte auf seine Bitte. 

16 Stunden Hölle bei der Polizei im Moskowski Bezirk

Und so fuhren wir irgendwohin. Wohin, das wusste ich da noch nicht. Doch dann stellte sich heraus, dass es zur örtlichen Polizei im Moskowski Bezirk ging – 16 Stunden, die für uns alle die Hölle sein würden. Wir sind etwa 20 bis 30 Minuten gefahren. 

Kaum hielten wir an, ertönte ein Schrei von OMON-Leuten in kugelsicheren Westen: „Gesicht auf den Boden!“

Polizisten stürmten in den Transporter, banden uns die Hände so hinter den Rücken, dass wir fast nicht laufen konnten. 

Ich bekam meinen ersten Hieb, weil ich mich nicht tief genug gebückt hatte

Ein junger Mann vor mir wurde mit dem Kopf gegen die Eingangstür des Polizeireviers geschlagen. Er schrie vor Schmerzen. Daraufhin schlugen sie ihm auf den Kopf schrien ihn an: „Halt's Maul, Hurensohn!“ Ich bekam meinen ersten Hieb, als ich aus dem Auto stieg: Ich hatte mich nicht tief genug gebückt und bekam einen Schlag mit der Hand auf den Kopf und dann mit dem Knie ins Gesicht.


Im Polizeigebäude wurden wir zunächst in einen Raum im vierten Stock gebracht.

Die Leute dort lagen als lebender Teppich auf dem Boden, und wir mussten direkt auf ihnen entlang laufen. Es war ein schreckliches Gefühl, war ich doch jemandem auf die Hand getreten, aber ich konnte überhaupt nicht sehen, wohin ich ging, weil mein Kopf stark nach unten geneigt war. 

„Alle auf den Boden, Gesicht nach unten“, schrien sie uns an. Und mir war klar, dass man sich nirgendwo hinlegen konnte, rundherum lagen Menschen in Blutlachen. 
Es gelang mir, einen Platz zu finden, wo ich mich nicht als zweite Schicht auf Menschen legen musste, sondern neben sie. Auf den Bauch, Gesicht nach unten. Auch hier hatte ich Glück: Ich trug eine Maske, die mir den schmutzigen Boden erträglich machte. 
Um mich herum wurde derbe geprügelt: Von überall hörte man dumpfe Schläge, Schreie, Wimmern. Mir schien es, dass einige der Gefangenen Arme, Beine oder Wirbelsäule gebrochen hatten, denn bei der geringsten Bewegung schrien sie auf vor Schmerzen.

Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

Die neuen Häftlinge wurden gezwungen, sich als zweite Schicht auf die anderen zu legen. Nach einer Weile müssen sie jedoch kapiert haben, dass das eine schlechte Idee ist, und jemand befahl, Bänke zu bringen. Ich gehörte zu denen, die darauf sitzen durften. Aber man durfte nur mit gesenktem Kopf sitzen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Und erst dann sah ich, wo wir waren – es war die Aula der Polizeiwache im Moskowski Bezirk. Ich konnte einen Blick erhaschen und sah, dass an der Wand gegenüber Fotos von Polizisten mit besonderen Verdiensten hingen. Für mich war das böse Ironie: Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

So haben wir 16 Stunden verbracht.

Wer auf die Toilette wollte, musste die Hand heben. Einige der Wächter erlaubten es und brachten die Leute dorthin. Andere sagten: „Mach doch auf den Boden!“

Ich spürte meine Arme und Beine kaum noch, der Nacken schmerzte schwer. Hin und wieder wurden die Plätze getauscht. Hin und wieder kamen neue Mitarbeiter und nahmen erneut all unsere Daten auf, den Namen, wann festgenommen … und so weiter.

Wir hörten, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden

Gegen zwei Uhr morgens wurden weitere Gefangene auf die Wache gebracht. Und da begann die echte Hölle. Die Polizisten zwangen die Festgenommenen, das Vater Unser zu beten. Wer sich weigerte, wurde mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, verprügelt. Während wir in der Aula saßen, hörten wir, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden. Es fühlte sich an, als würden die Menschen praktisch in den Beton getrampelt. 

Gleichzeitig konnten wir hören, wie Blendgranaten vor dem Fenster explodierten. Die Fenster und sogar Türen unserer Aula wackelten. Die Kämpfe fanden also direkt vor dem Polizeirevier statt. Mit jeder Stunde, mit jeder weiteren Charge von Gefangenen, die zur Polizei gebracht wurde, wurden die Vollzugsbeamten wütender und brutaler. 

Die Polizisten waren von der Aktivität der Demonstranten tatsächlich überrascht. Ich hörte sie per Funk miteinander reden, dass zur Unterdrückung der Proteste Reserveeinheiten eingesetzt würden. Sie waren wütend, dass die Menschen nicht von der Straße verschwanden, trotz der brutalen Schläge, dass die Menschen keine Angst vor ihnen hatten, dass die Leute Barrikaden errichteten und Widerstand leisteten. 

Du Wichser! Willst du Krieg?

„Du Wichser, gegen wen hast du Barrikaden errichtet? Willst du gegen mich kämpfen? Krieg willst du?“, schrie ein Polizist während er einen Festgenommenen verprügelte. 
Was mich wirklich fertig gemacht hat, ist, dass all diese Schläge vor zwei Frauen stattfanden, vor Mitarbeiterinnen des Polizeireviers, die die Festgenommenen und deren Eigentum dokumentierten. Vor den Augen der Frauen schlugen sie 15, 16-jährige Jugendliche und Kinder. Die zu schlagen ist das gleiche wie Mädchen zu verprügeln! Und die Polizeibeamtinnen reagierten nicht einmal ...


Fairerweise muss man sagen, dass nicht alle Mitarbeiter bei den sadistischen Gewaltexzessen mitgemacht haben. Es gab einen, der zu uns kam und fragte, wer Wasser brauche und wer auf die Toilette müsse. Aber er unternahm auch nichts gegen das, was seine jungen Kollegen auf dem Flur mit den Gefangenen machten. 

In jeder Schicht fragten die neuen Mitarbeiter jeden von uns, wer wir sind, woher wir kommen und wann wir festgenommen wurden. Nachdem sie meinen russischen Pass gesehen hatten, wurden die Schläge schwächer als die, die ich erhielt, als sie dachten, ich sei Belarusse.
 
Keiner von uns durfte auch nur einen einzigen Anruf tätigen, und ich bin sicher, dass viele Angehörige derjenigen, die in jener Nacht neben mir saßen, immer noch nicht wissen, wo sie sind.

Sie kamen von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte

Gegen sieben oder acht Uhr morgens trafen die Vorgesetzten ein. Man sah, dass sie nicht von zu Hause gekommen waren, sondern von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte.
Sie begannen die Gefangenen durchzuzählen. Es stellte sich heraus, dass zwei fehlten. Die Leute liefen hektisch zwischen den Büros hin und her, sie versuchten herauszufinden, wohin die zwei verschwunden waren. Sie konnten es nicht herausfinden. 

Als ich auf dem Boden lag, sah ich am Rande meines Blickfeldes eine Person, ich weiß nicht, ob Mann oder Frau, die auf einer Bahre weggetragen wurde. Die Person bewegte sich nicht, ich weiß nicht, ob sie noch am Leben war. 

Danach wurden wir alle ins Erdgeschoss verlegt und in Zellen gesteckt. Die sind für zwei Personen konzipiert, bei uns haben sie 30 Personen in eine Zelle gestopft. Der Vorgang wurde von heftigen Mat-Flüchen und Prügeln begleitet. Man schrie uns an: „Enger zusammen! Noch enger!“ Unter meinen Zellengenossen waren sowohl Rentner als auch junge Leute. Ich traf dort Nikolaj Arkadjewitsch wieder. Er stand eine halbe Stunde lang bei uns, dann wurde er hinausgeführt und in eine leere Zelle nebenan gesteckt. 

Es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig

Nach einer Stunde waren Wände und Decke der Zelle mit Kondenswasser bedeckt. Jemand konnte nicht mehr stehen und setzte sich auf den Boden, aber es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig. Diejenigen, die standen, verzweifelten an der Hitze. So verbrachten wir dort zwei oder drei Stunden und warteten darauf, verlegt zu werden – wohin, wusste keiner … 

Die Türen öffneten sich. „Gesicht zur Wand!“, schrien sie. Dann stürmten Vollzugsbeamte rein, drückten uns die Arme hinter den Rücken und schleiften uns über den Boden durch die ganze Polizeistation. Im Gefangenentransporter wurden wir wieder aufeinander gestapelt, als lebendiger Teppich. Sie schrien: „Das Gefängnis ist euer Zuhause!“ Diejenigen, die auf dem Boden lagen, rangen unter dem Gewicht der Körper nach Luft: Es lagen noch drei weitere Menschen-Schichten über ihnen.

Der Weg von Schmerz und Blut 

In dem Gefangenentransporter wurden die Leute weiter geschlagen: wegen Tätowierungen, wegen langer Haare. „Du alte Schwuchtel, im Gefängnis wird sich einer nach dem anderen dich vornehmen“, riefen sie.

Menschen, die auf den Stufen lagen, baten darum, ihre Position ändern zu dürfen, doch stattdessen schlug man ihnen mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. 

In diesem Zustand verbrachten wir in dem Transporter eine Stunde. Ich erklärte mir die lange Zeit damit, dass sie wahrscheinlich nicht wussten, wohin mit uns, da es viele Häftlinge gab und alle Zellen der Polizeiwachen und Untersuchungsgefängnisse überfüllt waren. 

Dann gab es wieder Gebrüll von OMON-Leuten mit dem Befehl: „Raus mit euch und in die Hocke!“ Die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Man durfte sich weder am Sitz abstützen noch aufrichten. Wer gegen diese Vorschrift verstieß, wurde gnadenlos geschlagen. Man durfte nur ab und zu das Gewicht verlagern: Dazu musste man die Hände heben, seinen Namen nennen, sagen, woher man kommt und wo man festgenommen worden war.

Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle

Wenn der Wache (damals dachte ich noch, dass wir von OMON eskortiert wurden, aber erst am Ende des Weges erfuhr ich, dass es sich um die belarussische Spezialeinheit SOBR handelte) deine Nase nicht gefiel, wurde dir verboten, die Haltung zu wechseln, und du wurdest wegen wiederholter Bitten geschlagen. Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle.

Aufforderungen zum Anhalten, um zur Toilette zu gehen, wurden ignoriert. Wir sollen einfach auf den Boden machen, schlug man uns vor. Einige konnten es nicht aushalten, machten sogar großes Geschäft. Und so sind wir im matschigen Kot herumgefahren. Wenn unseren Begleitern langweilig wurde, zwangen sie uns Lieder zu singen, meist die belarussische Hymne, und nahmen alles auf Handy auf. Wenn ihnen die Interpretation nicht gefiel, schlugen sie wieder zu. Wenn jemand schlecht sang, ließen sie ihn wieder singen, und sie bewerteten, wer wie sang. „Wenn ihr glaubt, dass ihr Schmerzen habt: Das sind noch keine Schmerzen! Die bekommt ihr jetzt im Gefängnis. Eure Liebsten werden euch nicht mehr wiedersehen!“, sagten uns die Wächter.

Ihr werdet nicht mehr lange leben

„Ihr ... [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] sitzt jetzt hier, eure Tichanowskaja ... hat sich aus dem Land verpisst. Und ihr werdet nicht mehr lange leben“, sagte einer der Begleiter. 

Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden. Das waren zwei Stunden voll Schmerz und Blut. 
Während der Fahrt gelang es mir tatsächlich, einen unserer Wächter zum Sprechen zu bringen (irgendwann dann hatte ich erfahren, dass es SOBR-Leute sind). Natürlich habe ich dafür ordentlich kassiert, aber ich bereue es nicht, schließlich ließ er mich später eine bequemere Pose einnehmen. 

Ich fragte ihn, weswegen ich festgenommen wurde, weswegen ich eins mit dem Schild in den Nacken bekam, weswegen mir in die Nieren geschlagen wurde. „Wir warten nur darauf, dass ihr auf der Straße irgendwas in Brand setzt“, sagte er mir. „Dann werden wir auf euch schießen, wir haben einen Befehl. Die Sowjetunion war ein großartiges Land, aber wegen solcher Schwuchteln wie euch, ist sie untergegangen. Denn niemand hat euch rechtzeitig in die Schranken gewiesen. Wenn ihr [Russen] glaubt, dass ihr hier eure Tichanowsjaka eingeschleust habt, dann hat sie euch einen Bären aufgebunden. Ihr sollt wissen, dass es hier keine zweite Ukraine geben wird, wir werden es nicht zulassen, dass Belarus ein Teil von Russland wird.“

 „Warum [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] bist du hierher gekommen?“, fragte er mich.

„Ich bin Journalist, ich bin gekommen, um über das zu schreiben, was bei euch los ist.“
„Na und was hast du geschrieben, du Wichser? Das Material wird dir noch lange in Erinnerung bleiben.“

Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns

„Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns“, rief währenddessen ein junger Mann, der durch die Schläge und Schmerzen bereits die Nerven verloren hatte.

„Fick dich! So leicht kommt ihr nicht davon“, antwortete einer der Begleiter. 

Auf dieser langen Reise durch die Hölle wurde mir klar, dass unter den SOBR-Leuten, die uns begleiteten, sowohl offene Sadisten als auch Ideologen waren, die glaubten, dass sie ihr Heimatland wirklich vor äußeren und inneren Feinden retten würden. Mit denen kann man also durchaus reden.


Auf dem ganzen Weg wussten wir nicht, wohin sie uns brachten: in ein Revier, in Untersuchtungshaft, in ein Gefängnis oder vielleicht auch nur in den nächsten Wald, wo wir entweder zu Tode geprügelt oder einfach getötet würden. Ich übertreibe in keiner Weise bei der letzten Option: Ich hatte das Gefühl, dass alles möglich ist. 

Wir wurden auf allen Vieren in einen Keller mit Wachhunden gebracht

Als wir an der Endstation ankamen (ich nenne es so, weil ich bis zum Schluss nicht wusste, wo wir waren), standen wir dort noch anderthalb oder zwei Stunden, denn es waren noch sieben weitere Lastwagen gekommen, wir standen Schlange. Als wir den Befehl bekamen, aus dem Transporter auszusteigen, wurden wir auf allen Vieren in einen Keller gebracht, da standen Leute, und es gab Wachhunde. 

Davon wurde die Angst vor dem, was kommt, stärker, aber am Ende war nicht alles so schrecklich wie bei der Polizei im Moskowski Bezirk. 

Wir wurden lange Zeit durch Korridore geführt, dann brachte man uns in den Gefängnishof – in Filmen sieht man immer, wie Gefangene an solchen Orten spazieren gehen. Für uns war es fast wie im Himmel. 

Seine Kniescheibe war herausgesprungen und baumelte herum

Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir die Arme hängen lassen, aufrecht gehen, uns hinlegen, und, was am wichtigsten war: Wir wurden erstmals nicht geschlagen. Einen Typen hatten sie an der Wirbelsäule verletzt, OMON-Leute waren draufgesprungen, und seine Kniescheibe war herausgeschlagen und baumelte herum. Er kam in diesen Hof und fiel um.

Zum ersten Mal wurden wir wie Menschen behandelt: Sie brachten einen Eimer, damit wir endlich auf Toilette gehen konnten. Sie brachten uns eine 1,5-Liter-Flasche Wasser. Natürlich war das für 25 Leute nicht genug, aber trotzdem …

„Wird heute nicht mehr geprügelt?“, fragte einer der Gefangenen den Mann, der den Eimer und das Wasser gebracht hatte.

„Nein“, sagte der Aufseher. „Jetzt bringen wir euch nur noch in die Zellen, das ist alles.“

Da waren Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, Ingenieure, …

Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir miteinander sprechen. Außer mir waren da Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, zwei Ingenieure, ein Bauarbeiter und auch ehemalige Häftlinge. Einer von denen sagte, dies sei die Strafkolonie in Shodino, er wisse das, weil er hier gesessen habe. Bald wurde auch mein Freund Nikolaj Arkadjewitsch in den Hof gebracht. 
Ein Mann in Uniform trat auf die Brücke über dem Gefängnishof. 

„Telishenko?! Ist Nikita Telishenko hier?“, rief er. „Ja“, antwortete ich. Der Mann in Uniform sprach mit dem Mann, der neben ihm stand, und dann schrie er: „Nikita, komm zur Tür. Du wirst gleich abgeholt.“

Meine Zellengenossen freuten sich sehr für mich. „Nun, holen sie dich endlich“, verabschiedete sich Nikolaj Arkadjewitsch von mir. 

Der Heimweg

Der Mann in Uniform entpuppte sich als Oberst des belarussischen Strafvollzugs namens Iljuschkewitsch. Er sagte, dass nun ich und ein anderer Russe (es stellte sich heraus, dass es ein Korrespondent von RIA Nowosti war) mitgenommen würden. Ich wusste nicht, wer uns abholen würde. „Jemand vom KGB oder von der Botschaft“, dachte ich. Sie gaben mir alle meine Sachen, und wir gingen durch die Gefängnistore hinaus. 

Dort standen viele Menschen: Leute, die nach den Festnahmen ihre vermissten Angehörigen suchten, Menschenrechtler. Wir wurden von einer Frau empfangen, die sich als Mitarbeiterin des Migrationsamtes von Belarus vorstellte, sie brachte uns in die Stadt, wo unsere Fingerabdrücke genommen wurden und wir einen Abschiebebefehl erhielten, demzufolge ich und der Korrespondent von RIA Nowosti das Territorium von Belarus bis 24:00 Uhr dieses Tages verlassen sollten. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits 22:30 Uhr. 

Ihr zufolge sollte ich morgen vor Gericht gestellt werden, aufgrund welcher Anklage konnte sie nicht erklären (ich bekam keine Dokumente zu Gesicht, die mich zur administrativen oder strafrechtlichen Verantwortung zogen, es wurde keine Anklage gegen mich erhoben), sagte aber, ich könnte zwischen 15 Tagen und sechs Monaten ins Gefängnis gesteckt werden. 


Dann kam ein Mitarbeiter der russischen Botschaft in Belarus. Er sagte, um uns zu finden, habe der russische Botschafter persönlich den belarussischen Außenminister angerufen. Der Diplomat setzte uns ins Auto und brachte uns nach Smolensk. 

In den verbleibenden anderthalb Stunden schafften wir es, die Grenze zu Russland zu überqueren und kamen um 2:30 Uhr in Smolensk an. Der Konsul kaufte uns einen Burger, weil weder ich noch mein Kollege russisches Geld hatten, fuhr uns ins Hotel und ging.  
Jetzt fliege ich nach Moskau, um von dort nach Jekaterinburg nach Hause zu fliegen.

Die Redaktion von Znak dankt für die Hilfe bei der Freilassung von Nikita Telishenko dem russischen Außenministerium, der russischen Botschaft in Belarus, der Vertretung des russischen Außenministeriums in Jekaterinburg und dem Ministerium für Internationale und Außenwirtschaftliche Beziehungen der Region Swerdlowsk.

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnosen
en

Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
dekoder unterstützen
Weitere Themen
weitere Gnosen
Motherland, © Tatsiana Tkachova (All rights reserved)