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Debattenschau № 80: Putin forever?

Es ist Dienstag, 10. März 2020, eigentlich will die russische Staatsduma über die geplante Verfassungsänderung abstimmen. Die Zukunft des amtierenden Staatspräsidenten Putin nach der Wahl 2024 scheint unklar, laut Verfassung darf er nicht mehr kandidieren. Dennoch beschäftigen sich die Abgeordneten routiniert mit den von ihm eine Woche zuvor eingebrachten Vorschlägen. Bis die Abgeordnete Valentina Tereschkowa eine aufsehenerregende Idee in die Diskussion einbringt: 

„Warum es so verworren und kompliziert machen, wozu all die unnötige Mühe mit künstlichen Konstruktionen?“, fragt Tereschkowa, die 1963 als erste Frau im Weltall war. Es gebe doch eine einfache Lösung: Die verfassungsmäßige Begrenzung der Amtszeiten für den russischen Präsidenten zu annullieren, damit Putin wieder zum Staatschef gewählt werden kann.

Tereschkowa, eine bekannte und geschätzte Person des öffentlichen Lebens, ist in der Duma bislang nicht als Verfassungsrechtlerin aufgefallen, insgesamt blieb sie in der russischen Politik eher unscheinbar. Ihr Vorschlag aber platzt wie eine Bombe in den Reihen der Abgeordneten. Der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, ruft schleunigst den Staatschef an, der schon kurze Zeit später in der Duma erscheint, um eine Rede zu halten. Im Prinzip, sagt Putin, wäre die Annullierung der Amtszeiten möglich, aber nur, wenn das Verfassungsgericht sie als verfassungskonform bestätigt. Außerdem müsse auch das Volk demokratisch darüber entscheiden, bei der Abstimmung am 22. April.

Schon bevor die Duma mehrheitlich für die scheinbar überraschende Verfassungsänderung stimmt, bricht in Russland eine hitzige Diskussion los: Ist die Volte Teil eines sorgsam orchestrierten Plans, den Putin am 15. Januar mit seiner Idee von der Verfassungsänderung lostrat, oder ist sie aus der Not geboren? Was könnte den Präsidenten dazu getrieben haben, diesen Vorschlag vorbringen zu lassen: Gefahr, die aus dem Westen droht, Angst vor Machtverlust – oder gar das Coronavirus? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien.

Quelle dekoder

Novaya Gazeta: Alle Hemmungen fallen gelassen

Kirill Martynow konstatiert in der Novaya Gazeta, dass Putins „eleganter“ Plan, bis 2024 einen geregelten Machttransfer zu vollziehen und dennoch faktisch an der Macht zu bleiben, nun einer plumpen Lösung weicht:

Deutsch
Original
Der Kreml hat in Bezug auf die Verfassung alle Hemmungen fallen gelassen: Putin ist bereit, so lange an der Macht zu bleiben, wie er und die von ihm selbst ernannten Richter des Verfassungsgerichts das für nötig halten.
У Кремля больше нет никаких конституционных комплексов: Путин готов находиться на своем посту столько, сколько сочтет нужным он сам и назначенные им же судьи КС.

erschienen am 10.03.2020, Original

TASS: Annullierung? Welche Annullierung?

Pawel Krascheninnikow, Ausschussvorsitzender der Staatsduma für Staatsaufbau und Gesetzgebung, bewertet die Lösung als verfassungsgemäß – schließlich sollen die Bürger darüber abstimmen:

Deutsch
Original
Es gibt da keine Annullierung [...]. Die Verfassungsänderungen werden zur Volksabstimmung vorgelegt. Und wenn die Bürger dem zustimmen, dann kann er nochmal Kandidat werden. Und das wird in einem Artikel der Verfassung sowie in einem Artikel der Übergangsbestimmungen verankert.
Ну нет там обнуления [...]. Поправки выносятся на общероссийское голосование. И если граждане это поддерживают, то он еще раз может стать кандидатом. И это будет записано в одной статье Конституции и в одной статье переходных положений.

erschienen am 11.03.2020, Original

Meduza: Die äußere Gefahr bestimmt den Kurs

Meduza zitiert einen anonymen Informanten aus der Präsidialadministration. Dieser meint, dass Putin bei seiner Entscheidung von Silowiki wie Nikolaj Patruschew und Alexander Bortnikow gedrängt wurde:

Deutsch
Original
‚Die äußere Gefahr bleibt und nimmt zu, ein Machttransfer in einer solchen Situation ist gefährlich. Man hat den Präsidenten davon überzeugt, dass er sich durch eine Annullierung absichern sollte, damit er die Möglichkeit hat, [im Amt – dek] zu bleiben. Und dass es besser wäre, er bliebe.‘
«Внешняя угроза сохраняется и растет, транзит власти в таких условиях опасен, они убеждали президента „подстраховаться“ через обнуление, что надо оставить возможность остаться. И лучше бы остаться»

erschienen am 10.03.2020, Original

Echo Moskwy: In einem Krieg wechselt man nicht den Befehlshaber

Auch der kremlnahe Politologe Sergej Markow bemüht die Propagandaformel der belagerten Festung: Der Westen führe einen Krieg gegen Russland, das russische Volk sei verängstigt und dürste mehr denn je nach einem starken Leader: 

Deutsch
Original
Der Oberbefehlshaber darf während des hybriden Krieges gegen Russland nicht ausgewechselt werden, das ist der Wille des Volkes. Das ist die Logik der Geschichte. Wenn also der Westen seinen hybriden Vernichtungskrieg gegen Russland fortsetzt, den er seit 2013 führt, [...] dann wird das russische Volk wollen, dass Putin an der Macht bleibt ...
Главнокомандующий во время гибридной войны против России меняться не должен, такова воля народа. Такова логика истории. Поэтому если Запад продолжит свою гибридную войну на уничтожение России, которую он ведет, начиная с 13-го года, [...] тогда народ России, чтобы Путин остался у власти…

erschienen am 11.03.2020, Original

Facebook/Grigori Golossow: Angst vor dem Nachfolger

Der Politikwissenschaftler Grigori Golossow glaubt, dass Putins Entscheidung improvisiert war. Der ursprüngliche Plan barg für den Präsidenten große Gefahren, meint der Dekan der Politikwissenschaftlichen Fakultät an der Europäischen Universität Sankt Petersburg:

Deutsch
Original
Ich nehme an, dass die kasachische Variante, mit [Putin als Chef des] Staatsrat, lange Zeit ernsthaft erwogen wurde. Irgendwann (vielleicht sogar erst letzte Woche) hat Putin aber erkannt, dass er keinen Kandidaten finden würde, den er einerseits ernsthaft für das Präsidentenamt aufstellen könnte und der ihn andererseits nicht bei der ersten Gelegenheit aus dem Staatsrat entlassen würde. Putin hatte schlicht Angst. Ihm wurde klar, dass es nicht die Zeit ist, einen Wettbewerb mit Nasarbajew zu veranstalten, wer jetzt cooler ist: Es ist wichtiger, jetzt auf sich selbst aufzupassen.
Я так понимаю, что казахстанский вариант с Госсоветом довольно долго рассматривался как приоритетный, но в какой-то момент (возможно, даже на прошлой неделе) Путин понял, что он не найдет такого кандидата, которого, с одной стороны, он мог бы всерьез выдвинуть в президенты, а с другой стороны, который не уволил бы его с Госсовета при первой возможности. Просто испугался. Понял, что не время тягаться с Назарбаевым в крутизне, важнее позаботиться о себе.

erschienen am 10.03.2020, Original

Facebook/Kirill Rogow: Coronavirus hilft Putin 

Auch der Politologe Kirill Rogow ist sich sicher, dass Putins Entscheidung nicht orchestriert war. Geboren sei sie vielmehr aus einer für den Präsidenten günstigen Gelegenheit:

Deutsch
Original
Es war improvisiert. Putin hatte sich allem Anschein nach davor gefürchtet, jetzt anzukündigen, dass er bleibt. Er hatte Angst vor Massenprotesten. Er fürchtete sich vor einer Konsolidierung [der Opposition – dek]. Aber dann wurde ihm nahegelegt, auf das Coronavirus zu setzen: Die Überlegung, dass das Coronavirus ein guter Helfer ist, um Massenproteste zu verhindern. Es erzeugt Ängste bei den Menschen und liefert einen guten Vorwand, um Demonstrationen zu verbieten.
Это была импровизация. Объявлять сейчас о том, что он остается, Путин, по всей видимости, боялся. Боялся массовых манифестаций. Боялся точки консолидации. Но тут ему принесли план с коронавирусом - рассуждение о том, что коронавирус хорошее подспорье в предотвращении массовых протестов - и страхи людей, и хорошая отмазка для запрета манифестаций.

erschienen am 10.03.2020, Original

Facebook/Dimitri Gudkow: Putinsche Nebelkerzen

Der Oppositionspolitiker Dimitri Gudkow glaubt dagegen, dass die im Januar angekündigte Verfassungsreform nur vom Wesentlichen ablenken sollte. In diesem Schauspiel sei der Vorschlag von Valentina Tereschkowa Teil eines orchestrierten Szenarios:

Deutsch
Original
Das heißt, dieses ganze unanständige Hin und Her mit der Verfassung ist allein wegen dieses einen Moments heute angezettelt worden: für zwei neue Amtszeiten Putins. Tereschkowa, die Stalin noch gut in Erinnerung hat, hat Putin nicht hängen lassen.
То есть вся эта неприличная возня с Конституцией затевалась ради одного сегодняшнего момента: двух новых сроков Путина. Терешкова, хорошо помнящая еще Сталина, не подвела.

erschienen am 10.03.2020, Original

Geopolitiкa: Weltweites Ende des Liberalismus

Alexander Dugin gehört zu denjenigen Intellektuellen in Russland, denen eine Nähe zum neofaschistischen Gedankengut nachgesagt wird. Putins Entscheidung bewertet der Ideologe zweideutig: Es werde zwar keine Gerechtigkeit unter Putin geben, weil dieser laut Dugin unter anderem nicht nationalistisch genug sei. Dafür werde Russland unter Putin dem Westen aber weiterhin die Stirn bieten können:

Deutsch
Original
Die Politik in Russland wird bis 2036 abgeschafft, wenn vorher nichts geschieht: etwas Coronavirus-Artiges oder etwas ähnlich Unberechenbares. [...] Die bedrohliche Beschwörungsformel des „langwährenden Staates“ wird real. Ja, jetzt ist klar, in welchem Sinne er langwährend sein wird ... Richtig, er ist langwährend, nämlich im Sinne von „praktisch ewig“ ... [...]
Es wird keine Proteste geben, oder es wird welche geben, die leichterdings durch einen einfachen Verweis auf ihren pro-westlichen liberalen Charakter erstickt werden können. Und der Liberalismus ist nicht nur bei uns, sondern einfach überall zusammengebrochen. Jetzt geht es nur noch um eine geschlossene Gesellschaft und chinesischen Zentralismus.
Политика в России отменена до 2036 года, если раньше ничего не случится коронавирусного или аналогично непредсказуемого.[...] Сбывается угрожающее заклинание про «долгое государство». Да, теперь понятно, в каком смысле оно будет долгим… Правда, это долго – в смысле практически «вечно»…
[...]
Протестов не будет или будут такие, которые легко заглушить простым указанием на их прозападную либеральную природу. А либерализм рухнул окончательно не только у нас, но просто везде. Теперь только закрытое общество и китайский централизм имеют значение.

erschienen am 10.03.2020, Original

Vedomosti: Putin forever 

Das System Putin habe nun auch seine letzte Maske fallen lassen, meint die Redaktion von Vedomosti:

Deutsch
Original
Die vorgeschlagenen Änderungen stärken das hyperpräsidentielle, fast monarchische Machtmodell, bei dem die Imitation von Wahlen nicht verhindert, dass es praktisch jahrzehntelang von ein und derselben Person aufrechterhalten wird. Die erste Generation der unter Putin geborenen Russen könnte bereits am 22. April an der landesweiten Volksabstimmung teilnehmen. Die Verfassungsänderung, die ihnen zur Abstimmung vorgelegt wird, bedeutet: Auch ihre Kinder könnten allein unter Putin geboren werden und aufwachsen.
Предложенные поправки укрепляют гиперпрезидентскую, близкую к монархической модель власти, в которой имитация выборов не мешает ее сохранению одним и тем же человеком в течение теперь уже фактически десятилетий. Первое поколение россиян, родившееся при Путине, уже может прийти на общероссийское голосование 22 апреля. Поправки, за которые им будет предложено проголосовать, означают, что и их дети могут родиться и вырасти при нем же.

erschienen am 11.03.2020, Original

Zusammenstellung: dekoder-Redaktion
Übersetzung: Hartmut Schröder, dekoder-Redaktion

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Die Verfassung der Russischen Föderation

Die russische Verfassung wurde am 12. Dezember 1993 durch ein Referendum angenommen. Rund zwei Wochen später trat sie in Kraft.

Sie präsentiert sich inhaltlich klar als Gegenentwurf zu ihren sozialistischen Vorgängermodellen: Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten werden zum ersten Mal in der Geschichte Russlands zum höchsten Wert erklärt. Alle Rechte können außerdem über ein Verfassungsgericht eingeklagt werden. Geschützt werden Parteienpluralismus, Meinungspluralismus und Gewaltenteilung. Alle Staatsgewalten sind an die Verfassung gebunden. Diese ist unmittelbar geltendes Recht und genießt Vorrang vor anderen Gesetzen. Heute jedoch halten sowohl viele Verfassungsrechtler als auch Bürger Russlands die Verfassung für ein Feigenblatt.

 

Ein Geburtsmakel

1993 schien sich Russland zu einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund wurde die Verfassung im In- und Ausland als wichtiger Schritt bei der Transformation des Landes begrüßt.

Dieser Optimismus blendete allerdings einen deutlichen Geburtsmakel aus: Die Verfassung ist das Ergebnis eines ebenso erbitterten wie unlauteren Richtungs- und Machtkampfes zwischen dem vom Volk gewählten russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem reformfeindlichen Volksdeputiertenkongress. Letztlich konnte Jelzin den Kampf nur deshalb für sich und die Reformkräfte entscheiden, weil er die Kompetenzen des Parlaments per Dekret außer Kraft setzte und ein Referendum über seinen Verfassungsentwurf durchdrückte. Doch das Ergebnis des Referendums war denkbar knapp: Bei einer Wahlbeteiligung von 54,8 Prozent stimmten nur 58,4 Prozent der russischen Bürger für die neue Verfassung.  

Garant der Verfassung

Diese krisenhafte Entstehungsgeschichte ist der Verfassung genauso anzumerken wie Jelzins Handschrift. Dem Präsidenten wird eine Fülle von Kompetenzen zugewiesen. Gleichwohl blieb seine Rolle im Gewaltengefüge dem Wortlaut der Verfassung nach unklar: Während die Verfassung die Staatsgewalt in drei Teile – die Exekutive, die Legislative und die Judikative teilt – wurde der Präsident bis zur Verfassungsreform im Jahr 2020 keiner dieser Gewalten zugerechnet. Viele russische Rechtswissenschaftler haben diese Unklarheit zugunsten einer weiteren Ausdehnung der Macht des Präsidenten interpretiert. Argumentiert wurde, dass er als „Garant der Verfassung“ über den Gewalten stehe.

Der russische Präsident gilt unter Rechtswissenschaftlern als „Garant der Verfassung“ / Foto © kremlin.ru

Als bahnbrechend gilt außerdem die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1995: Aus der Garantenstellung des Präsidenten leitete das Gericht weitere Kompetenzen ab und stärkte damit die Stellung des Präsidenten zusätzlich.1

Grundrechte

Im Kampf um die Freiheitssicherung des Bürgers vor dem Staat erwies sich die Verfassung meist als stumpfes Schwert. Der umfangreiche Grundrechtskatalog konnte sein Potential nicht entfalten. Als gefährliches Einfallstor für die Beschränkung der Grundrechte erwies sich Artikel 55 Absatz 3. Danach können die Grundrechte per Gesetz eingeschränkt werden, wie dies zum „Schutz der Grundlagen der Verfassungsordnung, der Moral, der Gesundheit, der Rechte und gesetzlichen Interessen anderer sowie zur Gewährleistung der Landesverteidigung und Staatssicherheit notwendig ist“. Derartige Regelungen sind rechtsvergleichend nichts Besonderes: Es ist immer erforderlich, Grundrechte mit den Rechten Dritter und mit Allgemeinwohl-Belangen in Ausgleich zu bringen. Es muss aber Institutionen geben, die diese Abwägung zuverlässig durchführen, in Russland jedoch mangelt es an solchen Institutionen.

Die ordentlichen Gerichte neigen indes dazu, die Grundrechte weitgehend zu ignorieren. Dies zeigten etwa die Fälle, in denen Künstler wegen „Rowdytums“ belangt wurden. In den betreffenden Urteilen wurde die Kunstfreiheit oft nicht einmal erwähnt, geschweige denn, dass eine verfassungskonforme Auslegung unter Abwägung der betroffenen Verfassungsprinzipien vorgenommen worden wäre.2

Auch dem Verfassungsgericht ist es bisher nicht gelungen, eine einheitliche Rechtsprechung mit ausreichenden Präzedenzfällen zu entwickeln, die klare Grenzen von einem nicht beschränkbaren Wesenskern der Grundrechte bestimmen. So verbleibt dem Gesetzgeber bei der Einschränkung der Grundrechte ein extrem weiter Einschätzungsspielraum. Außerdem sind die Regelungen, mit denen zum Beispiel Versammlungen oder Vereinigungen beschränkt werden, zu unbestimmt formuliert, um Rechtssicherheit zu bieten.

Ausgestaltung der Grundrechte

Auch die russischen Rechtswissenschaftler sind in der Mehrzahl äußerst zurückhaltend bei einer eigenständigen Auslegung der Verfassungsinhalte. Stattdessen wird in den Verfassungskommentaren auf die Gesetzgebung verwiesen. Häufig heißt es, die Grundrechte würden durch die Gesetze „ausgestaltet“. So schafft die Verfassung nicht die Vorgaben für die einfachen Gesetze, sie wird vielmehr umgekehrt von diesen konkretisiert.

Diese Defizite offenbaren sich eindrucksvoll mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dem jedes Jahr tausende Beschwerden aus Russland vorgelegt werden. Mit keinem anderen Mitgliedstaat vergleichbar ist die Zahl der Verstöße gegen das Recht auf Leben. Obwohl die russische Verfassung das Recht auf Leben schützt, hat der EGMR Russland wegen einer Verletzung dieses Rechts mehrfach verurteilt – 330 Mal bis 2020.3 Die Fälle betreffen in der Mehrzahl den Einsatz von Militär- und Sicherheitskräften, unter anderem in Tschetschenien. Auch Probleme der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz werden allzu häufig in Straßburg bestätigt.

Funktionslose „Scheinverfassung“?

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, die russische Verfassung als bloße „Scheinverfassung“, als „Pseudo-Verfassung“ oder als rein „semantische Verfassung“ ohne normativen Gehalt abzutun.4

Doch ist die Verfassung nicht funktionslos: Die Staatsorgane halten formal daran fest, wie schon der Ämtertausch 2008 und die Rochade 2012 zeigten, nachdem Wladimir Putin verfassungsgemäß nicht mehr zum Präsidenten gewählt werden konnte und Dimitri Medwedew das Amt für vier Jahre übernahm. Obwohl es eigentlich möglich gewesen wäre, die Verfassung zu ändern, blieb sie unberührt.

Mit der im Juli 2020 in Kraft getretenen Verfassungsänderung verliert die Rede vom „Fassaden“- oder „Scheinkonstitutionalismus“ jedoch ebenfalls ihre Bedeutung: Dass der Text der neuen Verfassung vielfach an die Verfassungswirklichkeit angepasst wurde, ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Kreml an der Verfassung festhält. Neben der Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, wertet die Verfassungsreform das Präsidentenamt insgesamt massiv auf, während sie die Gewaltenteilung schwächt. Der Präsident ist nunmehr ausdrücklich „Spitze“ der Exekutive. 

Außerdem ist die neue Verfassung eine Art Zugeständnis an die zahlreichen Stimmen in der Politik, die die Verfassung jahrelang als zu liberal und damit zu westlich kritisierten. Mit der Reform ist der Wertekatalog der Verfassung nun durchzogen von konservativen oder „patriotischen“ Werten wie dem Verweis auf Gott, der Definition der Ehe als Bund von Mann und Frau sowie dem Schutz der „historischen Wahrheit“. 

Rechtsstaats-Fassade

Die Selbstbindung russischer Politik an die Verfassung bleibt jedoch punktuell. Die nach dem Verständnis des liberalen Konstitutionalismus primäre Funktion der Verfassung, die Freiheitssicherung, wird ganz bewusst nicht erfüllt: Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzte Russland 2020 Rang 94 von 128, weit abgeschlagen etwa hinter Burkina Faso oder Malawi.

Der von Machthabern vorgebrachte Verweis auf die Verfassung dient oftmals vielmehr dazu, die Fassade eines funktionierenden Rechtsstaats aufrechtzuerhalten und damit Herrschaft zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund bleibt der Umgang der Macht mit der Verfassung ambivalent: Neben der freiwilligen Bindung an die Verfassung steht die offene Ignoranz durch willkürliche Gesetze und politische Justiz.

Für die Gesellschaft hat die Verfassung deshalb kaum Bedeutung. Im Januar 2020 waren laut einer Meinungsumfrage von Lewada 47 Prozent der Menschen in Russland der Ansicht, dass die Verfassung nur deshalb geändert werden soll, um Putins Befugnisse zu erweitern und ihm zu erlauben, auch nach 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. 30 Prozent der Menschen gaben an, dass die Verfassung keine große Rolle spiele. Dass die Verfassung grundlegende Freiheitsrechte garantiert, das empfinden in Russland immer weniger Menschen: Seit 2015 ist ihr Anteil von 48 auf 27 Prozent gesunken.5

aktualisiert am 12.02.2021


Zum Weiterlesen
Wieser, Bernd (Hrsg.) (2014): Handbuch der Russischen Verfassung, Wien
Nußberger, Angelika (Hrsg.) (2010): Einführung in das russische Recht, München
Nußberger, Angelika/Morščakova, Tamara/Schmidt, Carmen (Hrsg.) (2009): Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation: Dokumentation und Analyse der Entscheidungen des Russischen Verfassungsgerichts 1992–2007, Kehl am Rhein

1.Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts vom 31.7.1995, Nr. 10-P 
2.von Gall, Caroline (2012): Vorerst gescheitert: „Pussy Riot“ und der Rechtsstaat in Russland, S. 2-5 
3.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (2020): Violation by article and by state 
4.vgl. Solomon,  Peter H. Jr. (2008): Judicial Power in Authoritarian States: The Russian Experience 
5. Levada Zentr: Počti polovina rossijan uvereny, čto Konstitucija menjaetsja radi sochranenija Putina u vlasti​ 

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