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Ist was faul an der Kurve?

„Wir glauben Gauß!“ – so und ähnlich lauteten Aufschriften auf Schildern, die während der Massenproteste nach der Dumawahl 2011 zu sehen waren. In abgewandelter Form taucht das Stichwort nun nach dieser Dumawahl wieder auf, nicht auf der Straße, aber in der Berichterstattung unabhängiger russischer Medien – und in den Sozialen Netzwerken.  

Gemeint ist die Gaußsche Glockenkurve, die in der Statistik eine Normalverteilung anzeigt. Der Physiker Sergej Schpilkin machte diese Kurve unter Kritikern der Dumawahl besonders populär. Bereits 2011 und jetzt wieder nutzte er sie zur Analyse der Wahlbeteiligung und der abgegebenen Stimmen. In den erstellten Histogrammen fällt auf, dass die Machtpartei Einiges Russland in Wahlbezirken, in denen die Wahlbeteiligung auf 100 Prozent zugeht, auffällig viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Schpilkins Analyse wirft Fragen auf. Weisen seine berechneten Kurven auf Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe hin? Wie kommt regional eine unterschiedliche Wahlbeteiligung mit teils hohen Stimmenzuwächsen für Einiges Russland zustande? Für den Physiker selbst deutet das auf Manipulationen hin, Kritiker sehen einen klaren Beweis für Fälschungen.

Die Ergebnisse der Dumawahl vom 18. September wurden unterdessen von der Zentralen Wahlkommission (ZIK) offiziell für gültig erklärt. ZIK-Vorsitzende Ella Pamfilowa sagte, das Komitee gehe aber noch ausstehenden Hinweisen zu möglichen Verstößen bei der Wahl nach. Die unabhängigen Wahlbeobachter der Bewegung Golos haben zahlreiche Verstöße – sowohl aus dem Wahlkampf als auch vom Tag der Stimmabgabe – registriert und fassen sie für die Regionen in Berichten zusammen.

Was hat der Physiker Schpilkin, der derweil vielfach zitiert wird, genau ausgerechnet? Wie ist er vorgegangen? Im Interview mit der Novaya Gazeta erklärt Schpilkin seine Methode und wie seinen Berechnungen zufolge ein bereinigtes Wahlergebnis aussehen müsste.

Quelle Novaya Gazeta

Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“

Anna Baidakowa: Inwiefern deuten Schwankungen in der Wahlbeteiligung auf mögliche Fälschungen hin?

Sergej Schpilkin: Die russische Gesellschaft ist äußerst homogen: Sie hält sich in einem einheitlichen, vom Fernsehen geschaffenen Informationsraum auf und zeigt nur geringfügige Unterschiede, was Herkunft und Bildung angeht. Es gibt kaum eine Aufteilung in Gesellschaftsschichten, die sich politisch unterschiedlich verhalten würden.

Eine Ausnahme bildet die sogenannte Moskauer Bildungsschicht – das ist ein recht überschaubarer Bevölkerungsanteil, der in Moskau, St. Petersburg und ein paar anderen Städten existiert und dort unterschiedlich groß ist. Ansonsten unterscheiden sich nicht einmal die ärmsten Stadtbezirke stark genug von den mittelreichen, als dass sich der Unterschied im Wahlverhalten niederschlagen würde – Ghettos gibt es hier nicht.

Man kann nur einige wenige Wahlbezirke ausmachen, wo die Menschen ganz anders wählen. Zum Beispiel im Hauptgebäude der MGU oder im Wohnkomplex Grand Park an der Metro Poleshajewskaja, wo Prochorow [bei der Präsidentschaftswahl - dek] 2012 die meisten Stimmen bekam. Aus diesen Gründen schwankt auch die Wahlbeteiligung nur geringfügig. Sogar zwischen städtischen und ländlichen Gebieten einer Region gibt es kaum Unterschiede.

Was passiert nun, wenn wir die Wahlen fälschen, das Ergebnis zugunsten eines bestimmten Kandidaten verschieben wollen? Ich könnte einfach seine Stimmenzahl erhöhen – zum Beispiel hole ich Menschen ran und sage ihnen, sie sollen ihn wählen. Allerdings lässt sich nur schwer überprüfen, was sie dann tatsächlich tun. Ich kann auch einfach von der Wahlkommission verlangen, die Zahlen zu fälschen: Einem Kandidaten die Stimmen wegnehmen und sie einem anderen zurechnen, doch das geschieht selten.

Das allereinfachste ist, einen Stapel Stimmzettel in die Urne zu werfen, so steigt auch die Wahlbeteiligung: Je mehr Stimmzettel eingeworfen werden, desto höher wird sie. In diesen Wahlbezirk sehen wir dann eine hohe Stimmenzahl für einen Kandidaten und nur ein paar Stimmen für die Opposition. Ohne solch ein Auffüllen von Wahlzetteln ist das Stimmverhältnis in allen Wahlbezirken mehr oder weniger ähnlich, wenn wir aber zusätzliche Stimmzettel einwerfen, steigen die Zahlen von einer Partei. Im gegebenen Fall von Einiges Russland.

Wie sah es denn mit der Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen aus?

Ich schlüssele alle Wahlbezirke nach Wahlbeteiligung auf, sehe mir an, wie viele Stimmen pro Intervall [pro Prozentpunkt Wahlbeteiligung – dek] für jeden Kandidaten abgegeben wurden und erstelle dann Histogramme.

 


Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

Nimmt man alle Wahlbezirke zusammen, wurden insgesamt die meisten Stimmen in denjenigen abgegeben, in denen die Wahlbeteiligung bei durchschnittlich 36 Prozent lag, sprich,  immer so zwischen 25 und 40 Prozent. Wahrscheinlich war in diesen Wahlbezirken alles in Ordnung. Und alles, was über diese Grenzen hinausschießt, sieht exakt so aus, als hätte jemand einfach Stimmen für Einiges Russland hinzugefügt. Denn wenn Menschen abstimmen, ergeben sich eigentlich zufällige Zahlen, die Verteilungskurve verläuft fließend.

Verschiebe ich nun die Zahlen in einzelnen Wahlbezirken, bekomme ich statt einer fließenden Verteilung eine sägezahnförmige Figur – 2011 wurde das Phänomen als Tschurow-Bart bezeichnet. Verdächtig sind vor allem Bezirke mit einer Wahlbeteiligung von 50, 60 oder 75 Prozent. Solch schöne Zahlen ergeben sich so gut wie nie zufällig.

Wenn die Wahlbeteiligung in einem Wahlbezirk bei 95 Prozent liegt, ist das höchstwahrscheinlich eine Fälschung. So etwas kommt in Großstädten nicht vor. Die Fälschungen finden auf dem Weg von der Stimmabgabe bis zum Eintrag in das GAS-Wahlen-System statt.

In welchen Regionen gab es denn die meisten Auffälligkeiten bei der Wahlbeteiligung?

In Tatarstan, Baschkortostan, in den Republiken des Nordkaukasus, mit Ausnahme von Adygeja, in der von allen geliebten Oblast Saratow, in Belgorod und Brjansk. Dort gab es die meisten Bezirke mit einer auffällig hohen Wahlbeteiligung und hohen Ergebnissen für Einiges Russland.

 


Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

Im Nordwesten und nördlich von Moskau passiert das in der Regel selten. In Sibirien stehen die Dinge nur in Jakutien, Kemerowo und Tjumen schlecht, teilweise auch in Omsk. Besonders auffällig war diesmal die Oblast Woronesh: Dort gab es eine riesige Anzahl von Wahlbezirken mit einer Beteiligung von 80 bis 100 Prozent.

Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind

Auf der Krim und in Sewastopol wurde meines Erachtens fair ausgezählt. Dort war die Wahlbeteiligung hoch, doch die Verteilung folgt durchaus einem städtischen Muster und ähnelt sehr der von Moskau.

Können Sprünge in den Zahlen nicht auch natürlich sein? Es sind einfach mehr Leute gekommen, um zu wählen?

Dann würde sich die gesamte Grafik verschieben – so wie im Fall von der Oblast Kirow oder der Oblast Kursk – aber nicht einzelne Teile. Sie würde einfach insgesamt höher liegen.

Ähnelt die Situation der von 2011?

Auf der Website der Zentralen Wahlkommission gibt es Daten zu allen Wahlen seit 1999. Und je weiter wir zurückgehen, desto mehr ähnelt die Stimmverteilung einer glockenförmigen Kurve, die man auch die Gauß-Kurve nennt – also einer Normalverteilung.

Von Anfang 1999 bis 2005 wich die Wahlbeteiligung in allen Moskauer Bezirken nie um mehr als 5 Prozent vom Durchschnittswert der Stadt ab.  

2008 musste die Moskauer Regierung wohl unbedingt ihre Loyalität mit Dimitri Medwedew demonstrieren – da klaffte die Wahlbeteiligung weit auseinander, sogar in  benachbarten Bezirken. Das wiederholte sich 2009 bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, als es in dem Bezirk, wo Mitrochin selbst gewählt hat, keine einzige Stimme für Jabloko gab. Dann folgte der Skandal bei den Dumawahlen 2011: Als Einiges Russland beispielsweise im Moskauer Bezirk Ramenki in ein und demselben Wohnkomplex in der einen Hälfte 28 Prozent bekam und in der anderen 58 Prozent. Es kam zum Skandal, zu Protesten und so weiter und so fort, also hat man 2012 die Fälschungsmaschine in Moskau drastisch gedrosselt. Die Wahlbeteiligung lag wieder bei Normalwerten. Normalwerte gab es auch bei der Bürgermeisterwahl 2013.

 


Für die Stadt Moskau hat Schpilkin in diesem Jahr keine extremen Unregelmäßigkeiten festgestellt. / Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

Ich habe im Vorfeld vermutet, dass diese Wahlen entweder dem Szenario von 2003 (den fairsten Wahlen, zu denen uns Daten vorliegen) oder dem Szenario der Wahlen von 2011 (den unfairsten) folgen würden.

Von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wurde die schlechteste gewählt. Beziehungsweise wurde sie gar nicht gewählt – die Maschine ist längst in Gang und läuft von selbst. Um sie zu stoppen, müsste man ihr lange auf die Finger hauen.

Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind. Und im Gegensatz zu 2011 fehlen diesmal auf der Gewinnerliste neue Gesichter – seinerzeit war Gerechtes Russland auf der Bildfläche erschienen.

Besonders niedrig war die Wahlbeteiligung in Moskau und in Sankt Petersburg (35,2 und 32,7 Prozent). Wie wichtig ist das?

Vor zehn Jahren lag die Wahlbeteiligung in Moskau bei 56 Prozent. Das heißt, dass die Stimme eines Moskauers diesmal doppelt so viel zählte und sogar eine kleine Zahl von Anhängern der Demokraten hätte ihren Kandidaten in die Duma bringen können. Momentan beträgt der Anteil von Staatsangestellten und Rentnern zehn Prozent – was ausreicht, um einen beliebigen Kandidaten ins Amt zu bringen. Bei so einer Wahlbeteiligung entscheiden sie alles. Bekanntlich fehlten Nawalny für die zweite Runde 35.000 Stimmen. Wären mehr Menschen gekommen, hätte es eine zweite Runde gegeben. Es könnte also sein, dass die Großstädte gewisse Chancen ungenutzt gelassen haben.

Wie würden Ihren Berechnungen zufolge die tatsächlichen Wahlergebnisse aussehen?

Für Einiges Russland wurden 28 Millionen Stimmen abgegeben, davon wurden nach meinen Berechnungen 12 Millionen künstlich aufgestockt. Das bedeutet, dass 45 Prozent der Stimmen für Einiges Russland gefälscht sind, was einem Anteil von etwa 11 Prozent aller Wahlberechtigten entspricht. Das bedeutet, dass wir statt der offiziellen Wahlbeteiligung von 47,8 Prozent eine Beteiligung von 36,5 Prozent haben. Statt der 54 Prozent für Einiges Russland ergeben sich 40 Prozent. Aus politischer Sicht ist das ein ziemlich wichtiges Ergebnis: 15 Prozent aller Wahlberechtigten haben demnach die Partei unterstützt. Mit diesen realen 15 Prozent (und – wenn man mit den aufgestockten Stimmen rechnet – mit den offiziell ausgewiesenen 27 Prozent) werden sie nun irgendwie leben müssen.


„Wir glauben Gauß!“ – Für Demonstranten im Jahr 2011 war es ein starkes Argument, auf die Straße zu gehen: die gezackte Statistik, die der Physiker Schpilkin aus den Daten gewann. Sie deutete auf Unregelmäßigkeiten bei den Wahlergebnissen hin / Foto © politonline.ru

Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (ZIK)

Die Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (russisch: Zentralnaja Isbiratelnaja Komissija Rossiskoi Federazii, kurz: ZIK) sollte eigentlich ein ziemlich unauffälliges Verwaltungsorgan sein, das sich mit der Organisation und Durchführung der Wahlen in Russland befasst. Nachdem Präsident Medwedew den ZIK-Vorsitzenden Wladimir Tschurow für die Genauigkeit seiner Prognosen als „Zauberer“ bezeichnet hatte, wurde die ZIK im Jahr 2011 jedoch schlagartig berühmt. Für die Opposition repräsentierte sie im Zuge der damaligen Dumawahl ein System organisierter Wahlfälschung. Tschurow wurde zum Gesicht der ZIK und galt als jemand, der die vorab bestellten Ergebnisse „herbeizaubert“. Obgleich organisierte Wahlfälschungen der ZIK selbst nicht nachgewiesen wurden, kann die Kommission  insofern zur Verantwortung gezogen werden, weil sie kein ernsthaftes Ermittlungsverfahren zur Untersuchung von Wahlfälschungsvorwürfen einleitete.

Im März 2016 jedoch zeichnete sich plötzlich eine Weichenstellung ab: Überraschend wechselte die bisherige Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa an die Spitze der ZIK. Sie führte im Vorfeld der Dumawahl 2016 einzelne Reformen durch, die mehr politische Konkurrenz ermöglichen könnten.

Das organisatorische Prinzip der ZIK ist simpel: von den fünfzehn Mitgliedern werden jeweils fünf von den beiden Parlamentskammern und dem Präsidenten benannt, dann wählen diese unter sich einen Vorsitzenden für fünf Jahre. Laut Statut bereitet die ZIK Wahlen auf  Bundesebene vor, sie leitet und koordiniert die Arbeit der regionalen Wahlkommissionen, führt in Zusammenarbeit mit ihnen Wahlen durch und kontrolliert diese gemäß Verfassung auf Unregelmäßigkeiten1.

Anders als oft suggeriert, hat die Kommission selbst keinen Einfluss auf die Wahlergebnisse, sie kann weder fälschen noch Fälschungen vorbeugen. Was sie aber tun kann, ist ein Verfahren gegen gemeldete Unregelmäßigkeiten einzuleiten, an dessen Ende auch die Annullierung der Wahlergebnisse stehen kann. Eigentlich.

Politisierte Bürokratie

Die Wahlkommission wurde in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert: Die oppositionellen Kräfte verwiesen auf die Politisierung des Verwaltungsorgans, das Wahlprozesse gestalte und sie auf angestrebte Ergebnisse zuschneide. Sogar die Kommunistische Partei der Russischen Föderation nannte sie bereits 2004 „Ministerium für Wahlen“.2 Die Kritik kulminierte dann aber vor dem Hintergrund der Dumawahl 2011 und der Präsidentschaftswahl 2012. Sie konzentrierte sich vor allem auf das Gesicht der ZIK: ihren Vorsitzenden Wladimir Tschurow. Tschurow, der als ein Vertrauter von Wladimir Putin gilt und die Wahlkommission zwischen 2007 und 2016 leitete, wurde zum Inbegriff der Wahlfälschung.

Der Zauberer von ZIK

„Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Präsident Dimitri Medwedew den ZIK-Vorsitzenden Tschurow für seine Prognose zur Dumawahl 2011, nachdem dieser bemerkt hatte, dass sie näher am Endergebnis lag, als die Prognosen von zehn Meinungsforschungsinstituten.3 Aus dem Zusammenhang gerissen wurde das Lob zum Spott, denn geblieben ist nur der „Zauberer“, der die gewünschten Wahlergebnisse „herbeizaubert“.

„Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Dimitri Medwedew 2011 den damaligen Leiter der Wahlkommission Wladimir Tschurow / Bild über rosbalt.ruSo wurde Tschurow zu einer Zielscheibe der anschließenden Proteste, bei denen eine Untersuchung der Wahlfälschungsvorwürfe gefordert wurde. Tschurows politische Nähe zu Wladimir Putin, die er einstmals mit „Putin hat immer Recht“ bekundet hatte4, befeuerte den Hohn. Genauso wie auch eine  Infografik des TV-Senders Rossija 24, die sich auf die Daten der ZIK berief, als sie die Wahlbeteiligung in der Rostow-Region auf 146 Prozent bezifferte. Tschurow meinte, wer auch immer die Infografik vorbereitet habe, sei  „aus Übersee“ gut entlohnt worden.5 Gemeint waren wohl die USA.

Nur ein Sündenbock?

Tschurow bot der Opposition also eine ideale Angriffsfläche, die sprachliche Neuprägung Tschurowschina wurde alsbald zum Synonym für Wahlfälschungen – und die ZIK selbst zum Inbegriff für die Erosion der politischen Konkurrenz.

Organisierte Wahlfälschungen wurden der ZIK selbst nicht nachgewiesen, sie erfolgten indes vor allem auf der Ebene der Wahlbezirke und -kreise – und hier hauptsächlich in Form sogenannter Karusselle oder Kreuzfahrten. Allerdings ist die ZIK solchen Hinweisen nur halbherzig nachgegangen, eine ernsthafte Untersuchung der Vorwürfe fand nicht statt. Tschurow, der selbst offenbar keine Wahlen fälschte, konnte also nur deshalb als „oberster Wahlfälscher des Landes“6 bezeichnet werden, weil er vordergründig ein System repräsentierte, das politische Konkurrenz zu verhindern suchte.  

Eine Wahlbeteiligung von sagenhaften 146 Prozent – Rossija 24 zeigt Zahlen der ZIK / Bild über You Tube

Nur ein Feigenblatt?

Eine Reformbestrebung konnte man die einzelnen zaghaften Versuche seit 2012, etwas mehr politische Konkurrenz zuzulassen, noch nicht nennen. Diese hat sich erst durch den überraschenden Abgang Tschurows abgezeichnet – fünfeinhalb Monate vor der Dumawahl 2016.

Zur neuen Vorsitzenden wurde auf Vorschlag des Präsidenten Ella Pamfilowa gewählt. Die bisherige Menschenrechtsbeauftragte gilt als lautstarke Kritikerin der politischen Ordnung Russlands. In den ersten Monaten ihrer Tätigkeit hat Pamfilowa drei – mutmaßlich in Fälschungen verwickelte – Vorsitzende untergeordneter Wahlkommissionen zum Rücktritt bewegt.7 Sie brachte die Chuzpe auf, einflussreiche Gouverneure zu kritisieren und riet allen Oberhäuptern der Föderationssubjekte, auf den Einsatz der Administrativen Ressource zu verzichten.8 Pamfilowa arbeitet eng mit Golos zusammen – einer NGO, die Wahlbeobachtungen durchführt und als ausländischer Agent Diffamierungskampagnen seitens staatsnaher Medien ausgesetzt ist.9 

Trotz aller Reformbestrebungen ist es im Vorfeld der Dumawahl 2016 noch allzu verfrüht, von echter politischer Konkurrenz zu sprechen. Als Zauberkiste des Kreml allerdings kann die ZIK schon nicht mehr herhalten.


1.zikrf.ru: Organizacionnye osnovy dejatel’nosti Central’noj izbiratel’noj komissii Rossijskoj Federacii
2.rosbalt.ru: Zakon ‘O Referendume’ podtverždaet prevraščenie CIK v ministerstvo vyborov, sčitajut v KPRF
3.kremlin.ru: Vstreča s Predsedatelem Central’noj izbiratel’noj komissii Vladimirom Čurovym
4.Kommersant: „Razve Putin možet byt’ ne prav?“
5.Ria Novosti: „Čurov: istorija s javkoj v 146% na vyborach byla provokatsiej iz-za okeana“
6.Die Zeit: Porträt: Wahlleiter Wladimir Tschurow
7.rbc.ru: CIK predložil glave novgorodskogo regional’nogo izbirkoma ujti v otstavku
8.rbc.ru: CIK protiv gubernatora und Vedomosti: Centrizbirkom vernul „Jabloko“ na novgorodskie vybory
9.NTV: Kto i začem finansiruet „Golos“: rassledovanie NTV

Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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Staatsduma

Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

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Präsidialadministration

Die Präsidialadministration (PA) ist ein Staatsorgan, das die Tätigkeit des Präsidenten sicherstellt und die Implementierung seiner Anweisungen kontrolliert. Sie ist mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattet und macht ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch in der politischen Praxis geltend.

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Administrative Ressource

Präsentkorb mit Nahrungsmitteln, plötzliche polizeiliche Ermittlungen oder gar Parteigründungen auf Initiative des Kreml – all dies sind verschiedene Facetten der sogenannten Administrativen Ressource in Russland. Bei dieser Art von Amtsbonus halten sich alle an die Regeln – zumindest formal.

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Dimitri Medwedew

Dimitri Medwedew ist seit Januar 2020 stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates. Er war von 2012 bis 2020 Premierminister und bekleidete von 2008 bis 2012 das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation. Medwedew gehört zu den engsten Vertrauten von Präsident Putin und nimmt, nicht zuletzt als Vorsitzender der Regierungspartei Einiges Russland, eine wichtige Rolle im politischen Systems Russlands ein.

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Dimitri Peskow

Dimitri Peskow ist seit dem Machtantritt Putins für dessen Pressearbeit zuständig und gilt als offizielles Sprachrohr des Kreml. Üblicherweise für die Krisen-PR verantwortlich, sorgte er mehrfach selbst für negative Schlagzeigen, unter anderem im Rahmen der Panama Papers.

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Russische Wirtschaftskrise 2015/16

Die Wirtschaftskrise im Herbst 2014 hatte Russland ökonomisch vor eine unsichere Zukunft gestellt. Drei unabhängige Entwicklungen setzten die russische Wirtschaft gleichzeitig unter Druck: der Einbruch des Ölpreises, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sowie strukturelle Probleme, das heißt fehlende Anreize zu Investitionen und zur Steigerung der Produktivität. Erst mit der Erholung des Ölpreises 2017 kam es wieder zu einem leichten Wirtschaftswachstum.

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Ella Pamfilowa

Ella Pamfilowa sitzt seit ihrem Amtsantritt als Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Russlands im März 2016  zwischen den Stühlen. Einerseits kritisiert sie oft harsch die politische Situation in Russland. Andererseits wird ihre Zusammenarbeit mit dem Staat als liberal-demokratisches Feigenblatt kritisiert. Alexander Graef erläutert diese Zwickmühle.

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