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„Die Ukraine hat uns betrogen“

Was immer man denkt über die Umstände des Referendums vor eineinhalb Jahren: In Sewastopol sind viele von Herzen froh, nun zu Russland zu gehören. Iwan Shilin von der Novaya Gazeta hat ein Stimmungsbild zusammengetragen – kleine Kuriositäten inklusive.

Quelle Novaya Gazeta

Drei Tage vor dem Feiertag hatten die Medien Sewastopols über die Sperrung der Straßen informiert: von 5 bis 12 Uhr. Doch um 8 Uhr flitzen immer noch Autos in beiden Richtungen über die Uliza Lenina, die Hauptstraße der Stadt.

„Sie müssen wenden“, bedeutet ein Polizist einem Toyota, der ins Zentrum fahren will. „Ich hab den hier“, der Fahrer streckt einen roten Ausweis aus dem Fenster. „Alles klar, bitte.“ Der Polizist gibt den Weg frei.

Nach dem Verkehr zu urteilen gibt es viele Fahrer mit einem roten Ausweis. Die Versammlung der Stadtbewohner ist für 9 Uhr angekündigt. Doch schon gegen 8 Uhr sind beim Denkmal der Stadtgründerin Katharina der II. viele Menschen anzutreffen. Ständig begrüßen Neuankömmlinge aus allen Richtungen Bekannte: „Einen frohen Feiertag!“ Viele lächelnde Gesichter.

Foto © Iwan Shilin

„Wo soll der Umzug beginnen?“, frage ich einen Kämpfer der Selbstverteidigungskräfte, der auf der Straße umhergeht.
„Kommt darauf an, zu welcher Organisation Sie gehören.“
„Ich bin auf eigene Faust da.“
Der Kämpfer blickt erstaunt: „Dann wohl auf dem Suworow-Platz.“

Der Kämpfer sagte das, jedoch habe ich keine Hinweise gefunden, dass man die Menschen zum Feiertag dort hinbeordert hätte. Die typische Antwort der Menschen, die kommen: „Die Vorgesetzten mussten uns nicht auffordern, wir sind von selbst gekommen.“ Die Bedeutung dieses Feiertags ist den meisten unbekannt, man weiß wenig über die Ereignisse von 1612. In Sewastopol bezieht man den Tag der Einheit des Volkes auf sich.

Wir werden in die Ukraine kommen, wir werden nach Weißrussland kommen

Um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn des Umzugs, versinkt die Straße in einem Meer von Flaggen. Eine weißrussische fällt mir auf. Hochgehalten wird sie von einem grauhaarigen Mann im Tarnanzug. Wassili Wassiljewitsch ist 66 Jahre alt, 30 davon hat er in der Schwarzmeerflotte gedient.

„Ich selbst bin aus Weißrussland, deshalb trage ich diese Flagge. Damit habe ich den ganzen Krim-Frühling bestritten, ich war bei den Selbstverteidigungskräften Sewastopols“, erzählt er. „Auch hier bei uns wollten die sich auf dem Nachimow-Platz versammeln, diese Ukr... – diese Ukrainer, aber wir haben sie aufs Schönste verjagt. Großenteils Junge waren es. Haben sich hier eingeschmuggelt als angebliche Studenten, als angebliche Bauarbeiter. Ich glaube, das waren keine Studenten oder Bauarbeiter, das waren gut ausgebildete Kämpfer. Doch wir vom Schwarzen Meer sind unbezwingbar: Wir haben denen die Leber auf den Asphalt geschmiert.

Den Russischen Frühling auf die Krim und Sewastopol zu beschränken sei Unsinn, findet Wassili Wassiljewitsch.

„Gerechterweise müssten alle slawischen Länder zu einem einzigen werden“, fährt er fort. „Ich überlege mit den Jungs schon, wie wir das hinkriegen. Wir gehen in die Ukraine, gehen nach Weißrussland, nach Serbien. Alles wird zu einem einzigen Staat.“
„Wann?“, erkundige ich mich.
„Das sind erst Pläne, noch nichts Konkretes.“
„Wird der Staat Russland heißen?“
„Natürlich, wie soll er denn sonst heißen?“

Foto © Iwan Shilin

15 Minuten vor dem Marsch wird Musik eingeschaltet – über Sewastopol sind ja viele Lieder geschrieben worden. Die Leute treten von den Bürgersteigen auf die Fahrbahn und stellen sich in Kolonnen auf. Die kleinste Kolonne, die Selbstverteidigungskräfte Sewastopols, zählt nur etwa 50 Personen. Ich nähere mich einem Mann, der mit einem Transparent dasteht. Alexej ist 25 Jahre alt und arbeitet als Autoschlosser. In seiner Freizeit ist er bei der Selbstverteidigung.

Mit der Ukraine haben wir zusammengelebt wie mit einer Ehefrau

„Warum wir nicht in der Ukraine geblieben sind?“, wiederholt er meine Frage. „Wissen Sie, es ist wie im Familienleben. Eine Pralinen-Blumen-Phase gab es zwar nicht, aber am Anfang war das Zusammenleben erträglich. Als dann Juschtschenko an die Macht kam, kündigte sich Uneinigkeit an: Aus irgendwelchen Gründen begann Kiew, mit den USA und der EU zu verkehren. Aber das war eigentlich eher wie ein Freund der Ehefrau, den sie bald satt hatte. Und da trat dann unser Mann, Janukowitsch, auf den Plan. Ja, und als dann der Maidan kam und siegte, hat uns die Ukraine meiner Meinung nach einfach betrogen, ist zum Nachbarn gegangen. Und wollte dann noch unser Kapital: Kämpfer für die Eroberung der Krim und Sewastopols. Aber da haben wir gezeigt, dass wir stark sind. Zumal Russland uns unterstützte.“

Alexej stand während des Krim-Frühlings am Checkpoint in Tschongar.

„Als im Fernsehen fast täglich über verhaftete bewaffnete Kämpfer berichtet wurde, war das natürlich erfunden“, sagt er. „Es gab einzelne Versuche, Waffen hineinzuschaffen, wobei die Fahrer bei der Festnahme gewöhnlich sagten, die seien doch für uns. Aber wir stellten alles auf den Kopf und beschlagnahmten die Waffen. Ich glaube schon, dass diese Hilfe für die Kiew-Anhänger bestimmt war.“ Der Ukraine wünscht Alexej, dass sie „möglichst schnell zur Vernunft kommt“.

Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit

Der Umzug beginnt. Mindestens 15.000 Teilnehmer. Die erste Kolonne steht auf dem Nachimow-Platz, die letzte nicht weit vom Suworow-Platz. Vor der Kolonne der Nationalen Befreiungsbewegung werden eine Trikolore und Putin-Porträts hergetragen.

„Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit“, sagt der Mann, der vorne geht. „Sie ist ein höchst vielfältiges Land: Lemberg zieht es in die eine Richtung, Iwano-Frankowsk wird ohnehin bald an Ungarn übergehen, und wir wollten zu Russland gehören. Aber Kiew hat uns, als wir noch zusammengehörten, zweimal Mieses angetan: Das erste Mal 2006, als beschlossen wurde, dass das Erlernen der ukrainischen Sprache Pflicht wird (Die Novaya Gazeta fand übrigens keine Bestätigung für diese Information – I.Sh.), und das zweite Mal ein Jahr später, als Timoschenko ankündigte, sie werde Sewastopol in die Knie zwingen (Timoschenko hat mehrmals erklärt, sie habe nie etwas Derartiges gesagt). Und deswegen konnte uns nichts mehr halten, als es zum Euromaidan kam. Jetzt hat sich die Ukraine außerdem auch auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen: Sie tanzt nach der Pfeife der Weltregierung. Sie wissen doch, dass Obama, Merkel und all die anderen nur Marionetten sind?“

Ich nicke verständig.

„Putin versucht, sich dem zu widersetzen. Die Weltregierung richtet die Länder zugrunde, nur Auserwählte führen ein Leben im Reichtum – haben Sie von der ‚goldenen Milliarde‘ gehört? Auch die Ukraine wird man zugrunde richten, die lässt keiner in den Club der Elite.“

Unverhofft kommt eine Frau zu mir geeilt und streckt mir eine Zeitung entgegen. „Nationale Befreiungsbewegung: Für Souveränität“, lese ich. Auf der Titelseite das Gesicht des Abgeordneten Fjodorow. „Die Propagandamaschine, die uns von früh bis spät das Gehirn wäscht, ist mächtig“, schreibt er nicht etwa über Kisseljow oder Solowjow. „Doch die USA verstehen das Wesen des „russischen Wunders“ nicht.“ Das „russische Wunder“ sind nach Auffassung des Abgeordneten Fjodorow die Siege in den Kriegen gegen Napoleon und Hitler. Schwer zu sagen, ob sich Barack Obama für deren Rolle eignet. Aber er ist ja ohnehin nur eine Marionette … Dann folgen Klischeeartikel: Zentralbank – Agent der USA, Verfassung – zugeschnitten auf den Westen. Auflage 100.000 Exemplare.

Es hätte eine Föderalisierung gebraucht

Der Umzug, der um den ganzen zentralen Stadtring hätte führen sollen, endet abrupt: Die Polizei lässt die Leute nicht auf die Uliza Bolschaja Morskaja. Aber das stört niemanden. Die Leute rollen ihre Flaggen und Transparente zusammen und verziehen sich einfach. Sie haben den ganzen Weg über nichts skandiert, sind einfach mitgelaufen und haben der Musik zugehört: Ein Orchester spielte einen Marsch.

Ein Teil der Stadtbewohner bleibt auf dem Lasarew-Platz, um sich zu fotografieren. Ich bemerke eine Frau mit vier Medaillen auf der Brust. Darunter auch eine Für die Heimkehr der Krim.

Foto © Iwan Shilin

„Nein, nein, ich habe natürlich nicht gekämpft“, wehrt sie ab und stellt sich vor: Tatjana Jermakowa, Präsidentin der Russischen Gemeinschaft Sewastopols. „Die Medaille hat man mir wahrscheinlich dafür verliehen, dass ich seit 1990 immer wieder Kampagnen für die Heimkehr der Krim und Sewastopols nach Russland initiiert habe. Damals, 1990, zeichnete sich schon ab, dass die UdSSR zusammenbrechen würde, und so stellten wir die Puschkin-Gesellschaft für Russische Kultur auf die Beine. Wir reisten nach Moskau, um Gorbatschow zu treffen, dann Chasbulatow, 1992 nahmen wir an einer Sitzung teil, auf der die Verfassungswidrigkeit der Übergabe der Krim an die Ukraine anerkannt werden sollte. Dann, als die Versuche, sich Russland anzuschließen, gescheitert waren, setzten wir uns für die russische Kultur ein: In Russland feiert man jetzt am 6. Juni [Puschkins Geburtstag – dek] den Tag der Russischen Sprache. Unsere Gesellschaft gehörte zu den Initiatoren dieses Feiertags.“

Auf meine Frage, ob Sewastopol in der Ukraine hätte bleiben können, antwortet Jermakowa: „Die Ukraine hat ihre Fehler schon lange vor dem Euromaidan begangen. Wir haben beispielsweise jedem Präsidenten Briefe geschrieben: Föderalisieren Sie das Land, wir brauchen mehr Selbständigkeit, wir wollen kein Ukrainisch lernen, wir wollen eigene Gesetze. Aber es wurde jedesmal abgelehnt. Deswegen nein. Sewastopol war immer ein Vorposten Russlands auf der Krim, mit uns hätte man behutsamer umgehen müssen.“

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Krim

Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Dieses Datum verbindet sich mit dem Schlüsselereignis der dritten Amtsperiode von Wladimir Putin: der Annexion der Krim. An diesem Tag formalisierte Putin den Anschluss der Krim an die Russische Föderation, der die Besetzung der Halbinsel durch russische Sondertruppen und ein sogenanntes Referendum unter russischer Kontrolle vorangegangen waren. Auf der Krim setzte Putin einen im Detail vorbereiteten Plan um, für den sich im Kontext des ukrainischen Euromaidan – Massendemonstrationen, die zu einem Machtwechsel in Kiew führten und die Westorientierung der Ukraine bestärkten – die Gelegenheit ergab. 

Die militärische Aktion und Russlands Verletzung des Völkerrechts, das von der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates ausgeht, überraschten nicht nur die westliche Politik, sondern auch die Bevölkerung der Krim und Russlands. Die USA und die EU reagierten mit Sanktionen. Dieses Sanktionsregime ist im Zuge des Krieges in der Ostukraine noch verstärkt worden. 

Dieser Krieg, in dem Russland lokale Separatisten im Donbass unterstützt, hat die Krimthematik zunehmend überschattet. Auch wenn die offizielle Politik westlicher Staaten weiterhin auf der Nichtanerkennung der Annexion der Krim beruht, so geht dies einher mit der Einschätzung, dass sich am derzeitigen Status quo in nächster Zeit wenig ändern wird. Diese Haltung lässt das Thema somit nicht zur Priorität werden. 

Dieser politische Kontext ist ein wichtiger Teil der Erklärung dafür, warum im Rückblick die Konturen der Ereignisse von 2014 verschwimmen und auch in der deutschen Berichterstattung und Öffentlichkeit bedenkliche Schlussfolgerungen möglich sind. Die Krim-Annexion war, anders als mitunter behauptet, nicht das Resultat einer Mobilisierung der Krim-Bevölkerung für einen Anschluss an Russland, und die Krim war auch nicht „schon immer Teil Russlands“, was der Annexion den Anschein einer historischen Berechtigung verleiht.

Zugehörigkeit der Krim

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre gab es auf der Krim politische Gruppierungen, die für die Unabhängigkeit der Krim beziehungsweise einen Anschluss an Russland eine Mehrheit der regionalen Bevölkerung mobilisieren konnten. Diese Bewegung scheiterte an inneren Spaltungen und an ihrer Unfähigkeit, auf die realen sozioökonomischen Probleme der Region einzugehen. Dazu kam noch die bewusste Entscheidung des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, die Zugehörigkeit der Krim zum postsowjetischen ukrainischen Staat nicht in Frage zu stellen – das Interesse an einem guten Verhältnis zum Westen war wesentlich höher.1 Die regionale Mobilisierung auf der Krim mündete letztendlich in einen schwachen, durch seine sichtbare Institutionalisierung in der ukrainischen Verfassung jedoch symbolisch bedeutsamen Autonomiestatus der Krim. 

Auch wenn russische Politiker wie zum Beispiel der ehemaliger Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow, seitdem mitunter versuchten, mit Blick auf ihre Wählerschaft in Russland die Krimthematik politisch zu instrumentalisieren, gab es bis 2014 keine breitere Mobilisierung auf der Krim. Die wirtschaftliche Entwicklung der Region stagnierte, der kleine, durch die Krimverfassung definierte Spielraum der Autonomie blieb ungenutzt. Die Integration der seit dem Ende der Sowjetunion zurückgekehrten Krimtataren, die von Stalin nach Zentralasien und Sibirien deportiert worden waren, wurde nicht zur Priorität Kiews, aber am politischen Wahlverhalten gemessen, war die Region fest in den Südosten der Ukraine integriert.

Chruschtschows Geschenk

Die inzwischen weit verbreitete, zu wenig hinterfragte These des historischen Anspruchs Russlands auf die Krim ist das Resultat einer höchst selektiven Interpretation der Geschichte. Das russische Narrativ der „russischen Krim“ leitet sich ab aus der Zeit von 1783, der Eroberung der Krim durch Zarin Katharina der Großen, bis 1954, dem vermeintlichen Geschenk Chruschtschows an die ukrainische Sowjetrepublik. Die Tatsache, dass die Krim vor 1783 jahrhundertelang unter krimtatarischer und osmanischer Herrschaft war, wird in der russischen Geschichtsschreibung ausgeblendet und ist im Westen einfach zu wenig bekannt. Darüber hinaus hält sich das stark simplifizierende Bild des Transfers der Krim als Chrutschtschows persönliches Geschenk an die Ukraine im Rahmen der 1954 gefeierten „brüderlichen“ russisch-ukrainischen Beziehungen (eine sowjetische Interpretation des Perejaslaw-Vertrags von 1654, in dem sich die Kosaken unter Hetman Bohdan Chmelnyzky durch einen Treueeid den Schutz des russischen Zaren Alexej I. sicherten). Archivdokumente zeigen, dass Chruschtschow zwar eine zentrale Rolle beim territorialen Transfer der Ukraine zukommt, dass er jedoch nicht in einer politisch derart gefestigten Position war, die eine alleinige Entscheidung erlaubt hätte, und dass wirtschaftliche Gründe eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielten. Der Symbolgehalt von 300 Jahren Perejaslav wurde hingegen erst im letzten Moment hinzu addiert.2

Narrativ der „russischen Krim“

Das russische Narrativ des Krimnasch („Die Krim gehört uns“), das Kontinuität auf die facettenreiche Geschichte der multiethnischen Krim projiziert, speist sich aus einer selektiven Geschichtsschreibung. Die Region spielt dabei vornehmlich eine Symbolfunktion, die bereits in der Zarenzeit geprägt, in der Sowjetunion umgewidmet und in der postsowjetischen Zeit wiederbelebt wurde. Die Grenzen zwischen Mythen und Fakten sind hierbei fließend. Die Krim ist die Region mit einem subtropischen Klima an der Südküste, die viele an die südeuropäischen Länder, vor allem an Italien und Griechenland erinnert, und in der die russische Zarenfamilie und Aristokratie (nicht nur aus Russland) Urlaub machte. Die Region ist fest in der russischen Literatur und Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert. Puschkin, Tolstoi und Tschechow gehören zu den prominentesten Autoren, die die Krim in ihren Gedichten und Erzählungen verewigten. Die Krim wurde schließlich zum sowjetischen Urlaubsparadies der Arbeiterklasse, Pioniere und Parteinomenklatura umdefiniert.

Um die Krim ranken sich zahlreiche, von verschiedenen Völkern geprägte Legenden und Mythen. Viele Küsten- und Bergformationen tragen bildhafte krimtatarische Namen. Diese haben die Zeit der krimtatarischen Deportation überlebt und sind (wie beispielsweise der Berg Ai-Petri, ein beliebtes Touristenziel in der Nähe von Jalta) bis heute ein fester Bestandteil der regionalen Identität.

Am Beispiel der Krim gelang sowohl dem zaristischen Russland als auch dem sowjetischen Regime die Umdeutung verlustreicher Schlachten – während des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs – in russische beziehungsweise russisch-sowjetische Heldentaten. Die Präsenz der Schwarzmeerflotte vor der Küste Sewastopols, die nach 1991 zum Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine wurde und nach langen Verhandlungen Ende der 1990er Jahre unter Verrechnung ukrainischer Schulden für Energielieferungen aus Russland aufgeteilt wurde, symbolisiert diesen Teil der Geschichte. 
Die Stadt Chersones in der Nähe von Sewastopol gilt als die Wiege der russisch-orthodoxen Zivilisation – seit 2014 ist die mutmaßliche Taufe von Großfürst Wladimir in Chersones Ende des 10. Jahrhunderts erneut zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden.

Terra incognita 

Seit der Annexion der Krim durch Russland ist die Krim für westliche Beobachter und UkrainerInnen ohne familiären Bezug zur Krim weitgehend zur terra incognita geworden. Der ukrainische Staat erlaubt den Zugang zur Region nur in einem streng definierten gesetzlichen Rahmen, und die Einreise in die Region über Russland stellt einen Verstoß gegen ukrainisches Gesetz dar. Aus den Berichten derer, die die Krim seit 2014 verlassen haben – Schätzungen zufolge etwa 40.000 bis 60.000 Menschen, darunter mindestens zur Hälfte Krimtataren3 – und aus den Berichten krimtatarischer und Menschenrechtsorganisationen sowie einiger weniger westlicher JournalistInnen, lässt sich das Ausmaß der in erster Linie gegen die krimtatarische Bevölkerung gerichteten Repressionen ablesen. Außerdem ist ein Wandel von einer von Russland geschürten Hochstimmung 2014 in eine eher abwartende Haltung erkennbar. 

Einer repräsentativen Umfrage4 zufolge, die das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) von März bis Mai 2017 mit Hilfe eines internationalen Dienstleisters und ausgebildeten lokalen Interviewern durchführte, ist unter der Krim-Bevölkerung eine Orientierung nach innen festzustellen. Die Kontakte der Krim-Bevölkerung zum Rest der Ukraine sind fast vollständig unterbrochen. Eine schon immer stark ausgeprägte regionale Identität (krymchanin = „Krim-Bewohner“) wurde durch die Ereignisse von 2014 noch gestärkt. Die ZOiS-Umfrage zeigt in diesem Zusammenhang, dass nur sechs beziehungsweise ein Prozent der Befragten Russland beziehungsweise die Ukraine als ihr Zuhause begreifen.  Zugleich haben die Menschen auf der Krim ein sehr geringes Vertrauen in die lokalen und regionalen politischen Institutionen. Die Umfrage veranschaulicht darüber hinaus das Ausmaß sozialer und wirtschaftlicher Nöte der Bevölkerung. 

Nach der Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 hat der Kreml die Wahlbeteiligung und die Zustimmung für Putin auf der Krim als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Krim zu Russland dargestellt. Damit schrieb er eine neue Seite in die mythenumwobene Geschichte der Halbinsel.


1.Sasse, Gwendolyn (2007): The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge
2.ebd.
3.Freedom House: Crimea
4.Sasse, Gwendolyn (2017): Terra Incognita: The Public Mood in Crimea, ZOiS Report 3/2017. Die Umfrage hatte zum Ziel, einen Einblick in die Stimmung und das Alltagsleben auf der Krim zu bekommen. Die derzeitige Lage auf der Krim entspricht nicht den soziologischen Idealbedingungen für eine Umfrage. Dennoch kann die Schlußfolgerung  nicht sein, lieber gar nicht zu versuchen, die Stimmen der betroffenen Menschen hörbar zu machen. Die Umfrage versteht sich als ein Beitrag dazu, die Situation auf der Krim im öffentlichen Diskurs präsenter zu machen.
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