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Das Himmelfahrts-Kommando

„Willkommen in Asgardia – die allererste Weltraumnation, die allen offensteht!“ Mit diesem Grußwort ruft der russische Unternehmer Igor Aschurbejli auf seiner Website alle Erdenbürger dazu auf, sich den 170.000 Asgardianern anzuschließen. Der kosmische Staat soll die Erde vor Weltraumschrott, -strahlung und Sonnenstürmen schützen. Alle Grenzen werden überwunden, alle Konflikte beigelegt, verspricht Aschurbejli.  

Alles Spinnerei? Taissija Bekbulatowa hat Aschurbejli für Meduza getroffen.

Quelle Meduza

Kolonie im Kosmos ©Личный сайт И.Р. Ашурбейли

Igor Aschurbejli, 54, hat ein rundes gutmütiges Gesicht, Brille, einen grauen Schnauzer und war früher Chef eines Rüstungskonzerns. Man würde bei ihm als Letztes darauf kommen, dass er der Regierungschef eines Staates im Weltraum ist. 

Während des Interviews benimmt er sich wie ein ungezogenes Kind: Unangenehme Fragen beantwortet er gar nicht erst, sondern kehrt mir den Rücken zu und fragt seine Assistentin mit gespielter Empörung: „Wen hast du mir denn da angeschleppt? Ich weiß nicht, was das hier soll?“ Dann dreht er sich wieder zu mir und sagt: „Ich habe irgendwie vergessen, was Sie gefragt haben.“ Nach einer meiner Fragen schaut er erstaunt auf die Uhr im Büro: „Die Uhr ist stehengeblieben. Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht. Sogar die Uhr bleibt stehen.“ 

Ein ganzes Jahrzehnt leitete Aschurbejli Almaz-Antei, einen der wichtigsten russischen Rüstungsbetriebe. Sein Büro befindet sich bis heute in demselben Gebäude am Leningrader Prospekt wie Almaz-Antei. Dort sind auch die Räume seiner Holding Sozium, die sich ebenfalls mit Rüstungsaufträgen beschäftigt. 

Wie es sich für einen respektablen Geschäftsmann gehört, ist Aschurbejlis Arbeitszimmer mit dunklem Holz getäfelt, außerdem wird der Besucher zwischen Innen- und Außentür unerwartet von einem Skelett begrüßt. Die Assistentin erklärt, dass ihr Chef seine Leichen nicht im Keller verstecke, sondern dass er Offenheit demonstriere, „den Zustand der künftigen Welt”. Aschurbejli hat das Weltraum-Königreich Asgardia kurz nach seiner Kündigung bei Almaz-Antei gegründet. 

Kolonie im Kosmos

Asgardia hat schon 170.000 Bürger aus der ganzen Welt, und Aschurbejli hat die feste Absicht, eine Kolonie im Kosmos zu begründen. „Ich will zu meinen Lebzeiten eine ständige Kolonie auf dem Mond gründen und dort hinfliegen. Alles andere ist Abenteurerei.“

Igor Aschurbejli wurde in Baku geboren, wuchs dort auf und studierte am Aserbaidschanischen Institut für Erdöl und Chemie. 1990 zog er nach Moskau und fing an Geschäfte zu machen, so organisierte er einige Kooperativen, die sich mit Softwareentwicklung und Computertechnik beschäftigten. Nach seinen eigenen Worten, fing er von Null an, „ohne jegliche Unterstützung, ohne Protektion“. „Die 1990er waren eine schwere Zeit, ich habe sie in all ihren Feinheiten am eigenen Leibe erfahren: Bei Schlägereien war ich dabei und reden konnte ich, dass ich als Gauner durchging.“
„Was sollte man tun? Irgendwie musste man ja da durchkommen und den Überblick behalten“, erinnert er sich an einer anderen Stelle. 

Aschurbejli gründete eine Firma, die ab 1991 mit dem Rüstungsbetrieb Almaz zusammenarbeitete, wo man ihm 1994 vorschlug, stellvertretender Generaldirektor zu werden. Sechs Jahre später wurde Aschurbejli Generaldirektor und blieb es bis 2011. Unter seiner Leitung entwickelten die Ingenieure von Almaz Flugabwehrraketensysteme, die im Ausland sehr beliebt waren und die Almaz-Antei einen stabilen Umsatz und einen Platz ganz vorne im Ranking der Rüstungsunternehmen sicherten. 
2011 beschloss der Aufsichtsrat, Aschurbejli zu entlassen, verpackte die Nachricht allerdings in eine Danksagung. „Ich muss zugeben, der bittere Nachgeschmack, dass sie mich abgesägt haben, ist geblieben. Und die Staatsgeschäfte, mit denen ich mich in meinem vorherigen Lebensabschnitt erfolgreich befasst habe, war von ganz anderer Dimension als die privaten Aufgaben, denen ich mich heute widme.“ 

Kirchenbau als Labsal für die Seele

Laut Aschurbejli war es schwer, mit dem Stress nach der Kündigung klarzukommen: „Ich brauchte einen Ausgleich.“ Deswegen begann er „Kirchen zu bauen“ – das war eine Labsal „für die Seele“ des ehemaligen Waffenbauers. 
Auch wenn er seine Kritik am aktuellen russischen Staat nicht näher benennen will, ist Aschurbejli ein politisch aktiver Mensch. Er ist Vorsitzender der Partei Wiedergeburt Russlands, die ihm 2015 nach dem Tod seines alten Freundes Gennadi Selesnjow, Parteigründer und Ex-Sprecher der Duma, zufiel.

Eine der Initiativen der Partei war beispielsweise, die öffentlichen Toiletten zur „nationalen Idee“ Moskaus zu erklären. Aschurbejli behauptet, dass er kein Anhänger Wladimir Putins sei, aber ihm pünktlich zum Geburtstag zu gratulieren hat er nicht vergessen.

Im Übrigen sind seine wahren politischen Ansichten monarchistisch. Er sagte mehrmals, dass Russland eine konstitutionelle Monarchie brauche und zwar „mit einem jungen, etwa 40-jährigen Zaren an der Spitze. Der neue Herrscher Russlands wird seine Thronbesteigung mit dem Segen des Patriarchen der ganzen Rus in der Alexander-Newski-Kirche in Jerusalem verkünden, und zwar ... hoffentlich im Jahr ... 2017, aber spätestens 2018“, so äußerte er sich im Sommer 2016. 

Der Monarchist Aschurbejli wird aber auch nostalgisch, wenn es um die sozialistische Vergangenheit geht: „Ein Fläschen Wodka und eine Tafel Schokolade und, na ja, ein bisschen Kleingeld, das waren einmal die russisch-sowjetischen Kommunikationsmittel. Jetzt zählt nur noch der schnöde Dollar.“ Die heutige Gesellschaft missfällt ihm und er deutet an, dass das Volk „unprofessionellen Intriganten“, ja „Scharlatanen“, wenn nicht gar „Banditen“ zur Macht verholfen habe und erklärt, dass die gegenwärtigen Staaten „ausgelaugt und zu Vasallenburgen der räuberischen Mammonelite verkommen sind“. 

Nach der Internetseite des Geschäftsmanns zu urteilen, sind es seine Überlegungen zum traurigen Zustand der heutigen Zivilisation und zur glücklosen demographischen Entwicklung Russlands, die ihn auf die Idee gebracht haben, einen eigenen, zunächst panslawischen Staat zu gründen – der dann aber auch Menschen aus der ganzen Welt aufnehmen soll. 
Aufbauen will er ihn allerdings nicht auf diesem Planeten. „Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können“, erklärt Aschurbejli. 

Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können
 

Am 12. November 2017 startete vom Weltraumbahnhof Wallops im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia die Trägerrakete Antares. Sie brachte den Raumtransporter Cygnus auf die Umlaufbahn. Neben einer Ladung für die Internationale Raumstation transportierte sie einen äußerst kleinen, 2,8 kg schweren Satelliten von der CubeSat-Größe eines Weißbrots mit dem Namen Asgardia-1. Auf dem Satelliten waren 512 Gigabyte Daten von „Bürgern“ Asgardias gespeichert, die, wenn sie sich auf der Asgardia-Homepage registriert hatten, eine Datei, zum Beispiel ein Foto, in den Weltraum schicken konnten. 

„Ich habe den Verdacht, dass das die erste Erwähnung von Rap-Musik draußen im Weltraum ist, deswegen bin ich wahrscheinlich so eine Art Gagarin des russischen Raps“, scherzt der Musiker Leonid Popow. Als er von der Asgardia erfuhr, registrierte er sich einfach so zum Spaß auf der Website und beschloss, „ein Zeichen seines Daseins“ ins All zu schicken. „Damals habe ich gerade, meine Single Interstellar fertig gemacht und dachte, es wäre doch symbolisch, den Track in den Weltraum zu schicken”, erzählt er. „So sehr ich auch versucht habe, die Datei zu komprimieren, es ist mir leider nicht gelungen, diesen Track in den Weltraum zu senden. Die erlaubte Dateigröße war einfach zu klein. Letztlich konnte ich dann doch nur das Cover der Single hochladen.“

Die eigentliche Aufgabe des Satelliten war es aber, ein wenn auch kleines, jedoch souveränes Territorium für den Staat Asgardia zu markieren. Eine Fahne, eine Hymne, ein Wappen und eine „Bevölkerung“ hatte er damals schon. Eine Mindestfläche, die ein Staat haben muss, ist nirgends festgeschrieben, sodass Asgardia jetzt formal über alle Merkmale eines Staates verfügt.

Sobald es Staatsorgane gibt, will sich Aschurbejli außerdem an die UNO wenden, damit Asgardia Mitglied der Organisation wird. „Eher wird die UNO aufgelöst, als dass sie Asgardia nicht als Staat anerkennt“, ist Aschurbejli zuversichtlich. Hauptsache sei, dass andere Staaten Asgardia durch Unterzeichnung gegenseitiger Verträge anerkennen, sagt er weiter: „Und seien es nur fünf Staaten der Erde – und die kann ich schon nennen –, die Asgardia als Staat anerkennen, dann kommen wir einfach nach New York und sagen: ,Hallo, wagen Sie es nur, uns nicht aufzunehmen!’“ Nach den Worten eines Informanten aus der Umgebung Aschurbejlis rechnet er sicher mit der Unterstützung von Monaco und Lichtenstein.

Monarchie statt Demokratie in Asgardia

Im neuen Staat haben schon öffentliche Debatten angefangen. Am meisten kränkte die Asgardianer die Art, wie die Verfassung des neuen Staats erstellt wurde. Eine Gruppe von Juristen aus verschiedenen Ländern hatte die Verfassung ohne Mitwirken der Asgardianer selbst ausgearbeitet. 

Obwohl Aschurbejli mehrmals mitgeteilt hat, dass die neue Staatsordnung von den Bürgern selbst bestimmt wird, erklärt die Verfassung Asgardia zum Königreich. In der Verfassung steht, dass Aschurbejli der Gründungsvater und der erste Staatschef sei. In der ersten Variante des Dokuments wurde ihm sogar das Recht zugestanden, sich Monarch, Präsident und König zu nennen, gleichfalls garantierte es ihm lebenslange Immunität. Zwar sind diese Punkte aus der letzten Variante der Verfassung verschwunden, dennoch hat er laut Verfassung weiterhin das Recht, den höchsten Richter und den Generalstaatsanwalt einzusetzen und zu entlassen. Außerdem kann Aschurbejli gegen Premierminister, Staatsbankleiter und Richter ein Veto einlegen, das Parlament auflösen und jedes beliebige Gesetz blockieren. Aschurbejli ist nicht der Meinung, dass er zu viel verlangt: „Das ist ein lächerliches Amt. Wo ist meine Krone und wer zahlt mir meinen Lohn?“ An Demokratie glaubt der Geschäftsmann nicht: „Mein Gott! Wo haben Sie Demokratie gesehen? Hören Sie damit auf! Das gibt es nicht. Das ist einfach eine Erfindung, mit der man die Menschen hinters Licht führt.“ 

Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein

Viele Asgardianer haben keine Lust mehr, weiter an dem Projekt teilzunehmen. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass auch die Bürger Asgardias bei allen hehren Idealen Menschen bleiben“, schreibt ein Asgardianer. „Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein, die sich gegenseitig die gleiche hässliche egoistische Scheiße antun, wie wir das schon hier auf der Erde machen.“

Aschurbejli selbst behauptet, dass er sich nicht an das Amt des Staatsoberhaupts klammern werde. „Meine Amtszeit ist durch die Verfassung auf fünf Jahre beschränkt“, stellt er klar. „Ich will nämlich, wie auch Wladimir Putin, noch am Strand der französischen Riviera spazieren gehen.“ 

Die Mitarbeiter des Projekts, mit denen Meduza sprach, sind der Meinung, dass sich die laufenden Kosten Asgardias auf etwa 200.000 Euro pro Monat belaufen. Aschurbejli spart nicht, so richtet er beispielsweise auf der ganzen Welt die Pressekonferenzen zu Asgardia in Ritz-Hotels aus.
Der Gründer von Asgardia will, dass der Staat sich in Zukunft selbst trägt, aber es bleibt unklar, wie das funktionieren soll: Mal will er das mit Hilfe des Blockchain-Verfahrens und der eigenen Kryptowährung Solar erreichen (deren Absicherung der Mond selbst sein soll, also das Ziel zukünftiger Besiedelung), mal mit Hilfe von Startups der Bewohner Asgardias, mal mit Hilfe freiwilliger Steuern. 

Laut einem Gesprächspartner von Meduza ist die größte Herausforderung für das Projekt, dass „die Anforderungen sich schnell ändern: Heute soll es auf die eine Weise gemacht werden, morgen auf eine ganz andere und was gestern gemacht wurde, ist dann plötzlich sinnlos“. „Asgardia ist ein Startup, das Leute leiten, die ihre Berufserfahrungen quasi noch in sowjetischer Zeit gemacht haben“, erklärt er. 

Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter des Projekts drückt sich gegenüber Meduza noch härter aus: „Von innen funktioniert das, als wäre es ein Spielzeug, das einem stinkreichen Kerl gehört. Totales Chaos, alles wird alle Nase lang verändert und dazu die absolute Tyrannei.“ Das Problem sei, dass „die Initiatoren des Projekts in ihrer Borniertheit überhaupt keinen Business-Plan haben. Ihre Ziele und Handlungen stimmen absolut nicht überein“. 

Die Chefs hätten dem neuen Staat „so eine tyrannische Verfassung“ gegeben, dass ihnen „die Leute einfach davonlaufen“. Der ganze Weltraum-Staat ist also nichts mehr als der Zeitvertreib einer einzigen Person, so der ehemalige Mitarbeiter von Asgardia. „Obwohl sie sich das nie eingestehen werden. Selbst mit einer Sekte lässt sich das nicht vergleichen, denn da achtet man wirklich bei jedem einzelnen darauf, dass er sich nicht aus dem Staub macht“, sagt er noch. „Wenn kein Geld mehr da ist, dann ist auch das Projekt tot.“ 

Von solchen Kleinigkeiten lässt sich Igor Aschurbejli nicht aus der Ruhe bringen. Er hat in Asgardia einen Sinn gefunden. „Irgendwie muss ich doch bis zum Tod noch leben“, sagt er, „und muss dabei doch auch was tun. Sonst wär's doch langweilig.“

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Am 9. März vor 89 Jahren wurde Juri Gagarin geboren. 1961 als erster Mensch im Weltraum, wurde er bald zu einem kommunistischen Friedensboten, populären Jugendidol, nationalen Kulturheros, dissidenten Raumfahrer und einer globalen Popikone.

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Am 12. September 1959 ist die Raumsonde Luna-2 gestartet. Nach knapp eineinhalb Tagen schlug sie auf dem Mond auf – ihr Vorgänger war noch vorbeiflogen. Matthias Schwartz über das Raumfahrtprogramm der UdSSR.

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Als die Sowjetunion am 4. Oktober 1957 den „ersten künstlichen Trabanten der Erde“ in den Weltraum schoss, hatte dieser neue Himmelskörper noch nicht einmal einen richtigen Namen: Sputnik im Russischen bedeutet Trabant, Begleiter, Weggefährte. Seinerzeit war dieser Gefährte lediglich ein zentraler Bestandteil des Forschungsprogramms während des Internationalen Geophysischen Jahres. In diesem Rahmen wollten die USA und die Sowjetunion künstliche Satelliten zur Erforschung der Sonnenaktivität in der Erdatmosphäre starten. Der kugelrunde, mit zwei mal zwei gegenüberliegenden Antennen ausgestattete Forschungssatellit war einige Wochen früher als erwartet auf seine Laufbahn gebracht worden – zur Überraschung der amerikanischen Kollegen. Diese Kugel, die mit einem Gewicht von 84 Kilogramm nur knapp dreimal größer als ein Fußball war, vermochte man drei Monate lang mit einem schlichten Fernglas am Nachthimmel zu erspähen, ehe sie nach 1440 Umkreisungen der Erde verglühte.

Für die sozialistischen Bruderstaaten läutete diese Erkundungsmission den Beginn einer neuen „kosmischen Ära der Menschheit“ ein. Zugleich galt sie als Beweis der Überlegenheit des kommunistischen Systems. In den USA löste sie eine panikartige mediale Reaktion aus, die als Sputnik-Schock in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Sputnik – das war  auch der Beginn eines neuen Wettrüstens, an dessen Kosten nicht zuletzt die Sowjetunion zugrunde gehen sollte.1

Die populäre Geschichte der Raumfahrt handelt davon, dass die Sowjetunion zumindest in diesem Bereich den nordamerikanischen Kontrahenten für fast ein Jahrzehnt für alle Welt sichtbar überholt hatte. Für den Westen signalisierten die regelmäßigen Pieptöne des Sputnik, die auf dem ganzen Globus zu empfangen waren, dass sowjetische Raketen nun auch Atomwaffen in die Neue Welt transportieren konnten. Gleichzeitig eröffnete die Satellitentechnik ganz neue Spionagemöglichkeiten, war doch nun jede größere Truppenbewegung, jeder neue Militärstützpunkt des Feindes, aber auch jedes private Eigenheim vom Weltraum aus beobachtbar.

Arche Noah des 20. Jahrhunderts

Schon im zweiten Sputnik, der einen Monat später gestartet wurde,  befand sich der „erste interplanetare Passagier“, die Straßenhündin Laika. Sie gab circa eine Woche lang Anhaltspunkte über das Leben in der Schwerelosigkeit. Der dritte Sputnik brachte im Mai 1958 das erste automatische Messlaboratorium in den Weltraum. 1959 transportierte die UdSSR – allerdings im zweiten Versuch – mit einer „kosmischen Rakete“ einen „sowjetischen Wimpel“ auf den Mond. Die Rakete schlug am 15. September als erster von Menschen geschaffener Flugkörper auf dem Mond ein. Noch einen Monat später fotografierte die Automatische Intergalaktische Station bei ihrer Mondumkreisung das erste Mal – allerdings noch recht unscharf – die ständig von der Erde abgewandte Rückseite des Mondes. Deren Landkarte bekam somit anfangs ausschließlich sowjetische Namensgebungen.

1960 bereitete die Sowjetunion die Technik für den Menschen vor. In den Weltraum wurde eine Kapsel geschickt, in dem sich neben den Hunden Belka und Strelka eine ganze Reihe kleinerer Lebewesen von Ratten bis Bakterien befanden. Deswegen bezeichnete man sie auch als „kosmischen Zoo“ oder als „neue Arche Noah des 20. Jahrhunderts“. Alle Insassen der Raumkapsel landeten nach 17-maliger Erdumkreisung wieder lebend auf der Erde. Im Februar 1961 startete man die erste „interplanetare Station“ – die spätere Venus 1 – in Richtung des Morgensterns. Nach drei weiteren Testflügen mit Hunden brachte am 12. April schließlich eine mehrstufige Trägerrakete das Raumschiff Wostok 1 in den Weltraum: mit Juri Gagarin an Bord als erstem Menschen im Kosmos.

Erste und letzte Kosmonauten

Die Errungenschaften häuften sich weiter. Es folgten der Kosmonaut Nummer zwei, German Titow, mit 17 Erdumdrehungen im All, der Parallelflug zweier Raumschiffe, die erste Raumsonde Richtung Mars, die erste Frau im Weltraum (Walentina Tereschkowa), die Installation der ersten meteorologischen Satelliten, die Erprobung des ersten sich selbst manövrierenden kosmischen Apparats, der erste Gruppenflug von drei Kosmonauten, der erste Satellit zur Fernsehübertragung. 1965 ließ sich der letzte größere Erfolg der sowjetischen Raumfahrt vermelden: Die Woschod 2 startete mit Pawel Beljaew und Alexej Leonow an Bord. Letzterem gelang am 18. März der erste Ausstieg eines Menschen ins freie All.

Doch diese letzten Missionen waren bereits mit großem Risiko vollbracht worden und aufgrund von massivem politischen Druck, den USA auf alle Fälle zuvorzukommen. Der nordamerikanische Konkurrent hatte eigentlich die Sowjetunion bereits in vielen Belangen überrundet. Angesichts von Gagarins Raumflug verkündete John F. Kennedy in seiner legendären Rede vor dem amerikanischen Kongress im Mai 1961, nun wolle man innerhalb eines Jahrzehnts als erster auf dem Mond landen. Das milliardenschwere Apollo-Programm wurde auflegt. Der sowjetische Raumfahrtsektor, von strikter Geheimhaltung, staatlicher Kontrolle und militärischen Interessen gegängelt, war allmählich ins Hintertreffen geraten.2

Zwar hatte man auch in den 1970er und 1980er Jahren noch einige Pionierleistungen aufzuweisen, doch diese hatten längst nicht mehr die propagandistische Wirkung wie in der Dekade zuvor. Die große Mission der Raumfahrt, die 1971 begann, lag nun in ständig bemannten Weltraumstationen. Die Station Mir, die die Alte Saljut 1986 ersetzte, existierte fast zehn Jahre länger als die UdSSR selber und wurde erst 2001 zum kontrollierten Absturz gebracht – sie gab es nur noch Out of the Present, wie Andrei Ujica 1995 seinen abgründig traurig-schönen Dokumentarfilm über den letzten sowjetischen Kosmonauten an Bord, Sergej Krikaljow, nannte.

Heldenideal und Popikonen

Die Raumfahrt war in der Sowjetunion jahrzehntelang zentrales Identifikationssymbol und Zukunftsversprechen. Generalsekretär Nikita Chruschtschow hatte diese Hoffnung auf dem 22. Parteitag kurz nach Gagarins und Titows Weltraumflug auf die prägnante Formel gebracht: Nun, da sowjetische Menschen in den Weltraum geflogen seien, könne man auch in 20 Jahren den Kommunismus auf Erden aufbauen. Gleichzeitig stellten die „Helden-Kosmonauten“ – wie man die Weltraumfahrer von Anfang an ehrte – die ideale Synthese zwischen dem militaristischen Heldenideal der Stalinzeit und den postheroischen Popikonen der Tauwetterzeit dar. Fahrkarte zu den Sternen (1961) hieß ein weit rezipierter Jugendroman von Wassili Aksjonow, der davon handelte, wie das „Stück irdischen Metalls“ mit seinen zu Herzen gehenden Biep-Biep-Tönen als „glühender Block irdischer Hoffnungen“ die Träume der Heranwachsenden beflügelte.

Bis zum Untergang der Sowjetunion blieb KosmonautIn der Lieblingsberuf aller Schulkinder, egal ob Mädchen oder Junge, der durch Lehrbücher, Gedicht- und Zeichenwettbewerbe, Spielzeug, Briefmarken und Souvenirs aller Art von klein auf zum Inbegriff des homo sovieticus verklärt wurde.3 Gerade Gagarin und Tereschkowa wurden anfangs als sympathische Boten einer kommunistischen Zukunft inszeniert, die weltoffen und gut gekleidet Freundschaft und Frieden in der ganzen Welt propagierten und bereits im Hier und Jetzt privaten Wohlstand mit moderner Einbauküche, Fernsehen, Telefon und eigenem Auto erreichten.4

Wunsch- und Angstträume im Realsozialismus

Doch diese propagandistische Instrumentalisierung der Kosmonauten war letztlich machtlos gegen das eskapistische Begehren, das hinter der Weltraumbegeisterung jener Jahre stand. Gagarin selbst hatte diese Sehnsucht nach den Sternen auf seiner ersten Pressekonferenz zusammengefasst, dabei nutzte er die Worte, die dem Raketenpionier und Raumfahrtpopularisator Konstantin Ziolkowski zugeschriebenen wurden: „Die Erde ist die Wiege der Menschheit, doch man kann nicht ewig in der Wiege leben.“

Gagarins Lächeln stand für den Wunsch, im Weltraum laufen zu lernen, anderen Zivilisationen und außerirdischen Lebensformen zu begegnen, ein Traum, der die Science Fiction-Literatur innerhalb weniger Jahre zur beliebtesten Lektüre einer ganzen Generation machte. Wissenschaftliche Fantastik, wie das Genre auf Russisch hieß, versprach in Tausenden von Jahren und Milliarden von Kilometern Entfernung all die Gedankenspiele und Wunschträume fiktionale Wirklichkeit werden zu lassen, die es im irdischen Alltag des Realsozialismus nicht geben durfte. Und so handelten diese Weltraumgeschichten in den allerseltensten Fällen von kommunistischen Zukunftsutopien, sondern thematisierten eher die Gefahren technischen Fortschritts, autoritärer Gesellschaftssysteme und menschlichen Größenwahns.

Autoren wie Arkadi und Boris Strugatzki machten sich mit Romanen wie Es ist schwer ein Gott zu sein oder Fluchtversuch einen Namen. Selbst ins Kino fand dieser „apokalyptische Realismus“5 Eingang, in Gestalt von Andrej Tarkowskis Film Stalker (1979) oder Alexander Sokurows Tagen der Finsternis (1988).6
Es waren gerade solche an die sowjetische Raumfahrt gekoppelten Filmbilder und Romanplots, die lange vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems und dem Ende der kosmischen Ära Zukunftsszenarien gesellschaftlicher Katastrophen und menschlicher Ausnahmezustände imaginierten, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.


1.Zu allen Angaben siehe genauer: Schwartz, Matthias (2003): Die Erfindung des Kosmos: Zur sowjetischen Science Fiction und populärwissenschaftlichen Publizistik vom Sputnikflug bis zum Ende der Tauwetterzeit, Berlin
2.siehe zu diesen strukturellen, technologischen und wissenschaftsorganisatorischen Problemen des sowjetischen Raumfahrtprogramms ausführlich Gerovitch, Slava (2015): Soviet Space Mythologies: Public Images, Private Memories, and the Making of a Cultural Identity, Pittsburgh
3.vgl. Rüthers, Monica (2009): Lauter kleine Gagarins: Kosmosfieber im sowjetischen Alltag, in: Myrach, Thomas u.a (Hrsg.): Science & Fiction: Imagination und Realität des Weltraums, Bern, S. 220-240
4.vgl. Kohonen, Iina (2014): Zuhause bei den Kosmonauten: Bild- und Repräsentationsstrategien in sowjetischen Fotografien der 1960er Jahre, in: Schwartz, Matthias u.a. (Hrsg.): Gagarin als Archivkörper und Erinnerungsfigur, Berlin, S. 81-104
5.vgl. Howell, Yvonne (1994): Apocalyptic Realism: The Science Fiction of Arkady and Boris Strugatsky, New York
6.Ansonsten tat sich das sowjetische Kino im Unterschied zu Hollywood äußerst schwer, eingängige Plots für die Weltraumbegeisterung zu finden, weswegen bis zum Ende der Sowjetunion kein einziger großer Blockbuster in diesem Bereich gedreht wurde, vgl. Schwartz, Matthias (2017): Zukunftsutopien und Weltraumträume: Sozialistische Science-Fiction-Filme aus dem Osten Europas
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Pionierlager Artek

Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff der glücklichen sowjetischen Kindheit. 1925 erst als Sanatorium für Tuberkulosevorsorge eröffnet, bestand das Lager nur aus einigen Zelten am Strand, einer Fahnenstange und einem Appellplatz. Bereits in den 30er Jahren wurde es ausgebaut und ist zum Traumland und Wunschziel vieler Generationen von Pionieren geworden. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Artek zum heiligen Gral der Sowjetnostalgie.

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Skolkowo

Das 2010 gegründete Innovations- und Technologiezentrum Skolkowo sollte in der Vorstellung seines Initiators Dimitri Medwedew das russische Silicon Valley werden. Da der russische Staat bisher jedoch nicht für seine effektiven industriepolitischen Initiativen bekannt war, wird die russische Öffentlichkeit seitdem nicht müde, diese Idee zu verspotten. Als Putin 2012 wieder an die Macht kam, begann auch die russische Justiz, sich für Skolkowo zu interessieren.

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