Mitten im Nirgendwo: Viele Siedlungen in Russland liegen fernab der Hauptverkehrsadern, ohne Anbindung an die nächstgelegenen Städte. Artemi Posanenko arbeitet als Soziologe an der Moskauer Higher School of Economics und erzählt im Zapovednik über seinen aktuellen Forschungsgegenstand: Russlands „isolierte Communities“, abgeschiedene Dörfer. Ein Gespräch über grassierende Arbeitslosigkeit, lukrative Beerengeschäfte und das „Dorf der Teenager“.
Artemi, was ist für Sie eine isolierte Community?
Es gibt Städte wie Norilsk oder Narjan-Mar, die zwar vom Rest des Landes abgeschnitten, aber dennoch recht groß sind. Ich beschäftige mich jedoch eher mit solchen Orten, die überhaupt von allem abgeschnitten sind, von wo aus sogar die zugehörige Bezirkshauptstadt nur mit Mühe zu erreichen ist.
Nehmen wir beispielsweise einen Bezirk in der Region Archangelsk. Nach meinen Berechnungen leben 40 Prozent der Einwohner dort in räumlicher Isolation. Auch in der Region Kostroma gibt es eine Vielzahl solcher Communities – die übrigens gar nicht so weit von Moskau entfernt liegen. Betrachtet man die Bezirke Nerechtski und Krasnoselski in der Nähe von Kostroma, findet man dort wahrscheinlich keine isolierten Communities.
Wenn jemand vermisst wird, wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts
Aber östlich des Flusses Unsha, im Norden des Gebiets, gibt es dann zehn bis fünfzehn solcher Dörfer in einem Bezirk. Die Leute von dort sagen: Wenn jemand aus dem Nachbardorf, sagen wir aus Medwedewo, in unsere Gegend zum Wandern oder Jagen kommt und vermisst wird, dann wird er gar nicht erst gesucht. Weil es nutzlos ist: über 100, ja sogar 200 Kilometer nur Taiga und sonst nichts.
Wie entstehen solche isolierten Communities?
In den 60er Jahren gab es eine Kampagne, bei der erklärt wurde, viele Dörfer hätten keine Perspektive. Kolchosen wurden zu Sowchosen zusammengeschlossen, die Menschen wurden nahezu gewaltsam umgesiedelt. Was heißt nahezu? Damals durfte man ja kein Schmarotzer sein, man musste unbedingt irgendwo arbeiten. Und die Arbeitsplätze waren alle staatlich.
Wenn diese in den perspektivlosen Dörfern auf Befehl von oben abgeschafft wurden, hatten die Leute oft keine andere Wahl, als von dort wegzuziehen, um sich nicht strafbar zu machen.
Immer mehr Dörfer verschwanden. Doch einige blieben. Das waren hauptsächlich ältere Siedlungen. Außerdem gibt es noch die Dörfer der Altgläubigen. Die sind absichtlich möglichst weit weg gezogen, damit sie keiner findet.
Darüber hinaus sind zur Sowjetzeit viele Waldsiedlungen entstanden. Gebaut wurden Behelfsunterkünfte, Baracken für die nächsten 20 bis 30 Jahre. Eine Weile funktionierte das.
Man gründete beispielsweise in den 50er Jahren eine Siedlung und löste sie in den 70er Jahren wieder auf, weil der Wald ringsum abgeholzt war. Doch irgendwann brach die Sowjetunion zusammen – und die Leute blieben im Wald, in ihren Behelfsunterkünften.
Heißt das, dass es zu Sowjetzeiten keine isolierten Dörfer gab?
Wirklich isolierte Dörfer gab es praktisch nicht. Die Dörfer waren vielleicht sehr abgelegen, aber dafür gab es dann eine Flugverbindung. Oder Boote, wenn das Dorf an einem Fluss lag.
Die Preise waren damals sehr niedrig: Für nur einen Rubel konnte man in die Bezirkshauptstadt fliegen – und das bei einem Monatslohn von vielleicht 300 Rubel. Aber das war einmal. Wenn es solche Hubschrauberverbindungen heute noch gibt, dann kosten sie meist ordentlich: Vielleicht 5000 Rubel, bei einem Monatslohn von 10.000 bis 15.000 Rubel – das kann sich keiner leisten. Heute leben die Leute dort eher für sich.
Kann man bei den isolierten Siedlungen, die Sie erwähnten, von einer richtigen Dorfgemeinschaft sprechen?
Auf alle Fälle. In den nicht-isolierten ländlichen Gebieten gibt es alte Dörfer, die zwischen 300 und 500 Jahre alt sind, und sowjetische Siedlungen, die es erst seit 50 Jahren gibt. In den alten Dörfern gibt es ein mehr oder weniger einträchtiges und solidarisches Gemeinleben. Aber in den zusammengewürfelten sowjetischen Dörfern leben die Leute sehr separiert und distanziert voneinander.
Die Isolation schweißt enger zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft
In der Isolation gibt es das nicht: Der Faktor Isolation schweißt offenbar mehr zusammen als Blutsverwandtschaft oder uralte Nachbarschaft. Normalerweise herrscht dort eine einträchtige und solidarische Dorfgemeinschaft – man hilft einander dabei, zu überleben. Und was auffällig ist: Je größer die Isolation, desto langsamer der Bevölkerungsschwund.
Wie lässt sich das erklären?
Man kann verschiedene Stufen der Isolation unterscheiden. Geringfügig isoliert wäre beispielsweise ein Dorf, das nur wenige Kilometer von der Bezirkshauptstadt entfernt liegt – am anderen Flussufer, ohne Fähren und Brücken. Bei Eisgang oder beginnender Eisbildung sind die Menschen dort komplett abgeschnitten. Aber wenn der Fluss im Winter ganz zugefroren ist, können sie einfach über das Eis gehen.
Solche geringfügig isolierten Dörfer sind instabil: Der Bevölkerungsschwund ist höher, die Dörfer sterben schneller aus als solche, die gar nicht isoliert sind. Bei stark isolierten Dörfern ist es umgekehrt: Sie sterben langsamer aus. Warum? Weil die Schwierigkeiten von Anfang an klar sind: Die Dörfer sind schwer zu erreichen, die Versorgung ist problematisch, die Preise in den Läden sind hoch, und selbst Geschäfte zu machen lohnt sich kaum – besonders, wenn sie nicht schwarz laufen sollen.
Die Nachteile sind offensichtlich, und Vorteile gibt es in einer derartigen Isolation keine. Wer entlegen genug lebt, kann jedoch nach Belieben die Gaben der Natur nutzen.
Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden
Die Hauptfeinde der Dorfbewohner sind die Kontrollbehörden. Feuerwehr, Verbraucherschutz und Gesundheitsamt stellen einheitliche Vorschriften für ganz Russland auf, die man aber hier unmöglich einhalten kann.
In solchen Gegenden betreiben die Leute meist aktiv Fischfang, daher ist ihr größter Feind die Fischereiaufsicht. Formell gelten sie als Wilderer, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Sie gehen ziemlich verantwortungsbewusst mit der Umwelt um, zumal die sie ernährt: Sie nehmen nicht mehr als sie brauchen.
Generell sind solche Kontrollaktionen ein großes Problem. Aber je weiter entfernt man lebt, desto weniger Kontrollinstanzen gibt es. An die entlegensten Orte kommt nur noch die Fischereiaufsicht.
Kennen Sie den Film Des Postboten Weiße Nächte? Darin geht es um ein mehr oder weniger isoliertes Dorf im Gebiet Archangelsk. Die Protagonistin ist eine Inspekteurin der Fischereiaufsicht. Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens ist sie eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch – als Inspekteurin hätte man dort kein leichtes Leben: Entweder müsste sie auf die korrekte Ausübung ihrer Pflichten verzichten oder sie wäre bei den anderen unten durch.
In der Regel kommen die Inspekteure aus Nachbarbezirken, oft sogar aus ganz anderen Regionen. Im Gebiet Archangelsk, am Fluss Mesen, kommen die Inspekteure beispielsweise aus der Republik Komi. Und die Inspekteure aus dem Gebiet Archangelsk fahren einmal übers Weiße Meer nach Karelien, damit es daheim keine Interessenkonflikte gibt.
Erstens: Eine Frau als Inspekteurin – das habe ich noch nicht erlebt. Zweitens eine Ortsansässige. Das ist vollkommen unrealistisch
Im Gebiet Kostroma kommen die Kontrolleure aus der Bezirkshauptstadt – irgendwie sind die Leute von dort ja auch bereits Fremdlinge.
Es verirren sich auch kaum Touristen oder Jäger in die abgeschiedenen Gegenden, daher ist die Natur dort noch sehr reich. Wer irgendwie kann, sammelt Beeren und verkauft sie auswärts. Damit lässt sich sogar gutes Geld verdienen.
Wie viel kann man da so verdienen?
Wenn Sie ein konkretes Beispiel wollen: Ich habe ein Rentnerehepaar kennengelernt, beide 70 Jahre alt. In einer Saison haben die mit ihren Beeren 200.000 Rubel [2700 Euro] verdient. Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht.
In einem Experiment habe ich mal ermittelt, wie viele Beeren man an einem Tag pflücken kann, und dann geschaut, wie viel man an den Annahmestellen dafür bekommt. Eine Million ist vielleicht möglich, wenn ein ganzer Clan, ein Kollektiv von morgens bis abends nur Beeren pflückt. Aber dann muss man die Million am Ende auch mit acht Leuten teilen und nicht nur zu zweit.
Ich habe sogar davon gehört, dass jemand in einer Saison mit Beeren eine Million gemacht haben soll – aber das halte ich eher für ein Gerücht
In der Soziologie ländlicher Räume gibt es den Begriff von den „Waffen der Schwachen“ – Waleri Winogradski hat darüber viel geschrieben. Es geht um eine Reihe von Verhaltenweisen, mit denen die Menschen auf dem Land in Krisenzeiten überleben.
Das heißt, wenn es keine offizielle Arbeit gibt, ziehen die Leute einfach aus allen möglichen Sachen einen kleinen Profit: Sie stellen Dinge selber her, halten ihr eigenes Vieh und vergrößern nach Möglichkeit ihren eigenen Obst- und Gemüseanbau. Nun sagt Winogradski, dass die Waffen der Schwachen schwach sind, weil sie zwar das Überleben garantieren, es einem jedoch nicht ermöglichen, sich weiterzuentwickeln.
Hier eine Kopeke, da eine Kopeke – aber zusammen wird daraus immer noch kein Rubel. Im Norden, insbesondere im Gebiet Kostroma, ist das anders. Wenn man hier jagt oder sammelt, anstatt sein eigenes Vieh zu halten oder Obst und Gemüse anzubauen, ist nicht nur der Arbeitsaufwand geringer, sondern auch der Ertrag deutlich größer. Deswegen sind die Leute hier wesentlich wohlhabender.
Inwiefern können die isolierten Communities ihre Probleme selbstständig lösen?
Ihre allgemeinen Probleme lösen sie quasi alle gemeinschaftlich. Die Bürgermeister der Orte, zu denen die isolierten Communities gehören, sagen: „Was kann ich schon für die machen? Die sind so weit weg, wer soll das bezahlen? Es ist klar, dass ich für sie rein gar nichts tun kann. Sie verstehen das und nehmen es mir auch nicht übel. Sie machen alles selbst.“
In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht
In der Regel lässt der Staat die isolierten Communities in Ruhe: Er hilft nicht, dafür stört er auch nicht mit ständigen Kontrollen. Man könnte daher sagen, dass hier eine Art Anarcho-Kommunismus herrscht. Die Leute leben dort wie in einer großen Familie und wissen diese Bindungen sehr zu schätzen. Darüber hinaus fühlen sie sich völlig frei, denn sie können über die Gaben der Natur nach Belieben verfügen, können leben, wie sie wollen, und pflegen untereinander enge Beziehungen, die sie unter keinen Umständen aufgeben wollen.
Wir waren in einem Dorf im Bezirk Kologriwski und haben beobachtet, wie die Einheimischen interagieren. Das hat mich beeindruckt. Wie dort die Leute miteinander kommunizierten, sogar die über 70-jährigen mit den jungen – das hat mich an meine eigene Jugend erinnert, wie ich damals mit Altersgenossen umgegangen bin.
Ich habe früher jeden Sommer auf dem Dorf verbracht, im Gebiet Kaluga. Und genauso, wie wir damals mit 14 miteinander redeten, unterhielten sich die Leute hier: „Na, kommst du mit raus?“ – „Gehen wir in die Banja?“ Oder: „Lass mal Fußball spielen!“ Das war wie ein Dorf voller Teenager. Mich hat das sehr gerührt. Ein gewöhnliches altes Dorf – aber ein isoliertes.
Jetzt bauen sie dort eine psychiatrische Klinik – vielleicht wurde sie auch schon eröffnet. Entsprechend wird es dann auch Arbeit geben, Leute aus der Bezirkshauptstadt werden kommen. Das Leben wird sich sicherlich verändern, wenn das Dorf plötzlich nicht mehr so isoliert ist.
Gibt es neben dem Transportproblem noch andere unlösbare Probleme?
An einer Stelle sind die Menschen völlig abhängig: bei den Schulen. Sie haben selber keinen Einfluss darauf, ob es eine Schule gibt oder nicht. Solche Entscheidungen werden auf Bezirks- oder Gebietsebene getroffen.
Wenn eine Schule geschlossen wird – und die Schulpflicht gilt bei uns bis zur 9. Klasse –, dann hat das Dorf keine Perspektive mehr. Heimunterricht machen sie nicht, da in der Regel niemand einen Hochschulabschluss hat. So sind Familien mit Kindern gezwungen, das Dorf zu verlassen.
Wie denken die Bewohner selber über ihre Isolation?
Sie sehen ihre Isolation als etwas Positives. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Gebiet Murmansk: Die Gouverneurin flog in eines der abgeschiedenen Dörfer und bot den Bewohnern an, auf Staatskosten eine Straße zu bauen. Auf der Dorfversammlung stimmten die Bewohner dagegen.
Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten
Auch im Gebiet Kostroma gibt es solche Fälle. Ihnen hatte man zwar nichts angeboten, aber als ich sie fragte, ob sie eine Brücke mit Asphaltstraße wollten, meinten viele: „Nein, dann geht hier alles zugrunde.“ Sie haben sich an die Isolation gewöhnt, sie sehen darin ein Privileg, das sie erhalten möchten.
Artemi, können Sie uns noch genauer schildern, wie sich die Isolation auf das alltägliche Leben der Menschen auswirkt?
Die Abgeschiedenheit hat einen Einfluss auf die Ernährung der Menschen. So gut wie alle fischen, viele jagen. Daher ist ihr Verbrauch an Fleisch und Fisch höher als in anderen ländlichen Gebieten. Sie fahren andere Autos. Ein gewöhnlicher Kleinwagen bringt dort nicht viel – es muss schon mindestens ein Lada Niva, ein UAZik oder ein anderer Geländewagen sein.
In einem Dorf im Gebiet Murmansk fahren viele Leute Fahrzeuge, die wie Schützenpanzer aussehen. Hier das Haus, davor der Zaun und unter der Birke steht dann mit Plane bedeckt ein Schützenpanzer. Und alle haben sie Motorschlitten. Wenn das Dorf am Fluss liegt, kommt man um ein Boot nicht herum.
Übrigens haben die Leute keine Angst, ihre Boote unbeaufsichtigt zu lassen. Sie lassen auch die Bootsmotoren dran, die ja für Diebe oft wertvoller sind als das ganze Boot.
Gibt es dort keinen Diebstahl?
Nein, weil dort keine Diebe hinkommen. Und falls die Bewohner merken, dass du klaust, werden sie dir das Leben schwer machen – oder dich einfach im Wald abservieren. Sogar die Haustüren lassen sie offen.
Gibt es dort irgendeine Art von Polizei?
Nein. Wobei – formell gibt es schon einen Revierpolizisten. Der sitzt aber in der Regel in der Bezirkshauptstadt und verirrt sich nicht in die Dörfer.
Es kommt vielleicht vor, dass die Polizisten einmal im Jahr eine Razzia machen und irgendwelche Leute bestrafen, weil sie ihre Hunde nicht anleinen. Klar, wenn jemand ermordet wird, kommt natürlich auch die Polizei. Aber sonst bemerkt man ihre Anwesenheit nicht.
Und was geschieht bei gesundheitlichen Problemen?
Es gibt medizinische Hilfskräfte auf dem Land, aber ein Krankenwagen kommt meistens nicht. Aus dem einfachen Grund, dass so eine Fahrt recht teuer ist und die Bezirkskrankenhäuser mit knappem Budget wirtschaften. Einige Dörfer könnte der Krankenwagen selbst beim besten Willen nicht erreichen, insbesondere dann nicht, wenn das Fahrzeug ein GAZel und keine Buchanka mit Allradantrieb ist.
Wenn man weiter weg wohnt, kommt der Notarzt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt
Teilweise gibt es inoffizielle Regelungen, etwa dass der Krankenwagen das Bezirkszentrum und 15 Kilometer im Umkreis abdeckt. Wenn man weiter weg wohnt, muss der Patient entweder selbst gebracht werden, oder der Notarzt kommt halt erst, wenn der Patient bereits im Sterben liegt.
Es kommt auch vor, dass die Ärzte nur bis zum nächsten Flussufer fahren und der Patient im Boot hinüber transportiert werden muss. Man darf nur nicht zu sehr schaukeln, sonst schafft es der Kranke gar nicht erst ans andere Ufer. Wegen solcher Schwierigkeiten behandelt man sich meistens selbst.
Welche technischen Geräte benutzen die Bewohner?
Alle haben eine Trikolor-Satellitenschüssel auf dem Dach. Von den Nachrichten sind die Leute hier nicht abgeschnitten. Sie sind stets auf dem Laufenden über das, was gerade los ist. Fernsehen gibt es überall – Handyempfang dagegen nicht immer. Aber meistens gibt es im Dorf wenigstens ein paar Leute mit Festnetzanschluss oder zumindest einen Münzfernsprecher. Wer keinen Festnetzanschluss hat, telefoniert eben beim Nachbarn.
Artemi, wie verhalten sich die Leute Ihnen gegenüber, wenn Sie als fremder Forscher in solche Gemeinden kommen?
Die Leute sind sehr offen: Sie lassen einen einfach bei sich übernachten, verpflegen einen und erzählen einem alles. Ich bin nie in irgendwelche Schwierigkeiten geraten.
Ich hab nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann
In meiner gesamten Forschungszeit habe ich nur ein Mal einen Betrunkenen im Gebiet Kostroma gesehen. Das war der Gehilfe der Postbotin, genauer gesagt: ihr Mann.
Dreimal die Woche läuft die Postbotin je zwölf Kilometer hin und zurück, um auf der anderen Seite des Flusses die Post zu holen. Ihr Mann hilft ihr, die Taschen zu tragen und das Boot überzusetzen. Der Dorfladen hat keine Lizenz für den Verkauf von Alkohol, und es brennt auch keiner etwas selbst. Also ist der Postbotengehilfe dreimal die Woche betrunken.
Sie sagten, dass sich die Leute dort völlig frei fühlen – worin äußert sich das?
Angenommen im Dorf leben 50 arbeitsfähige Menschen. Von denen sind vielleicht insgesamt nur sieben auf dem offiziellen Arbeitsmarkt unterwegs. Wovon die anderen 43 leben, ist unklar. Der Staat weiß es nicht, in der Statistik tauchen sie nicht auf.
Olga Golodez sagte 2013 auf einer Konferenz, dass in Russland 86 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter leben. Allerdings wisse man bei 38 Millionen davon überhaupt nicht, was sie eigentlich machten – darüber habe man keinerlei Daten.
Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst
In den Gegenden, über die wir hier sprechen, ist der Anteil noch deutlich höher. Offiziell arbeiten die Leute hier nirgendwo, aber in den Arbeitslosenstatistiken sind sie auch nicht erfasst. Anderswo stehen die Menschen Schlange vor dem Arbeitsamt, um ihre kümmerlichen 800 oder 1000 Rubel Sozialhilfe zu erhalten. Aber hier lohnt sich das nicht: Zweimal im Monat müsste man in die Bezirkshauptstadt fahren, um sein Geld abzuholen – letztlich würde man mehr Geld für die Fahrten ausgeben, als man an Sozialhilfe ausgezahlt bekäme. Darum ist hier offiziell auch niemand arbeitslos.
In einigen Dörfern gibt es tatsächlich Arbeit, im Gebiet Murmansk zum Beispiel. Es gibt dann freie Stellen, die aber niemand annimmt. Das heißt, den Leuten wird Arbeit angeboten, die sie jedoch ablehnen. Warum? Weil sie vom Wald leben. Im Wald zu sein, ist für sie viel lohnender und angenehmer, als von früh bis spät auf der Arbeit zu sitzen.
Also zurück zum Beispiel oben: Von den 50 Menschen arbeiten offiziell vielleicht sieben – und alle anderen können frei über ihre Zeit verfügen. Das heißt, sie können machen, was sie wollen und wann sie es wollen. Klar diktiert die Natur hier gewisse Bedingungen, aber abgesehen davon sind die Leute völlig frei und sich dessen auch bewusst.