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Wo Arbeitslosigkeit und Wirtschaft gemeinsam schrumpfen

Wenn nicht die Sanktionen selbst, dann werde die hohe Arbeitslosigkeit den Kreml schon in die Knie zwingen – so oder ähnlich haben zahlreiche Experten den Niedergang des Systems Putin nach dem russischen Überfall auf die Ukraine prognostiziert. Nun bewegt sich Russland auf Vollbeschäftigung zu, und auch das Realeinkommen der Bevölkerung soll 2023 um 3,4 Prozent steigen. Dabei ist die russische Wirtschaft 2022 um über zwei Prozent geschrumpft, für das laufende Jahr wird ebenfalls eine Rezession vorausgesagt, die Arbeitsproduktivität ist gewohnt niedrig. Wie geht das alles zusammen? 

Was zunächst widersprüchlich erscheint, aber für den Kreml gut klingt, verschleiert tatsächlich eine Vielzahl von Schwierigkeiten der russischen Wirtschaft, die sich langfristig noch verschärfen dürften. Zu dieser Einschätzung kommen Jekaterina Mereminskaja und ihre Kollegen von istories, die mit zahlreichen Experten gesprochen haben. 

Quelle istories


Die Arbeitslosigkeit in Russland bricht seit einem halben Jahr alle Minusrekorde. Zuletzt war sie im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991. Und laut Maxim Reschetnikow, dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung, sei damit womöglich nicht einmal der Tiefststand erreicht – die Arbeitslosigkeit könne noch weiter zurückgehen.

Es scheint, als gäbe es keine Krise. Denn: „Normalerweise bedeutet jedes einzelne Prozent BIP-Rückgang zwei Prozent[punkte – dek] mehr Arbeitslosigkeit“, führt Oleg Itskhoki, Professor an der University of California, als Beispiel für entwickelte Industrieländer an, „in diesem Sinne ist der Zustand der russischen Wirtschaft phänomenal.“ Im ersten Quartal ist das BIP im Jahresvergleich um 1,9 Prozent geschrumpft, die Arbeitslosigkeit aber ebenfalls zurückgegangen. Wie ist das möglich, und was bedeutet das?

Niedrige Arbeitslosigkeit − die „heilige Kuh“ des Kreml

Die russische Führung legt ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitslosenquote – das ist einer ihrer Schwerpunkte. Eine hohe Arbeitslosigkeit zieht soziale Probleme nach sich und bricht damit den Gesellschaftsvertrag aus der Zeit vor dem Krieg: Wir gewährleisten euch einen annehmbaren Lebensstandard, und ihr haltet euch aus der Politik raus. Die Regierung hat selbst in schwierigsten Zeiten von der Wirtschaft verlangt, auf Entlassungen zu verzichten. Nach der weltweiten Finanzkrise war Russlands BIP im Jahr 2009 um 7,9 Prozent gefallen, die Arbeitslosenquote jedoch nur von 6,2 auf 8,3 Prozent gestiegen. 

In Krisen hat man das Problem nicht gelöst, sondern verschleiert: Mitarbeiter wurden in unbezahlten Urlaub geschickt, auf Teilzeit gesetzt und so weiter – alles, nur keine Massenentlassungen. Dabei ging es nicht nur um den Wunsch, die Zahlen zu schönen – auch für die Betroffenen war es so oft bequemer. In jedem Fall handelt es sich dabei um versteckte Arbeitslosigkeit. Offiziell dagegen ging die Arbeitslosigkeit allmählich zurück.

Das geschah vor allem auf natürlichem Wege. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre werden nach und nach durch die des „demografischen Einbruchs“ Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre abgelöst. Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen, so die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch. 

Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen / Grafik © Kaj Tallungs/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

Der Krieg hat die Situation weiter verschärft. Viele haben das Land verlassen, andere wurden zum Militär eingezogen. Anstelle der Zuwanderung von Migranten aus anderen Ländern, die den Arbeitskräftemangel in Russland bislang ausgeglichen haben, überwiegt nun die Abwanderung: 20.600 Menschen haben [im Wanderungssaldo – dek] das Land im Zeitraum Januar bis Oktober 2022 verlassen. 2021 war die Bevölkerung Russlands durch Migration noch um 320.000 Personen angewachsen. Infolge der Mobilisierung wurden 300.000 Männer dem Arbeitsmarkt entzogen, so Subarewitsch. Die Abwanderung nach der Verkündung der Mobilisierung beziffert sie mit „mindestens einer halben Million“. 

Mit der Arbeitslosigkeit ist es wie mit der Körpertemperatur 

Man könnte meinen, dass es denen, die geblieben sind, gut gehen müsste. Auf den ersten Blick bedeutet die historisch niedrige Arbeitslosigkeit, dass fast alle einen Job haben und die Bezahlung steigt. So legte das Realeinkommen (inflationsbereinigt) im ersten Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,9 Prozent zu. 

Tatsächlich führt ein solcher Rekord zu vielen Problemen. Dem Land fehlen ganz einfach Arbeitskräfte. Der Personalmangel in Russland ist ein altes Problem, aber nach der Mobilisierung im Oktober erreichte er einen Höchststand. Bereits im November stieg der Anteil der Unternehmen, die „aus formalen Gründen“ (Einberufung, Gerichtsverfahren, Tod) Mitarbeiter verlieren, von den bislang gewöhnlichen 38 Prozent auf 60 Prozent. 

Der Lohnwettbewerb zur Abwerbung von Arbeitskräften, insbesondere von hochqualifizierten Industriearbeitern, hat bereits begonnen

Praktisch überall fehlen Leute. Viel wird über IT-Spezialisten gesprochen, für die man sich sogar besonders günstige Hypotheken ausgedacht hat, aber in der Industrie sieht es nicht besser aus. „Es gibt ein allgemeines Problem mit Personalkapazitäten, auch mit hochqualifizierten Fachkräften für die Industrie“, so Wassili Osmankow, erster stellvertretender Minister für Industrie und Handel. „Wir sind immer stärker mit entsprechenden Einschränkungen konfrontiert.“ Während Sanktionen umgangen werden können, indem man deutsche Maschinen durch chinesische ersetzt oder über Drittstaaten einkauft, lassen sich Personalprobleme nicht so leicht lösen. „Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter“ – darauf kommt es eigentlich an“, erklärt Osmankow. 

Mit der Arbeitslosenquote ist es wie mit der Körpertemperatur: Es gibt einen Normalbereich (ständig werden Jobs gewechselt, Jobs gesucht, beispielsweise von Berufseinsteigern) − das ist eine natürliche Arbeitslosigkeit, die das Wirtschaftswachstum nicht hemmt und die Inflation nicht antreibt. Für Russland liegt diese Quote bei rund fünf Prozent. Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte die natürliche Arbeitslosigkeit von 2000 bis 2016 mit durchschnittlich 5,5 Prozent (russische Wissenschaftler ermittelten Mitte der 2000er Jahre einen ähnlichen Wert: 5,6 Prozent) und prognostizierte einen Rückgang dieser Quote um jährlich 0,1 Prozentpunkte. Wenn diese Prognose stimmt, müsste die natürliche Arbeitslosigkeit jetzt bei 4,8 Prozent liegen. 

Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger

Aber es kann Abweichungen geben: Hat ein Wirtschaftsorganismus mit Problemen zu kämpfen, steigt die Arbeitslosigkeit. Und auch eine zu niedrige Arbeitslosigkeit kann ein schlechtes Zeichen sein. 

Die Arbeitslosigkeit in Russland war im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991 / Foto © Mikhail Tereshchenko/ITAR-Tass/imago images„Normalerweise deutet ein Rückgang der Arbeitslosigkeit auf einen Anstieg der Beschäftigung und eine Belebung der Wirtschaft hin. Deshalb propagiert die Führung das als ihre ‚Errungenschaft‘“, sagt Subarewitsch. Doch das, was sich jetzt beobachten lässt, ist schon ein Verfall. Die Wirtschaft verfügt kaum noch über Personalressourcen, aber die gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum. Die sogenannte Transformation der Wirtschaft braucht auch Arbeitskräfte, doch die sind nirgendwo zu bekommen.

„Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger, hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der, die wir 2020 bis 2021 hatten“, räumt Maxim Oreschkin ein, Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten. 

Jeder löst das Problem, so gut er kann. Eine besonders radikale Lösung hat der Autohersteller AwtoWAS gefunden: Für die Montage des Lada Vesta NG sollen Häftlinge verpflichtet werden. „Gebraucht werden allerdings qualifizierte Leute, die müssen extra geschult werden. Und da spreche ich noch nicht von Motivation und Arbeitsqualität“, kommentiert Wladimir Gimpelson, Professor an der University of Wisconsin-Madison. 

Andere Zusatzmaßnahmen, mit denen Arbeitgeber den Arbeitskräftemangel bekämpfen wollen, erfasst die Zentralbank. So hat ein Chemieunternehmen in der Wolga-Wjatka-Region die Zahl der HR-Manager erhöht, um die Personalbeschaffung zu forcieren. Im Ural haben Unternehmen begonnen, Rotationsprogramme, bessere Bedingungen für den Umzug (zum Beispiel Bereitstellung von Wohnraum, Reisekostenerstattung, Fortbildungen) anzubieten und die Löhne zu erhöhen. 

Lohnerhöhung bringt Inflation

Lohnerhöhungen sind natürlich die häufigste Maßnahme. Aber für die Wirtschaft ist das − so seltsam es klingen mag − ein Problem. Die Löhne steigen schneller als die Arbeitsproduktivität, wiederholt immer wieder die Zentralbank: Das muss dann durch Preiserhöhungen kompensiert werden, was wiederum die Inflation anzuheizen droht. 

Analysten der Zentralbank ermittelten auf Grundlage der Daten von 2018, dass die niedrige Arbeitslosigkeit in Russland in den meisten Regionen (48) schon vor den jüngsten Rekordtiefs die Inflation angeheizt hatte, indem sie die Löhne nach oben trieb. 

Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter – darauf kommt es eigentlich an

Nicht alle jedoch können die Personalausgaben erhöhen. Der Fluggesellschaft Aeroflot fehlt bereits das fünfte Jahr in Folge das Geld für Gehaltsanpassungen. Nach Einstellung der meisten Auslandsverbindungen überlebt die Airline nur mit staatlicher Hilfe. Im Mai legten Beschäftigte im Autowerk Uljanowsk (UAZ), das auch staatliche Aufträge erfüllt, die Arbeit an den Montagebändern für den Geländewagen Patriot nieder und forderten eine Lohnerhöhung mit dem Argument, im letzten Monat im Durchschnitt 20.000 Rubel [im April umgerechnet ca. 230 Euro – dek] erhalten zu haben. Der Generaldirektor des Werks versprach noch am selben Tag eine Lohnerhöhung um 12 Prozent ab Juni. Die Streikführer wurden unterdessen von Ordnungskräften festgenommen. 

Denn Streiks gehören ebenfalls zur Schattenseite: „Eine niedrige Arbeitslosigkeit und fehlende Arbeitskräfte geben den Beschäftigten zusätzliche Sicherheit. Es ist für sie einfacher, Forderungen zu stellen, ohne Entlassungen befürchten zu müssen“, erläutert Gimpelson. Seiner Meinung nach könne sogar die Rüstungsindustrie ihre Löhne wahrscheinlich nur in begrenztem Maße erhöhen. 

Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen

Indes wächst das Problem des Arbeitskräftemangels weiter. Im Mai sei in einer Reihe von Branchen die wirtschaftliche Aktivität gestiegen, so dass sich der Arbeitskräftemangel weiter verschärft habe, stellt die Zentralbank fest. Die Unternehmen stocken wegen der höheren Nachfrage ihre Belegschaft auf. Darum entstehen aktuell so viele und so schnell wie nie seit November 2000 neue Arbeitsplätze. Das geht aus einem Enterprise Survey der Firma S&P für den PMI-Index hervor. 
  
„Der Anstieg der Nachfrage nach Arbeitskräften entspricht in seinem Ausmaß eher einer Phase intensiven Wachstums“, geben sich Experten des Moskauer Zentrums für makroökonomische Analysen und Kurzzeitprognosen (ZMAKP) überrascht, „vermutlich ist Russlands Wirtschaft (sollten keine neuen Schocks auftreten) bereit für eine neue Wachstumswelle.“

Wachstum bräuchte Arbeitskräfte und Investitionen

Doch das ist eher unwahrscheinlich. Denn derartige Probleme erschweren wirtschaftliches Wachstum. Es fehlen die notwendigen Arbeitskräfte. Die Verfügbaren sind nicht immer in der Lage oder bereit zu arbeiten, weil sie nicht befürchten müssen, entlassen zu werden. Einerseits halte Russland eine künstliche Überbeschäftigung aufrecht, die die Arbeitsproduktivität verringert, räumen die Experten des ZMAKP ein. Andererseits führe die niedrige Produktivität zur Unterbewertung von Arbeit – so entsteht ein Teufelskreis. 

Bei der Einführung neuer Technologien kommt es zu Verzögerungen. „Es fehlen Anreize für die technische Modernisierung von Unternehmen und für den Ersatz von Arbeitskräften durch Roboter“, warnen die ZMAKP-Experten weiter. „Eine immer größere Rolle in der Produktion spielen unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte, was sich wiederum auf die Qualität auswirkt.“ Das ist ein weiterer Schritt Richtung „umgekehrte Industrialisierung“ aufgrund rückständiger Technologien, wie sie die Zentralbank für Russlands Industrie vorausgesagt hatte. 

Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen. Die Abwanderung von Humankapital dürfte angesichts erhöhter Unsicherheit weiter anhalten, glaubt auch Alexander Knobel, Leiter der Forschungsabteilung für internationalen Handel am Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik. 

Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist

Eine weitere Folge der niedrigen Arbeitslosigkeit in Russland ist Armut, denn dahinter verbirgt sich oft Unterbeschäftigung. Beschäftigte werden zwar nicht entlassen, bekommen aber weniger Geld. Laut Rosstat-Angaben waren im ersten Quartal mehr als vier Millionen Personen in Kurzarbeit, durch Verschulden des Arbeitgebers unbeschäftigt oder in unbezahltem Urlaub. Etwa sechs Millionen „Beschäftigte“ erhalten nicht einmal den Mindestlohn (MROT), und 12 Millionen haben keinen Arbeitsvertrag, räumt die Vize-Ministerpräsidentin für Soziales, Tatjana Golikowa, ein. 

Die wirtschaftlichen Auswirkungen dessen, dass Russlands Arbeitsmarkt mehr als eine Million Menschen entzogen wurden (durch Mobilisierung und Ausreise), seien jedoch deutlich geringer als die sozialen Folgen, glaubt Itskhoki von der University of California. Man könnte wohl noch weitere 300.000 abziehen, die Wirtschaft würde weiter funktionieren. Doch die Folgen dieses Verlustes junger, produktiver Menschen würden noch lange spürbar sein, warnt der Experte: „Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist − fünf bis zehn Jahre, vielleicht auch noch länger.“

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Russische Wirtschaftskrise 2015/16

Die Wirtschaftskrise im Herbst 2014 hatte Russland ökonomisch vor eine unsichere Zukunft gestellt. Drei unabhängige Entwicklungen setzten die russische Wirtschaft gleichzeitig unter Druck: der Einbruch des Ölpreises, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sowie strukturelle Probleme, das heißt fehlende Anreize zu Investitionen und zur Steigerung der Produktivität. Erst mit der Erholung des Ölpreises 2017 kam es wieder zu einem leichten Wirtschaftswachstum.

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Sanktionen

Als Reaktion auf die Annexion der Krim und Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine beschlossen sowohl die USA als auch die EU im Jahr 2014 diplomatische und wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Diese umfassten zunächst nur Einreiseverbote für unmittelbar in den Konflikt involvierte russische Politiker und Wirtschaftsführer sowie das Einfrieren von Vermögenswerten. Hinzu kam ein umfassendes Wirtschaftsembargo der annektierten Krim. Wegen russischer Unterstützung für die in der Ostukraine kämpfenden Milizen beschloss die EU Ende Juli und im September 2014 einen weitgehenden Finanzierungsstopp für russische Staatsbanken, Öl- und Rüstungskonzerne, sowie Einschränkungen beim Export von militärischen und militärisch verwendbaren Gütern.

Im August 2017 unterschrieb der US-amerikanische Präsident Trump zudem ein vom Kongress ausgearbeitetes Gesetz, das die Sanktionen gegen Russland verstetigte und verschärfte. Die US-Linie unterscheidet sich bei den Sanktionen seitdem von der EU-Politik. Der US-Präsident ist nun verpflichtet, auch sekundär zu sanktionieren. Wenn ausländische Unternehmen bei der Umgehung von Sanktionen helfen, laufen sie nun Gefahr, selbst sanktioniert zu werden (US-amerikanischen Unternehmen drohen ohnehin strafrechtliche Konsequenzen). Am 6. April 2018 beschlossen die USA neue Sanktionen gegen russische Unternehmen und Individuen, darunter die drei Oligarchen Oleg Deripaska, Suleiman Kerimow und Viktor Wexelberg. Diesem Schritt waren keine unmittelbaren Aggressionen Russlands vorausgegangen. Die weit gefasste Begründung für die Maßnahme nannte die Besetzung der Krim, die Destabilisierung der Ostukraine, die Versorgung von Syriens Regime mit Waffen, die Einmischung in westliche Demokratien und Hackerangriffe. Die Finanzmärkte in Moskau taumelten, der Rubel verlor zwischenzeitlich rund zehn Prozent an Wert. Manche Analysten sprachen vom Schwarzen Montag an der Moskauer Börse.

Als Reaktion auf die Angliederung der Krim beschlossen sowohl die USA als auch die EU1 im März 2014 wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Inhalt dieser ersten Stufe der Sanktionen waren vor allem Einreiseverbote und das Einfrieren von Vermögen.2 In den folgenden Monaten wurde die Liste der betroffenen Individuen mehrfach ausgeweitet. Die USA zielten dabei früh auch auf einflussreiche Unterstützer Putins (und die Bank Rossija)3, während die EU zunächst unmittelbar in den Konflikt involvierte Personen mit Sanktionen belegte. Geschäfte mit auf der Krim ansässigen Unternehmen wurden untersagt.4

Aufgrund russischer Unterstützung für die in der Ostukraine kämpfenden Milizen erließ die EU Ende Juli 2014 ein separates Sanktionenpaket, das die Finanzierung russischer Staatsbanken in Europa einschränkt. Im September wurden diese Einschränkungen dann auf russische Rüstungs- und Ölkonzerne ausgedehnt. Daneben wurde der Export von Erdöl-Technik sowie von militärischen und militärisch einsetzbaren dual use-Gütern nach Russland verboten.5 Die Sanktionen wurden im August 2014 von Russland mit Gegensanktionen beantwortet, die vor allem die Einfuhr westlicher Agrarprodukte betreffen. Da die Beschlüsse des Abkommens von Minsk zur friedlichen Regulierung des Konflikts in der Ostukraine bislang nicht umgesetzt sind, verlängert die EU turnusmäßig ihre Wirtschaftssanktionen.6

Die US-Sanktionen gegen die Bank Rossija machten sich schnell bemerkbar: Von dieser Bank ausgegebene Visa- und Mastercard-Kreditkarten wurden gesperrt.7 Daneben musste die russische Lowcost-Airline Dobrolet, mit der die Krim an Russland angebunden werden sollte, in Folge der westlichen Sanktionen aufgelöst werden.8 Fehlende Technik aus dem Westen zwang den Ölproduzenten Rosneft, Bohrprojekte um Jahre zu verschieben9. Die von den Kapitalbeschränkungen betroffenen russischen Konzerne konnten ab Herbst 2014 auslaufende Kredite nicht mehr durch neue, langfristige Anleihen aus der EU oder den USA ersetzen. Ausländische Investoren legten auch Projekte in nicht sanktionierten Branchen auf Eis.10 Durch die Überlagerung mit dem Sinken des Ölpreises lassen sich die Folgen der Sanktionen nur sehr schwer quantifizieren. Verschiedenen Schätzungen zufolge reduzieren die Sanktionen das russische BIP um 0,4 Prozent bis 0,6 Prozent (laut einer Studie russischer Ökonomen) beziehungsweise 1 Prozent bis 1,5 Prozent pro Jahr (laut Internationalem Währungsfond).11

Tragen die mehrmalig verlängerten Sanktionen wie geplant zur Deeskalation in der Ukraine bei? Die finanziellen Einschränkungen beschleunigten Ende 2014 den Kapitalabfluss aus Russland, was den Druck auf den Rubel erhöhte. Außerdem zwangen sie den Kreml zur Unterstützung der betroffenen Banken und Unternehmen und belasteten damit den Staatshaushalt und die Reserven. Sie entfalteten vor allem in der Anfangsphase Druck und lasten seither auf den Wachstumsaussichten.

Die im August 2017 und April 2018 beschlossenen Verschärfungen der US-Sanktionen könnten für Russland aber noch schmerzhafter werden. Die wirtschaftlichen Kosten für weitere Aggressionen in der Ukraine wären außerordentlich hoch – das dürfte im Kreml angekommen sein. Das Aufheben der Sanktionen gegen Russland würde die wirtschaftliche Lage hingegen nur mittel- oder langfristig verbessern12, was ihren Wert als Verhandlungsmasse einschränkt.13


Zum Weiterlesen: The Economic Sanctions Against Russia, Swedish Defense Research Agency, September 2015

1.Einige weitere Länder führten ebenfalls Sanktionen ein, darunter die Ukraine, Kanada und Japan. Für Kanada und Japan siehe: Oxenstierna, Susanne / Olsson, Per (2015): The economic sanctions against Russia: Impact and prospects of success
2.Official Journal of the European Union: Council Decision 2014/145/CFSP
3.The New York Times: Private Bank Fuels Fortunes of Putin's Inner Circle
4.Official Journal of the European Union: Council Decision 2014/386/CFSP
5.Official Journal of the European Union: Council Decision 2014/512/CFSP
6.Zuletzt im März 2017. European Council: EU prolongs sanctions over actions against Ukraine's territorial integrity until 15 September 2017
7.BBC: Visa and MasterCard block Russian bank customers
8.World Airlines News: Dobrolet is forced to shut down due to European sanctions
9.The Moscow Times: Russia's Rosneft Won't Resume Sanctions-Struck Arctic Drilling Before 2018 – Sources
10.Forbes: Major Investments At Risk As Russian Sanctions Become More Nerve Wracking, wobei einige Investoren den günstigen Rubel als Chance sahen, siehe dazu: The Wall Street Journal: Schlumberger to Pay $1,7 Billion for Stake in Russia᾿s Eurasia Drilling
11.Vedomosti: Ėkonomika Rossii lišilasʼ 8,4 % rosta
12.Auch ohne Sanktionen würden die russischen Unternehmen derzeit kaum westliches Kapital finden.
13.Im Gegensatz zu den Export-Sanktionen gegen den Iran, deren Aufheben unmittelbar wirtschaftlich spürbar ist.
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)