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Presseschau № 5

Die Trauer um die Opfer des Flugzeugabsturzes im Sinai dominiert die russischen Medien. Außerdem Thema in den russischen Zeitungen in dieser Woche: Die mangelnde Korruptionsbekämpfung und die wichtigsten politischen Entscheider neben Putin. Zudem hat ein kurioser Twittertrend das russische Internet erfasst. 

Quelle dekoder

Russland trauert um die 224 Opfer der Flugzeugkatastrophe im Sinai. Die Betroffenheit, die am Wochenende herrschte, macht in den Medien jedoch zunehmend Spekulationen Platz. Die Absturzursache des Fluges 7K9268 der russischen Fluglinie Kogalymavia auf der Route zwischen Scharm-el-Sheik und St. Petersburg ist zwar immer noch unklar, trotzdem dringen immer weitere Details an die Öffentlichkeit – ob verifiziert oder nicht: Die Rede ist von einem ungewöhnlichen Geräusch, das in der Kabine unmittelbar vor dem Absturz zu hören gewesen sei, erste Transskripte von Gesprächen aus dem Cockpit sind zu lesen. Auch das Staatsfernsehen hält sich nicht zurück. Der Korrespondent steht mitten in der Absturzstelle, fasst Wrackteile an, weist die Zuschauer auf immer noch herumliegende persönliche Gegenstände der Passagiere hin. Kogalymavia selbst hat einen technischen Fehler als Ursache kategorisch zurückgewiesen, wohl auch um Forderungen nach finanzieller Entschädigung von sich abzuwenden. Laut der Fluglinie war die Unfallmaschine in einem guten Zustand, die Crew erfahren.

Die Politik ihrerseits versuchte den Eindruck zu vermitteln, die Katastrophe möglichst rasch aufklären zu wollen. Eine Regierungskommission wurde gegründet, den Hinterbliebenen eine finanzielle Entschädigung versprochen. Transportminister Maxim Sokolow und Alexander Bastrykin, Leiter des Ermittlungskomitees, reisten nach Ägypten. Das Katastrophenmanagement des Kremls wurde jedoch kontrovers diskutiert. Kritisiert wurde etwa, dass Präsident Wladimir Putin erst drei Tage nach dem Unfall den Angehörigen im TV sein Beileid aussprach. Zuvor hatte Putins Sprecher verlauten lassen, der Präsident plane aufgrund des Flugzeugabsturzes keinen öffentlichen Auftritt. Mit Kritik wurden auch die Medien bedacht. Etwa ob es ethisch sei, überhaupt Bilder der Verstorbenen zu zeigen. Der kremlkritische Sender Dozhd widmete dem Thema eine ganze Sendung. In Russland wird anders öffentlich getrauert als in Westeuropa: Bereits unmittelbar nachdem am Samstag das Verschwinden der Maschine vom Radar bekannt wurde, zeigten TV-Sender Urlaubsbilder, welche die Verstorbenen noch kurz vor dem Abflug auf die sozialen Netzwerke hochgeladen hatten und beleuchteten die persönlichen Geschichten der Besatzung.

Große Aufmerksamkeit in den russischen Medien und dem Runet, wie das russischsprachige Internet in Russland selbst genannt wird, erfährt die Frage, ob es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat. Auch für westliche Medien scheinen sich die Indizien zu erhärten. CNN berichtet von einer Bombe, die Terroristen an Bord gebracht haben können. Wedomosti beruft sich auf die Analyse der amerikanischen Denkfabrik Stratfor, wonach an Bord eine Bombe explodiert sein könnte. Offizielle Stellen in Ägypten und Russland weisen die Anschlagstheorie bislang zurück. Putins Sprecher Dimitri Peskow warnte davor, den Absturz mit der russischen Militäroperation in Syrien in Verbindung zu bringen. Sollte sich die Anschlagstheorie jedoch bewahrheiten, wäre dies ein großer Schlag für den russischen Staat, für seine Fähigkeit, Sicherheit und Leben seiner Bürger zu garantieren, meint Slon. Für viele Russen vertrauter, plausibler und direkt aus der russischen Realität gegriffen sei allerdings „die russische Nachlässigkeit“, schreibt das Magazin weiter. Kogalymavia gehe es einzig um Profitmaximierung, bei möglichst geringen Investitionen, ihre Flotte habe ein relativ hohes Durschnittsalter. Nach dem Absturz erzählten etwa Familienmitglieder der Besatzung im TV, ihre Angehörigen hätten sich über den Zustand des 18-jährigen Flugzeuges beschwert. Hinter dem Absturz könnte also ebensogut ein kaputtes Flugzeug, eine laxe Sicherheitskultur oder Korruption stehen.

Die Ernsthaftigkeit der russischen Anstrengungen zur Bekämpfung der Korruption ist fraglich. Internationale Standards zu etablieren, zu denen einzelne Staaten nicht bereit seien, sei unzulässig, bekräftigte Sergej Iwanow, der Chef der Präsidialadministration, in seiner Rede auf der UN-Konferenz zur Korruptionsbekämpfung in St. Petersburg. Mit solchen Auftritten will der Kreml einzig von den eigenen Versäumnissen bei der Korruptionsbekämpfung ablenken, kritisiert Transparency International Russland und macht darauf aufmerksam, dass Russland den Artikel 20 der UNO-Antikorruptionskonvention, der illegale Bereicherung unter Stafe stellt, immer noch nicht ratifiziert hat. Offiziellen Angaben zufolge ist zudem die durchschnittliche Bestechungssumme gestiegen. Als erfolgreiches Beispiel zur Korruptionsbekämpfung verweist Moskau gerne auf die Verhaftung des Gouverneurs von Komi, Wjatscheslaw Gajser. Das Ermittlungskomitee eröffnete im September gegen Gajser und 19 weitere hochrangige Beamte ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bei Hausdurchsuchungen seien mehr als 60 Kilogramm Schmuck gefunden worden.

Dass sich die Behörden bezüglich Korruption nicht gerne reinreden lassen, zeigte sich auch am Rande der Konferenz. Als Aktivisten des Fonds für den Kampf gegen Korruption den Konferenzteilnehmern in St. Petersburg eine Broschüre über die illegale Bereicherung russischer Politiker verteilen wollten, wurden sie von der Polizei festgehalten. Regelmäßig veröffentlicht der von Alexej Nawalny gegründete Anti-Korruptionsfonds Berichte über das angebliche Luxusleben hochrangiger Politiker, unter anderem zur teuren Luxusuhr, die Putins Sprecher Dimitri Peskow bei seiner Hochzeit trug. Zuletzt stand Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Zentrum der Aufmerksamkeit - die angeblich 18 Millionen Dollar teure „Datscha“ schaffte es sogar bis in die Bildzeitung. In Russland selbst sind die Reaktionen auf den Palast des Verteidigungsminister gemischt. Einige zeigen sich wütend, für andere hat Schoigu seiner Verdienste um die Armee wegen einen solchen Palast mehr als verdient. Auch wenn das offizielle Moskau die Veröffentlichungen des Anti-Korruptionsfonds jedesmal geflissentlich nicht zur Kenntnis nimmt, ein Dorn im Auge scheint die Arbeit von Nawalny den Behörden doch zu sein. Anfang Oktober brachte der Inlandsgeheimdienst FSB ein Gesetzesprojekt ein, nach dem Informationen über die Besitzer von Villen, Jachten und Flugzeugen nicht mehr an zivilgesellschaftliche Akteure erteilt werden dürfen. Ein Schutz vor Alexej Nawalny, kommentierte RBC Daily.

Von Interesse ist die Moskauer Elite nicht nur für Korruptionsbekämpfer, sondern auch für Kreml-Astrologen: Jewgeni Mintschenko hat dieser Tage eine neue Version seiner alljährlichen Präsentation Politbüro 2.0 veröffentlicht. So bezeichnet Mintschenko das informelle Netz rund um Präsident Putin, welchen nachgesagt wird, die Entscheidungen im Land zu treffen. Besonders einflussreich: Sergej Iwanow aufgrund der Militäroperation in Syrien, da er dem Präsidenten zu dem Schritt geraten haben soll. Auch Premierminister Dimitri Medwedew ist wieder näher an Putin herangerückt. Grund dafür sind die Dumawahlen von 2016, für die Medwedew als Parteivorsitzender der Kreml-Partei Einiges Russland antritt. Vor einem Jahr belegte er gemeinsam mit dem Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin noch den letzten Rang innerhalb des „Politbüros“, nun ist es der vierte Rang. Ebenfalls an Einfluss gewonnen hat der Oligarch Arkadi Rotenberg. An Einfluss verloren haben laut Mintschenko dagegen Igor Setschin, der Präsident des Ölkonzerns Rosneft, und der Oligarch Gennadi Timtschenko.

Zum Abschluss nun noch ein aktueller russischer Twitter-Trend: Rechtzeitig zum Tag der Einheit des Volkes am 4. November rief die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti dazu auf, unter dem Hashtag #здесьхорошо (#hieristesschön) Fotos ihrer Lieblingsecke in Russland hochzuladen. Doch anstatt pflichtbewusst sibirische Wälder, goldene Kirchtürme oder einen Sonnenuntergang über dem Schwarzen Meer zu posten, drehten viele Nutzer den Spieß einfach um. Unter #hieristesschön finden sich nun fast ebensoviele Bilder kaputter russischer Straßen, einer fallenden Ölpreiskurve, oder wiederum die prächtigen und luxuriösen Paläste der Oligarchen und Beamten.

Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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Gesellschaftsvertrag

Im Russland der 2000er Jahre steht der Begriff Gesellschaftsvertrag für ein implizites Einvernehmen zwischen Bevölkerung und politischer Führung: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. Spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2014/15 haben sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Russland jedoch derart verändert, dass das „Ende des bisherigen Gesellschaftsvertrags“ diskutiert wird.

Nach den leidvollen Erfahrungen der postsowjetischen Transformationsperiode (vgl. die 1990er), die geprägt war von Kriminalität und Terrorismus, Armut und Arbeitslosigkeit sowie ausbleibenden Löhnen und Pensionen, sehnten sich große Teile der russischen Gesellschaft nach Sicherheit und Wohlstand. Im Austausch für politische Stabilität, innere Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung war die Mehrheit der Bevölkerung daher bereit, auf unabhängige Medien und politische Teilhabe weitgehend zu verzichten. Diese Parallelexistenz von Politik und Gesellschaft – verkürzt: Loyalität und Nichteinmischung gegen wirtschaftliche Verbesserungen – wird zuweilen als ungeschriebener Gesellschaftsvertrag bezeichnet.1

Die Finanzkrise von 2008/09 gab ersten Anlass zu Zweifeln, ob dieses Arrangement dauerhaft aufrecht erhalten werden könnte. Zwar federte der Staat mit massivem Einsatz finanzieller Mittel – unter anderem einer drastischen Rentenerhöhung – die Effekte der Krise ab, jedoch sank die Zuversicht der Bürger bezüglich ihrer wirtschaftlichen Lage erheblich.2 Dass dies sich nicht sofort auf die Beliebtheit Putins auswirkte, führt der Politikwissenschaftler Daniel Treisman auf den Georgienkrieg vom August 2008 zurück, der eine große Mehrheit der Bevölkerung im Angesicht eines außenpolitischen Konflikts hinter ihrer Regierung versammelte.3 Dieser sogenannte rally-round-the-flag-Effekt zeigt sich auch im Ukraine-Konflikt. Die neue Kiewer Regierung wurde als Bedrohung für ethnische Russen im Osten der Ukraine betrachtet, die Annäherung des Landes an den Westen beschwor Ängste vor einem Nato-Beitritt herauf. Mit der Angliederung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine gewann die russische Führung erheblich an Popularität hinzu.

War die wirtschaftliche Leistung seit 2009 schon nicht mehr geeignet, dauerhafte Regimeunterstützung zu generieren, so wurde der Gesellschaftsvertrag der 2000er Jahre mit dem Ukraine-Konflikt endgültig transformiert. Die finanzielle Unterstützung der Krim, die enorme Aufstockung des Militärhaushalts (um 33 Prozent im Jahr 2015) sowie die wirtschaftlichen Einbußen infolge der westlichen Sanktionen verlangen der russischen Bevölkerung große finanzielle Opfer ab. Der Staat kürzt 2015 seine Ausgaben für Bildung (um 8 Prozent), Gesundheit (um 10 Prozent) und Wohnungsbau (um 40 Prozent), und die Reallöhne gehen 2015 um mindestens 9 Prozent zurück.4 Gleichwohl zeigen die Ratings des Präsidenten Werte wie zu besten Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs.5

An die Stelle des alten scheint also ein neuer Gesellschaftsvertrag zu treten: Das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand der eigenen Bevölkerung werden angesichts der wahrgenommenen Bedrohungslage zurückgestellt. Im Austausch für Loyalität bietet die politische Führung nun ein neues Russlandbild an: nach zwei Jahrzehnten internationaler Bedeutungslosigkeit sei das Land nun „von den Knien auferstanden“ und habe seine Rolle als Großmacht wiedergefunden. Das Versprechen wirtschaftlichen Wohlergehens ist auf der Bürgerseite des Vertrages damit durch die Bereitstellung eines neuen Selbstbildes ersetzt: Das Psychologische tritt – zumindest teilweise – an die Stelle des Ökonomischen.

Folgt man dieser Interpretation, die auch Alexander Baunow vom Carnegie Moscow Center unterstützt6, so stellt sich die Frage, wie lange das neue Modell verlässliche politische Unterstützung erzeugen kann. Vor allem die armutsgefährdete Schicht unterhalb der Mittelklasse (Falscher Mittelstand) spürt die negativen wirtschaftlichen Folgen des neuen Gesellschaftvertrags, unter anderem durch die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Entwertung des Rubels. Da sie das gesellschaftliche Rückgrat von Putins Regime bildet, wird derzeit diskutiert, wie lange diese Gruppe einen Vertrag einhält, von dem sie wirtschaftlich nicht profitiert.


1.Schröder, Hans-Henning (2011): Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag? In: Russland-Analysen 2011 (231), S.12-14. Siehe auch Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
2.Greene, Samuel (2012): Citizenship and the Social Contract in Post-Soviet Russia, in: Demokratizatsiya 20(2), S.133-140
3.Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, S.607, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
4.Siegert, Jens (2015): Wirtschaftskrise in Russland - und keiner protestiert, in: Russland-Analysen 2015 (303), S.12-14
5.Lewada.ru: Odobrenie dejatelʼnosti Vladimira Putina
6.Baunow, Alexander (2015): Ever So Great: The Dangers of Russia’s New Social Contract
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