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Der Kosake hat den Größten

Die Liebe verbirgt sich an den unglaublichsten Orten. Sogar im Nachnamen des Snob-Korrespondenten Igor Saljubowin steckt das Wort ljubow (dt. Liebe). Prädestiniert ihn das dafür, über Russlands größte Sextoy-Fabrik zu berichten? Er hat es jedenfalls getan und schreibt auf Snob davon, wie sich in einer Kosakensiedlung ein Betrieb der Rüstungs- in einen der Liebesindustrie verwandelt hat. Schwerter zu – ja, zu was eigentlich? 

Quelle Snob

Zuerst schuf Gott den Mann. Damit dem Mann nicht langweilig werde, machte Gott aus dessen Rippe die Frau. Dann fingen sie doch an, sich zu langweilen – und erfanden Sextoys.

Im Jahr 7527 seit Erschaffung der Welt werden künstliche Penisse und Vaginas größtenteils in China hergestellt, doch eine kleine Fabrik in der Oblast Kuban will China Konkurrenz machen und verkauft ihre Produkte schon seit ein paar Jahrzehnten in ganz Russland.  

Konkurrenz für die Chinesen – eine kleine Fabrik für Sextoys in Kuban / Foto © Igor Saljubowin

Da baumelt die Mutter aller Butt-Plugs

Michalytsch hält mit zwei Fingern einen rosa Butt-Plug an einer kleinen Schnur hoch. Hier baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in nächster Zeit in der Fabrik erzeugt werden. Ein von einem Bildhauer geformtes Wachsmodell wird in eine alte, schon hier und da rissige Plastikwanne gelegt. Kathode, Anode, Elektrolyse – die Methode ist 200 Jahre alt, aber hier in der Fabrik hält man sie für effizienter als 3D-Druck.

An Michalytschs Fingern baumelt die Mutter aller Butt-Plugs, die in der Fabrik erzeugt werden / Foto © Igor Saljubowin

Eine Wanne mit Modellen, die allmählich metallisiert werden, steht in einem kleinen Nebengebäude im Hinterhof der Fabrik. Die Fabrik steht am Rand einer Kosakensiedlung.   

In der Kosakensiedlung Poltawskaja leben 25.000 Menschen. Ein Magnit-Supermarkt, eine Brotfabrik, ein geschlossenes Kino, ein ausgestellter Düsenjäger, ein Heimatkundemuseum, ein Hotel, eine dunkelhäutige Prostituierte in der Sauna des Ortes – das ist alles, was es hier an Sehenswürdigkeiten gibt. 

Ein Auto fährt hier alle fünf Minuten vorbei. Ein Fahrrad – alle vier.

Die Traubenkirsche blüht, die Straßen sind sauber und leer.

Im Hinterhof der Fabrik steht die Wanne mit den Gussformen / Foto © Igor Saljubowin

Die Provinz schleicht sich in die Schlafzimmer der Hauptstadt

Fabrikdirektor Wadim Kanunow hat in seinem Leben so viele Dildos produziert, dass sie für alle Einwohner von Rumänien reichen würden, oder je vier für jeden Einwohner von Kuban, oder 800 Stück pro Bewohner der Kosakensiedlung Poltawskaja, wo seine Fabrik steht. Kanunows Phallusse werden auf der umstrittenen Krim verkauft, im prorussischen Donbass und in der antirussischen Ukraine. Auf der Krim ganz offen, in die Ukraine schmuggelt sie eine Bande durch die Donezker Volksrepublik. Eine spezielle Person holt von Kanunow einen Schwung Sexspielzeug für Tschetschenien und Inguschetien ab. Dort passiert der Handel im Geheimen.

In der Provinz, wo man traditionell mit der Hauptstadt nicht kann, und in Moskau, das abfällig über den Moskauer Autobahnring hinausspäht, wird Kanunows Spielzeug etwa in gleicher Menge verkauft. Im ganzen Land sind seine Dildos erhältlich, aber in Poltawskaja gibt es keinen Sex-Shop. Die Fabrik am Ortsrand hat nicht mal ein Schild.    

Fabrikdirektor Kanunow hat in seinem Leben soviele Dildos produziert, dass sie für alle Einwohner Rumäniens reichen würden / Foto © Igor Saljubowin

Die künstlichen Schwänze werden nach Gutdünken designt

„Ich möchte nicht, dass zum Beispiel in der Schule die Lehrer meiner Kinder davon erfahren. Aber die Verwandten wissen Bescheid“, sagt eine Fabrikarbeiterin. Ein Lagerarbeiter bittet uns, nicht sein Gesicht zu fotografieren. Ich mache von ihm eine Aufnahme von hinten, an seinem Schreibtisch. In die Kamera blickt ein Lenin, der seit der Sowjetzeit hier hängt.  

Keiner nimmt die Produkte aus eigener Herstellung mit nach Hause. „Sie trauen sich nicht“, meint Kanunow. Dem Thema, wie neue Modelle denn getestet werden, weicht er selbst allerdings auch aus. In seiner Fabrik gibt es keine Testpersonen. 

„Manchmal teste ich ein Spielzeug pro Woche, manchmal weniger, wenn ich gar keine Zeit oder Lust habe“, erzählt eine professionelle Sextoy-Testerin in einem Interview des Onlinemagazins FurFur. „Das glaubt man nur, dass das immer angenehm ist. Ist es gar nicht. Manchmal ist mir einfach nicht nach Sex, da will ich in der Badewanne liegen und Remarque lesen – Gleitgel oder neue Dildos können mir dann gestohlen bleiben.“ 
Normalerweise arbeiten Testpersonen im Auftrag der Sex-Shops, testen also bereits fertige Ware. Insofern werden die künstlichen Schwänze Poltawskajas praktisch nach Gutdünken designt.

Dildo-Design nach Gutdünken / Foto © Igor Saljubowin

Ab Frühling ist Flaute 

Die meisten Gießer sagen, sie hätten in der Fabrik angefangen, weil man im Ort sonst schwer einen Job findet. „Das mittlere Einkommen ist hier rund 15.000 Rubel [etwa 210 Euro – dek], und wir kriegen 30.000 Rubel [etwa 420 Euro – dek] oder sogar mehr. Aber ich versuche auch, die Wochenenden durchzuarbeiten, wenn ich kann. In Handyshops darf man das gar nicht. Dadurch verdienen wir hier mehr“, sagt Anton. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen macht es ihm überhaupt nichts aus, dass er jeden Tag Phallusse herstellt. Viel mehr Sorgen bereitet ihm, dass die Nachfrage saisonal schwankt. „Von August bis Silvester schuften wir wie die Berserker, sind eingedeckt mit Aufträgen, und im Frühling und Sommer ist Flaute“, erklären die Gießer. „Im Frühling und Sommer gehen die Leute raus“, versucht er, Gründe für diese saisonalen Schwankungen zu erklären. „Aber im Herbst und im Winter – was sollen sie denn sonst tun?“

Die Kosaken sind die größten, mit einem Durchschnitt wie der Bizeps von Schwarzenegger / Foto © Igor Saljubowin

Wir haben uns das Ziel gesetzt, den größten Schwanz zu machen

Die Kosaken sind die größten, mit einem Durchschnitt wie der Bizeps von Schwarzenegger. Die Amerikaner sind etwas kleiner als die Kosaken, aber immer noch dicker und länger als die durchschnittlichen dreizehn Zentimeter. Die Realisten sind näher an der Wahrheit, aber gefragt sind die einen genauso wie die anderen. „Wir hatten uns einfach das Ziel gesetzt, den größten Schwanz zu machen“, erzählt Direktor Kanunow, wie die Idee zum Kosaken entstand. „Wir hatten das eher als Scherzartikel gedacht. Aber dann sind sie ihrem eigentlichen Verwendungszweck entsprechend gekauft worden.“ Das weiß Kanunow nicht aus einer Umfrage in der Fokusgruppe – die gibt es genauso wenig wie die Testpersonen –, das haben ihm Verkäufer in Sex-Shops erzählt.     

Die ersten Vibratoren waren mit Motoren ausgestettet, die für militärische Zwecke gedacht waren / Foto © Igor Saljubowin

Der 23-jährige Shenja ist der Jüngste in der Fabrik. Er fährt allein zur Arbeit und sitzt in einem Extrazimmer. In der Penisproduktion ist er, seit er vierzehn ist, sein Vater, der seit Ende der Nullerjahre bei Kanunow arbeitet, hat ihn in die Fabrik geholt. „Ich habe mich von klein auf für Mechanik interessiert, hab die Schule abgeschlossen, eine Elektrikerlehre gemacht und arbeite seitdem hier.“

Shenja bezieht ein Gießergehalt, in seiner Freizeit tüftelt er an neuen Herstellungsmethoden und Materialien, mit denen man noch vollkommenere Dildos machen kann, dabei kommen zur Schwanzproduktion umgemodelte sowjetische Maschinen und die technischen Ressourcen der Kosakensiedlung zum Einsatz. 

Die ersten Vibratoren waren mit Militär-Motoren ausgestattet

Der ehemalige sowjetische Gynäkologe Wadim Kanunow produziert seit Anfang der 1990er Jahre Sexspielzeug. Die ersten zehn Jahre seines Lebens als Geschäftsmann lassen darauf schließen, dass die Produktion zunächst mit Unternehmensplünderungen und in enger Zusammenarbeit mit der in den Perestroika-Jahren zerstörten Rüstungsindustrie zusammenhing. Die ersten Vibratoren hatte er mit Motoren ausgestattet, die für militärische Zwecke gedacht waren. 
Nostalgische Gefühle kommen bei Kanunow nicht auf, wenn er an diese Zeit zurückdenkt, genauso wenig wie große Gefühle bei dem Gedanken daran, dass seine Waren Millionen Menschen im Land sexuelle Befriedigung bringen. Nur einmal habe er so eine Art Nostalgie empfunden, sagt er: „Da kam vor einigen Jahren ein alter Mann in einen Sex-Shop und zog einen uralten Dildo aus der Tasche und fragt: ‚Können Sie mir den reparieren?‘ Man rät ihm: Komm, Opa, wir suchen Dir einen neuen aus. Aber er bleibt unbeirrt: Nein, ich mag den, ich komme gut mit ihm zurecht. Als der Sex-Shop-Inhaber den Dildo sah, griff er gleich zum Hörer und rief mich an: ‚Komm her, das wird dir gefallen.‘ Das war einer unserer ersten Vibratoren, noch echtes Handwerk.“

Sein Business sei eine Mission zur Rettung des Landes, sagt Fabrikdirektor Kanunow / Foto © Igor Saljubowin

„Alle unsere Mitarbeiter sind die erste Zeit mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen, und jetzt mit dem Auto“, erzählt Wadim Kanunow. „Nicht nur das, manche haben sogar Motorräder. In unserem Ort, und überhaupt in Russland, wird jetzt weniger getrunken, und ich glaube, das ist unser Verdienst. Mit meinem Business erfülle ich eine Mission zur Rettung des Landes. Alle wollten das, und wir haben’s geschafft. Wir exportieren mittlerweile sogar. In Poltawskaja wird nicht gesoffen.“  

Wenn ich heimgehe, denke ich nur an Bier und gebratenen Fisch

Es wird Abend in der Kosakensiedlung; die Gießer sind wohl schon zu Hause – ruhen sich aus, um morgen früh zur Arbeit zu fahren und eine ordentliche Partie Vaginas anzufertigen. Monteurinnen sitzen noch da, über die Arbeit gebeugt. Die Uhr zeigt schon sieben, aber Anka, die seit 12 Stunden hier ist, weiß noch nicht, wann sie geht. Sie muss heute noch hundert Slips in Schächtelchen verpacken. „Wenn ich heimgehe, denke ich nur an Bier und gebratenen Fisch. Das wird bei jedem anders sein, aber bei mir ist es so. Und du, Larissa, woran denkst du meistens?“ Larissa bepinselt schweigend den hundertsten Schwanz heute. „Hm, Larissa?“ Larissa zieht mit einem Schminkstift langsam blaue Venen. Die Hälfte der Belegschaft ist schon weg. „Komm schon, sag!“, Anka lässt nicht locker.

„Mann, woran denke ich? Ich gehe und denke, wie verdammt *** (müde) ich bin!“, sagt Larissa und macht sich an die Bemalung der Eicheln.

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Russischer Mat – kulturhistorische Aspekte

Eine obszöne Schmäh- und Fluchsprache – das ist die am weitesten verbreitete Vorstellung von Mat. Eine Art und Weise zu reden, die voll unflätiger Wörter und Wendungen und in der Alltagssprache und insbesondere im öffentlichen Leben unzulässig ist. Mat gilt als Schimpfsprache, daher heißt auch der gängige Ausdruck nicht Mat sprechen sondern Mat schimpfen (rugat’sja matom). Aber nicht jedes Fluchen ist Mat, also obszön, und umgekehrt ist nicht jeder obszöne Mat unbedingt Flucherei.

Mat kann einerseits als Ausdruck verbaler Aggression verstanden werden, als eine adressatenspezifische Beleidigung und Abwertung. Andererseits ist Mat aber auch ein Mittel, um seine Gefühle auszudrücken, zum Beispiel starken Ärger oder genau andersrum große Freude. Fast nie drücken diese Wendungen jedenfalls etwas Sexuelles aus, obwohl die drei Schlüsselwörter im Mat – chuj (dt. Schwanz), pizda (dt. Möse), ebat’ (dt. ficken)1in ihrer ursprünglichen Bedeutung männliche und weibliche Geschlechtsorgane sowie Geschlechtsakte bezeichnen.

Wie ist Mat entstanden?

Wie ist russischer Mat entstanden? Die Herkunft dieser obszönen Wörter und Ausdrücke im Russischen stellt eine komplexe sprachwissenschaftliche Problematik dar, und vieles ist noch ungeklärt. Die Wissenschaftler sind sich aber in einem Punkt einig: Historisch gesehen handelt es sich um altslawische, genau genommen russische Wörter und Wendungen, die mythologische, heidnische Vorstellungen der Welt als ganzer widerspiegeln.2

Bei den Slawen hatten diese Wörter und Ausdrücke eine rituelle Funktion mit symbolischem Charakter, beispielsweise zum Anrufen einer wichtigen heidnischen Gottheit: des Himmels, um sich mit Mutter Erde zu verbinden (Eti svoju mat’!, dt. wörtlich: Habe/beherrsche deine Mutter.) Dadurch wurde die Idee von Fruchtbarkeit und Fortsetzung des Lebens auf der Erde ausgedrückt. Im Kontext von Haus und Hof wurden diese Ausdrücke eingesetzt, damit es eine gute Ernte geben möge; in ehelichen Zusammenhängen, damit Kinder geboren würden. Anders gesagt:  Sie kamen in einem magischen, sakralen Sinne zum Einsatz. In Bezug auf Feinde wurde eine andere Wendung zur magischen Phrase: Pjos eti ego mat’! (dt. Hund, beherrsche seine [des Feindes] Mutter Erde!). Der infernalische Hund entweiht demnach das Feindesland.

Später dann wandelte sich die Bedeutungsebene dieser Ausrufe hin zu einem profanen Inhalt: Statt „Mutter Erde“ hatte der Sprecher nun die Mutter seines Gegenübers, seines Gegners im Sinn (daher auch der Begriff mat’, maternyj, wörtlich: Mutter, mütterlich). Das Verb wurde damit ebenfalls konkreter: ebat’ wurde im Laufe Zeit zur Metapher für Sexualität (zuvor bedeutete das Wort soviel wie schlagen, peitschen). So klang der Ausruf im Endeffekt nun so: Job tvoju mat’! (dt. Fick deine Mutter!). Auf diese Weise hat sich die vulgäre, fluchende Botschaft der Phrase herausgebildet. Aber mit der Zeit wurde der profane, beleidigende Inhalt verdrängt: Übrig blieb eine emotionale Interjektion, die keinerlei sexuellen Sinn mehr trägt.

Mat als Tabu

Wann wurden diese Wörter und Ausdrücke in der russischen Kultur zum Tabu? Nach der Christianisierung der Rus gerieten die rituellen und heidnischen Vorstellungen sowie die ihnen entsprechenden Ausrufe und sprachlichen Wendungen in Widerspruch mit der neuen christlichen Ideologie. Das orthodoxe Christentum führte einen erbitterten, ideologischen Kampf gegen den Gebrauch von Mat, in dem Versuch, alles Alte zu diskreditieren. Heidnische Ausdrücke galten als dämonisch. Einst unschuldig und normal, galten sie mit der Zeit als verboten und obszön. Dies führte – wie so oft – zum gegenteiligen Ergebnis, nämlich zu ungeahnter Popularität. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Mat in seiner modernen Form ist das Produkt von Verbot und Unterdrückung, in früheren und auch in späteren Zeiten.

Der moderne Gebrauch obszöner Wörter und Ausdrücke ist zweifellos sozial markiert. Mat gilt als Sprache der sozialen Unterschicht. Jedoch wird es in der einen oder anderen Form und in unterschiedlichen Funktionen ebenso von ganz verschiedenen russischsprachigen Gesellschaftsschichten verwendet. Einmal gibt es die phonische Vulgärsprache – die sinnlose Verwendung von Mat als verbaler Müll. Viel häufiger und vielseitiger ist der sogenannte expressive Mat – als emotionaler Ausdruck des Individuums, zur Erleichterung in Stressmomenten, zur Wiedergabe starker Gefühle, auch positiver. Schließlich kann Mat auch eine Art ästhetische Funktion erfüllen, insbesondere in der Literatur: zur Charakterisierung der Personenrede oder als besonderes sprachliches Mittel im Ausdruck negativer oder positiver Emotionen (so zum Beispiel auch in Texten von Puschkin, Solschenizyn oder Sorokin).

Die Sonderlinge in der Mat-Verwendung

Eine sprachliche „Errungenschaft“ der Sowjetzeit ist der sogenannte Nomenklatur-Mat: die Verwendung grober, obszöner Wörter und Phrasen in der informellen Kommunikation zwischen Staatsbeamten und ihren Untergebenen, aber auch mit Jüngeren. Hierbei dient Mat nicht allein der Demonstration hochnäsiger Geringschätzung, sondern auch als spezifisches Stilmittel, einer familiär vertrauten Grundhaltung des Chefs im Verhältnis zu seinem unterstellten Mitarbeiter.  

Darüber hinaus dient Mat in nachlässig umgangssprachlich gehaltener Kommunikation oftmals als abgrenzendes Signal gegenüber Fremden, die als nicht zugehörig zu einer Gruppe gelten und lässt im Gegenzug die Vertrautheit mit den „eigenen Leuten” erkennen. Eben, weil man mit ihnen praktisch dieselbe Sprache spricht. In diesem Zusammenhang seien Nicht-Muttersprachler vor der Verwendung von Mat gewarnt, weil es unvermeidlich zu einem kommunikativen Misserfolg führen muss. Gewöhnlich erzielen sie damit eher einen komischen Effekt. Die Verwendung von Mat ist einfach von einer Vielzahl sprachlicher, aber auch subkultureller sowie stilistischer und semantischer Besonderheiten beeinflusst, die enorm schwer zu beherrschen sind. 

Multifunktionalität des russischen Mat

Sprachwissenschaftler unterscheiden mehr als zwanzig Funktionen des Mat.3 Die Multifunktionalität von Mat-Wortstämmen besteht in der Sprachpraxis darin, verschiedene kommunikative Aufgaben zu erfüllen und unterschiedliche, oft gegensätzliche Emotionen, Zorn und Freude, Aburteilung und Befürwortung, Verachtung und Begeisterung zu transportieren. Zum Beispiel: Krasse Neuigkeiten! könnte man auf Russisch als Ni chuja sebe novost’! ausdrücken, was in wörtlicher Übersetzung „Mein Schwanz, sind das Neuigkeiten!“ bedeuten würde. Ein weiteres Beispiel könnte der Satz sein: Nu vas v pizdu, ne smešite menja! (dt. etwa ‘Hört mir doch auf, verarschen kann ich mich auch selbst!’, wörtlich: „Zur Möse mit euch, veralbert mich nicht!“). Diese Ausrufe gelten allerdings als niedriges umgangssprachliches Niveau.

Wie beständig Mat ist, sieht man daran, dass er über viele Jahrhunderte den Versuchen, ihn einzudämmen, standgehalten hat. Besonders auffällig ist die Produktivität der obszönen sprachlichen Einheiten: Immer wieder gibt es Neubildungen aus den drei Schlüsselwörtern des traditionellen russischen Mat. Auf einer Stopp-Liste für das russische Internet (die Domains .ru und .рф) sind circa viertausend solcher derber abgeleiteter Wörter. Die meisten davon finden sich nicht in Wörterbüchern, und die Bedeutung vieler Neubildungen kann mit unterschiedlichem Erfolgsgrad nur im jeweiligen Kontext erschlossen werden (vgl. beispielsweise: chujatizacija, propizdjačit’, izebenit’).

Mat wird sehr widersprüchlich bewertet: Der weit überwiegende Teil der russischen Gesellschaft verurteilt den Gebrauch obszöner Wörter und Wendungen – aus moralischen und ästhetischen Gründen, aber auch, weil die Normen der russischen Literatursprache, von denen das Sprechen geleitet wird, es erfordern. Gleichzeitig drückt ein breiter Teil der Bevölkerung auch ein Auge zu, wenn es um Mat geht (dessen alltäglicher Gebrauch hier genauer dargestellt wird) – dann wird es als nationales Gemeingut aufgefasst, als sprachlicher Heldenmut und auch als beliebtes und recht souveränes Stilmittel, um eine Art sprachlicher Unabhängigkeit unter den im russischen Leben traditionell herrschenden Bedingungen von sozialer und politischer Unfreiheit zu demonstrieren.


1.Sämtliche aus dem Russischen übertragenen Lexeme in dieser Gnose unterliegen der wissenschaftlichen Transliteration
2.s.a. Uspenskij, B. A. (1994): Mifologičeskij aspekt russkoj ėkspressivnoj frazeologii, in: Uspenskij, B. A.: Izbrannye trudy Bd. 2, Moskau, S. 53-128. Es gibt auch andere Ansätze zur Geschichte des russischen Mat, z. B. Michajlin, W. (2005): Tropa zvernych slov: Prostranstvenno orientirovannye kulturnye kody v indoevropejskoj tradicii, Moskau, S. 331-360: Hier wird die magische Natur der russischen obszönen Lexik nicht geleugnet; erklärt wird ihr Auftreten ausschließlich durch männliche Jägerei und Kriegsmagie (vergl. S. 335)
3.s. ausführlicher: Želvis, V. I. (1997): Pole brani: Skvernoslovie kak social`naja problema, Moskau
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