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Wer kommt nach Putin und wenn ja, wie viele?

Wie schon im Jahr 2012 hat Wladimir Putin seine neue Amtszeit mit den sogenannten Mai-Erlassen eingeläutet. Und wie schon nach 2012 wird er in den nächsten Jahren öffentlichkeitswirksam darauf hinwirken, dass die Regierung diese Erlasse auch umsetzt. Das Maßnahmenpaket umfasst die wichtigsten „strategischen Aufgaben für die Entwicklung der Russischen Föderation bis zum Jahr 2024“. Sie sollen unter anderem einen „Durchbruch in der wissenschaftlich-technologischen und sozioökonomischen Entwicklung“ Russlands bewirken.

Während viele Experten derzeit darüber rätseln, ob die neuen Erlasse konsequenter umgesetzt werden als nach 2012, sieht Ekaterina Schulmann die eigentlichen Herausforderungen für Putins neue Amtszeit ganz woanders – nämlich darin, die Weichen für die Zeit nach Putin zu stellen. Für die Politikwissenschaftlerin ist klar: Die Machtkonzentration in einer Hand ist nicht haltbar, beziehungsweise schon jetzt nicht mehr Fakt.

Doch was folgt daraus? Wird sich die Elite gegenseitig bekämpfen? Oder wird der Staat die sanktionsbedingten Verluste der Elite kompensieren, um diesen Konflikt zu vermeiden? 
Wie wird sich das Volk verhalten – angesichts dessen, dass die Realeinkünfte nun schon seit vier Jahren sinken und der Staat, so er die Ansprüche der Eliten weiter stillen will, gar nicht umhin kann, als Steuern zu erhöhen und das Rentenalter heraufzusetzen?

Auf InLiberty entwirft Schulmann drei Szenarien, wie sich dieses anscheinend auswegslose Dilemma weiterentwickeln könnte.

Quelle InLiberty

Das zentrale Thema der laufenden Legislaturperiode ist für die politisch-administrative Klasse der Machttransfer: Schon bald wird das politische System sich dessen bewusst werden, dass die Machtfülle des amtierenden Präsidenten nicht einem einzelnen Menschen übertragen werden kann. Zudem liegt schon jetzt nicht die gesamte Macht in den Händen des Präsidenten – sie ist verteilt über eine bürokratische Pyramide, zu der die Zivilbeamten, die Silowiki, das Militär und die Leiter von Staatsunternehmen und -banken zählen.

An den Rändern dieser Pyramide sind die Proxy-Agenten angesiedelt: Söldner, Hacker, pro-staatliche Propagandisten, Auftragsmörder für Überläufer und Verräter, halbstaatliche bewaffnete Einheiten, Untergebene von Oberhäuptern einiger Republiken Russlands sowie viele weitere. 
Von innen wird das System von der immer rabiateren Konkurrenz der Silowiki zerrüttet, von außen von der schwer kontrollierbaren Aktivität derer, die Mark Galeotti als ad hoc agents bezeichnete.

Das sind die Probleme der nächsten Legislaturperiode, die das System lösen muss, um zu überleben.

Drei Szenarien

Das optimistische Szenario ist jenes, das in der Politologie als „Erwachen der schlafenden Institutionen“ bezeichnet wird, in Kombination mit innerelitären Absprachen, wie man sie zum Beispiel im Pakt von Moncloa oder in der Magna Carta findet. Hierfür müssen die Eliten erkennen, dass es auch andere Garantien für die Unantastbarkeit von Leben und Eigentum geben muss – nicht nur die Hoffnung auf den obersten Hüter des innerelitären Gleichgewichts.

Das pessimistische Szenario ist ein Krieg aller gegen alle. Und zwar unter Beteiligung kämpfender nichtstaatlicher Akteure, zu denen alle Arten von Paramilitärs zählen, seien es zu Staatsunternehmen gehörende und/oder regionale.

Das realistische Szenario ist eine Kombination aus beidem, sprich, alle Akteure und Interessensgruppen zu beseitigen, die es geschafft haben, alle anderen gegen sich aufzubringen, und dabei Übereinkünfte zwischen den Übrigen zu erzielen.

Menschen sind das neue Erdöl

Unbedingt wird in der nächsten Legislaturperiode dieses Motto eingelöst: Menschen sind das neue Erdöl. 
Selbst wenn die Preise für Kohlenwasserstoff-Rohstoffe relativ stabil sind, wird die Suche nach neuen nachhaltigen Finanzierungsquellen von einem System bestimmt, das auf die Erzielung und Verteilung von Renten ausgerichtet ist. Als Quelle kann nur das Eigentum und Einkommen der Bürger dienen – zu diesem Zweck werden Steuern auf Immobilien und Land erhoben, Gebühren für kommunale Dienste, Verbrauchsteuern und Geldstrafen; Bürger werden in Kreditschleifen eingebunden, Selbstständige (das heißt alle nicht im öffentlichen Dienst Angestellten) besteuert.

Angst vor organisiertem Protest

Grenzen findet diese Suche [nach Geldquellen – dek] in der Angst vor organisiertem Protest. Abgaben, Konfiszierungen, Kommerzialisierung öffentlicher Güter sowie Proteste gegen all dies sind die zentralen sozialen Themen der nächsten Jahre. Auf lange Sicht wird dies die bürgerliche Selbstorganisation stärken, ebenso wie die Moskauer Proteste gegen den Wohnungsabriss die Bemühungen und den Zusammenhalt der Aktivisten der Wohnbezirke gestärkt haben und zum Sieg unabhängiger Kandidaten bei den Kommunalwahlen 2017 führten.

Krise – Anpassung – Unzufriedenheit

Nach den zur Verfügung stehenden Daten zu urteilen, verläuft die Dynamik der öffentlichen Meinung wie in den Jahren 2008 bis 2011. Das heißt: Es wiederholt sich die Abfolge Krise – Anpassung – Unzufriedenheit.

Die Krise, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen hatte, begann im Herbst 2014. In dieser Zeit begann die Zahl der Arbeiterproteste zu steigen, zu deren Höhepunkt es im Jahr 2016 kam. 2017 flaute das Wachstum ab (es gab jedoch keinen Rückgang!). Das bedeutet, dass die Menschen erst nachdem sie sich einem niedrigeren Lebensstandard angepasst haben, Zeit finden, unzufrieden zu sein und Mittel zu mobilisieren, diese Unzufriedenheit zu zeigen.

In dieser Phase der politischen Entwicklung wird die insgesamt linke, soziale politische Agenda vorherrschen, eben jene Agenda für gerechte Verteilung und gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Gütern.

Internationale Isolierung der Elite

Die außenpolitische Konjunktur wird sich auf die russische Innenpolitik nicht dahingehend auswirken, dass die Daumenschrauben weiter angezogen, oder die Militarisierung stimuliert wird. Die größte Verschärfung, zu der das System fähig ist, wurde bereits in den Jahren 2012 bis 2015 demonstriert. Im Weiteren nahm nicht mehr das Maß an Unterdrückung, sondern das Chaos zu, was die Reaktionen und Initiativen der Gewaltclans und Proxy-Agenten angeht. 
Was die Militarisierung betrifft, so erreichte diese, gemessen an den Haushaltsausgaben, im Jahr 2016 ihren Höhepunkt. Für die kommenden drei Jahre ist nun eine allmähliche Senkung der Ausgaben geplant.

Der toxische Charakter der russischen Außenpolitik und alles, was mit ihr zusammenhängt und von ihr ausgeht – Kapital, Menschen, Informationen – führt zu einer systematischen Aufdeckung weltweiter russischer Vertuschungen: von den Panama Papers, über die olympischen Reagenzgläser bis hin zu argentinischem Kokain und syrischen Privatmilitärunternehmungen.

All das, wovor man jahrzehntelang die Augen verschlossen hat, ist nicht mehr akzeptabel oder duldbar. Charakteristisch sind in dieser Hinsicht sogar weniger die politisierten Fälle russischer Hacker und Söldner, als vielmehr das Verfahren gegen Senator Kerimow und die ersten eingefrorenen Konten von Beteiligten am „Kreml-Bericht“. Großbritannien wird auf einen erneuten Vergiftungsfall eines russischen Ex-Agenten auf britischem Boden unweigerlich mit einer Konfiszierungspolitik von Immobilien und Vermögen „giftiger Eigentümer“ reagieren. Genauso hat Frankreich als Ergebnis des Prozesses gegen Kerimow und seine lokalen enabler die von ihnen erworbenen Immobilien teilweise oder vollständig konfisziert.

Eine solche Entwicklung kann, in der optimistischen Variante, die angestrebte „Nationalisierung der Eliten“ anstoßen und die unfreiwillig in russische Grenzen eingesperrten Großeigentümer auf den Gedanken bringen, dass für die Unantastbarkeit ihres Lebens und Eigentums lokale Garantien notwendig sind – wenn schon zum Londoner Gericht und dem Stockholmer Schiedsgericht der Zugang verwehrt ist.

Im pessimistischen Szenario bleibt in Russland kein anderer Zugriff auf das Geld als direkt oder indirekt durch den Staatsdienst. Allerdings sind auch Staatsangestellte sowie Geschäftsleute nicht sicher vor gewaltsamen Repressionen. Auch dann nicht, wenn sie selbst Teil der Sicherheitsstrukturen des Staates sind. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.

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Silowiki

Der Begriff Silowiki leitet sich von dem russischen Wort sila ab, was mit Kraft oder Gewalt übersetzt werden kann. Silowiki sind demnach Amtspersonen in Macht- oder Gewaltbehörden (russ. „silowye wedomstwa“), die mit der Wahrung und Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols in Russland betraut sind. Im Volksmund werden Silowiki auch als Personen in Uniform / mit Schulterklappen bezeichnet. Der Begriff hat sich gegen Ende der 1990er Jahre – also zur Regierungszeit Jelzins – im Zusammenhang mit dem Zustrom an „Schulterklappenträgern“ in die russische Elite in der Umgangs- und Mediensprache etabliert.

Zu den Silowiki werden gewöhnlich die Mitarbeiter des Verteidigungs-, Innen- und Justizministeriums, des Ministeriums für Zivilschutz sowie untergeordneter Behörden wie der Truppen des Innenministeriums gezählt. Am prominentesten sind sicherlich die Inlands- und Auslandsgeheimdienste, weniger bekannt die Staatsanwaltschaft, die Nationalgarde sowie die Drogen- und Gefängnisaufsichtsbehörden. Vertreter der nicht unumstrittenen Militarisierungsthese gehen davon aus, dass die Zahl und Bedeutung der Silowiki unter Putin stetig zunahm. Nach Berechnungen von Olga Kryschtanowskaja und Stephen White1 bestand die politische Elite unter Jelzin 1993 zu 11,2 Prozent, unter Putin 2002 zu 25,1 Prozent, 2008 zu 42,3 Prozent und unter Medwedew 2010 zu 20,7 Prozent aus Silowiki.

Als Gegensatz zu den (Wirtschafts-) Liberalen wird den Silowiki ein Weltbild zugesprochen, welches nach einer starken Hand und autoritärer Führung verlangt und Demokratie westlicher Prägung ablehnt. Im Verlauf des Ukraine-Konflikts hat der realpolitische Einfluss der Uniformträger wieder merklich zugenommen. Die Silowiki sollten jedoch nicht als homogene Gruppe gesehen werden. So stehen beispielsweise die Staatsanwaltschaft und das Ermittlungskomitee nach der Aufspaltung in zwei Behörden in schärfster Konkurrenz zueinander, eine Folge der teile und herrsche-Taktik, die viele Beobachter für einen wichtigen Teil des Herrschaftssystems Wladimir Putins halten.2 Definitorisch ist zudem nicht geklärt, wie lange eine Person in einer entsprechenden Behörde tätig gewesen sein muss, um zu den Silowiki gerechnet zu werden. So hat etwa der langjährige Financier der regierungskritischen Zeitung Novaya Gazeta, Alexander Lebedew, ebenso eine KGB-Vergangenheit wie der ehemalige Duma-Oppositionelle Gennadi Gudkow, der eine wichtige Rolle bei den Bolotnaja-Protesten spielte.


1.Unveröffentlichtes paper von 2014. Siehe auch: Kryshtanovskaya, Olga / White, Stephen (2011): The Formation of Russia’s Network Directorate, in: Russia as a Network State: What Works in Russia when state institutions do not?, S. 19–38
2.Gel’man, Vladimir (2005): Political Opposition in Russia: A Dying Species?, in: Post-Soviet Affairs, Vol. 21/3, S. 226-246 und Vedomosti: Političeskaja sistema v dviženii
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Präsidialadministration

Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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Sergej Iwanow

Sergej Iwanow ist ein russischer Politiker und zählt zu den engsten Vertrauten Wladimir Putins. Von 2001 bis 2007 war Iwanow Verteidigungsminister und galt vor den Präsidentschaftswahlen 2008 neben Dimitri Medwedew als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat. Zwischen 2011 und 2016 leitete er die mächtige Präsidialadministration und gehörte damit zu den wichtigsten politischen Akteuren in Russland.

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Juri Tschaika

Der Jurist Juri Tschaika ist Generalbevollmächtigter des russischen Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus. 1999 wurde nach einer Karriere in der Generalstaatsanwaltschaft auf Betreiben Putins zum Justizminister ernannt. Von 2006 bis Januar 2020 war er als Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation eine zentrale Figur im politischen System Russlands. 

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Alexander Bastrykin

Alexander Bastrykin zählt zu den zentralen Figuren in Putins Machtapparat und ist als Leiter des mächtigen Ermittlungskomitees eine der einflussreichsten Personen in Russland.

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