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„ … sonst bleibt nur der Revolver“

Yevgenia Markovna Albats gilt als eine der Grandes Dames des russischen Journalismus. Wohl auch deswegen ist die Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times regelmäßig beim Radiosender Echo Moskwy in der Sendung Ossoboje Mnenije (dt. „Besondere Meinung“)  zu Gast.

Bei diesem interaktiven Format bekommen die Zuhörer Gelegenheit, eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Video-Livestream aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht.

Im Gespräch mit Moderatorin Tatjana Felgengauer, der stellvertretenden Chefredakteurin von Echo Moskwy, spricht Albats über die bevorstehende Dumawahl und darüber, ob es sich überhaupt lohnt, wählen zu gehen.

Quelle Echo Moskwy

Yevgenia Albats – die Grande Dame des russischen Journalismus –  im Interview bei „Echo Moskwy“ / Foto © Anatoli Strunin/ITAR-TASS

Tatjana Felgengauer: Willkommen zu unserer Sendung Besondere Meinung. Mein Name ist Tatjana Felgengauer, und ich freue mich, die Chefredakteurin der Wochenzeitung The New Times im Studio zu begrüßen: Guten Tag, Yevgenia Markovna.

Yevgenia Albats: Hallo allerseits.

Die WGTRK sendet die ersten Wahlkampfdebatten, sechs Parteien, darunter PARNAS, Jabloko und die neue Partei des Wachstums, nehmen teil. Interessiert das überhaupt irgendjemanden?

Nun ja, ich werde das gucken, aber ich bin ja ein klassischer Politikjunkie. Ich finde Politik spannend. Sogar in der Form, in der sie derzeit gemacht wird, interessiert sie mich immer noch.

Irgendwelche Erwartungen, Vorlieben?

Nein, gar nicht. Ich erwarte mir nichts. Dass die Partei Jabloko in ihrem Programm von der Annexion der Krim schreibt, macht mich neugierig. Eigentlich ist das die einzige politische Partei, die damit in die Wahlen geht. Das ist etwas Besonderes. Dass nämlich dieser Standpunkt, den eine bestimmte Anzahl der Einwohner Russlands vertritt, immerhin von einer Partei formuliert wird.

Und abgesehen von Ihnen, was denken Sie, wie weit kann das überhaupt den Wähler interessieren?

Ich glaube, dass das den Wähler durchaus interessieren kann, in geringem Ausmaß. Es wird ja eigentlich alles dafür getan, dass man möglichst wenig darüber spricht.

Für mich ist ganz offensichtlich, dass sich die staatlichen Sender, die staatlichen Medien um eine Senkung der Wahlbeteiligung bemühen.

Die Regierung will die Wahlbeteiligung möglichst niedrig halten, das ist nämlich gerade für ihre Partei sehr günstig, wenn man so sagen will.

Na, und weiter werden wir schon sehen. Wozu jetzt herumrаten?

Wir sehen aber, wie die Zentrale Wahlkommission (ZIK) unter ihrer neuen Leiterin Ella Pamfilowa agiert: In einer der Regionen hat sie sich für Jabloko eingesetzt. Macht das ein bisschen Hoffnung?

Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Regierung aus den Ereignissen vom Herbst/Winter 2011 ein paar Lehren gezogen hat. Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt. Wenn man bedenkt, dass die Leute im Sommer entweder auf der Datscha sind oder irgendwo im Urlaub, weit weg von Moskau, dann bleiben vom ganzen Wahlkampf im September keine vier Wochen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Wahlen davor Anfang Dezember.

In diesem Sinne tut die Regierung alles dafür, dass sich die Leute bloß nicht aufregen. Deswegen Pamfilowa. Hauptsache, nicht Tschurow, nicht wahr?

Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt

Sie ist kein Tschurow, ohne Frage. Und Ella ist eine, die in der Politik nicht neu ist, und sie nimmt ihren eigenen Ruf ernst. Daher setzt sie natürlich alles daran, dass es möglichst wenig Skandale gibt.   

Wie weit sie es dann schafft, mit den territorialen Wahlkommissionen (TIK) zurechtzukommen ... Wir wissen ja, wie das läuft, nicht? Die Leute wählen, dann wird das alles in den TIK zusammengeführt, und dort fangen sie an, mit den Zahlen zu tricksen. Aber ich glaube, die ganz exotischen Dinge wird die Regierung zu vermeiden versuchen. Vor allem in den Großstädten, wo es die meisten Protestwähler gibt, wird die Regierung alles tun, um große Skandale zu verhindern.

Dass die sogenannte Liste Chodorkowski zugelassen wurde, 18 von 19 Personen, praktisch alle – war das auch, damit es möglichst ruhig bleibt?

Die Losung einer namhaften amerikanischen Revolution war „no taxation without representation“. Die Leute wollen wenigstens von irgendwem repräsentiert werden. Wohl wissend, dass in den Städten ein erheblicher Prozentsatz von Protestwählern lebt (Demokraten, Liberale), lässt die Regierung deswegen jene, die bis zu einem gewissen Grad die Ansichten dieser Leute vertreten, immerhin kandidieren. Ich glaube, genau deswegen wurden die registriert, die für Offenes Russland antreten.

Bemerkenswert ist der Fall von Mascha Baronowa, die Unterschriften sammeln musste, bei denen eine Fehlerquote von nur 2,5 Prozent festgestellt wurde. Das ist wirklich wenig. Aber wir wissen ja noch, wie das bei den letzten Regionalwahlen in Kostroma war, als Ilja Jaschin aufgestellt wurde, nicht? Die Aufgabenstellung war ja klar. Es ging ganz einfach darum, zu zeigen: Bitteschön, sie sind angetreten, und geschafft haben sie mickrige zwei Prozent.  

Ist die Aufgabe jetzt eine andere?

Ich glaube, es ist ungefähr dieselbe. Vergessen Sie außerdem nicht, dass in Zentralrussland, in Moskau, eben ein Kandidat von PARNAS, der Historiker Andrej Subow, gegen Maria Baronowa antritt, die für Michail Chodorkowski kandidiert.

Die Demokraten haben immer noch eine komplett feudale Vorstellung von Politik     

Wir haben sie übrigens bei uns in der Redaktion, bei den Debatten, schon gefragt, ob sie sich nicht zusammentun wollen. Und ich war absolut verblüfft, dass, obwohl es auch so schon keine Plattform zum Ankurbeln einer Kampagne und dergleichen gibt, einer der Kandidaten (ich sage nicht, wer) abgelehnt hat: „Nein, sicher nicht“.

Ja, was soll denn das?! Das zeigt doch, dass die Demokraten immer noch komplett feudale Vorstellungen von Politik haben.     

Genau, merkwürdigerweise lernt die Regierung dazu, denkt sich irgendwelche neuen Tricks aus. Während das demokratische Lager immer dasselbe macht, immer wieder dasselbe. So wie immer alle gestritten haben, so streiten sie auch weiterhin, unverändert.

Nun, wahrscheinlich ist das eine Frage der politischen Kultur. Wahrscheinlich hängt das auch noch mit dieser starken Zerrissenheit der demokratischen Kräfte zusammen. Mit dem gegenseitigen Misstrauen. Wobei, sehen Sie mal, Dimitri Gudkow führt genau dieselbe Kampagne wie 2013 Alexej Nawalny. Er versucht, Leute zu treffen und mit ihnen zu reden.

Ich nehme an, Dimitri hat von ihm gelernt und weiß, dass man auf jeden Fall, worum auch immer es geht, vor allem das Vertrauen der Wähler gewinnen muss. Das versucht er zu tun. Schauen wir mal, wie sich die übrigen Kandidaten des demokratischen Lagers verhalten werden. 

Also, „no taxation without representation“, das ist ganz wichtig. Dieses Problem mit der Vertretung gab es ja schon in den Staatsdumas der Zarenzeit. Und einer der Gründe, warum die Revolution von 1917 stattfand, hing genau damit zusammen, dass die Staatsduma als Repräsentationsform die größte Klasse des Landes, die Bauern, und die zweitgrößte, die Arbeiterklasse, sehr schlecht vertrat. 

Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist

Und deswegen stellte die Duma dieser Legislaturperiode, die Gott sei Dank jetzt zu Ende ging, eine kolossale Bedrohung für die Stabilität und die Staatsmacht dar, weil sie überhaupt niemanden repräsentierte außer, was weiß ich, die Präsidialverwaltung oder den Sicherheitssausschuss, wie ihn Jarowaja mit all diesen bescheuerten Gesetzen und dergleichen vertritt.

Das ist wichtig! Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist. Das liegt daran, dass bei uns in der Sowjetzeit die Politik hyperinstitutionalisiert war: Alles floss in einer gelenkten Bahn, die KPdSU hieß. KPdSU – das war eine Staatsform, aber es war auch eine Bahn, innerhalb derer verschiedene Interessengruppen erlaubt waren. Und außerhalb dieser Bahn gab es nichts. Deswegen hatten die Dissidenten eigentlich keinerlei Einfluss im Land.   

Nun, damit antworten Sie schon auf die Frage unseres Hörers Ilja, der wissen möchte: „Was meinen Sie, falls die Opposition den Einzug in die Duma schafft, kann sie dann etwas ausrichten? Und warum sind Straßendemos als Form der Meinungsäußerung endgültig in Vergessenheit geraten?“ 

Also erstens, ja, kann sie. Ich erinnere Sie nochmal daran, dass zum Beispiel Dimitri Gudkow der einzige Abgeordnete der Duma war, der immer wieder gegen diese Neandertaler-Gesetze protestierte, die von der Duma beschlossen wurden. Er war allein. Gudkow hat uns gezeigt, was einer allein alles erreichen kann. Insofern hat das tatsächlich Gewicht. Denken Sie nur an den berühmten Italienischen Streik, den die zwei Gudkows und Ilja Ponomarjow angеzettelt hatten.

Den Menschen ist klar: auf die Straße heißt ins Gefängnis

Die Erfahrung des Widerstands ist eine sehr wichtige Erfahrung. Und gerade in unserem Land, das viele Jahrhunderte hindurch unter strengen Regimen lebte (egal, ob im absolutistischen Zarenreich oder unter dem totalitären Sowjetregime), ist es sehr wichtig, sich dieses Erlebnis des Widerstands zu erarbeiten, bis der Widerstand zur Institution wird, zu einer Lebensregel, nicht? Bis es absolut normal wird, sich unredlichen Gesetzen, unredlicher Macht, unredlichen Entscheidungen und dergleichen zu widersetzen.

Was die Straßendemos betrifft, sehen wir doch der Realität ins Auge. Die Regierung hat seit den Ereignissen vom Mai 2012 wirklich alles daran gesetzt, dass den Menschen klar ist: Auf die Straße heißt ins Gefängnis. Deswegen wurde ja auch Dadin inhaftiert, für seine Ein-Mann-Demos. Zweifellos ist die repressive Komponente des Regimes äußerst bedenklich angewachsen. Die Regierung verfügt über die repressivste Einrichtung der Sowjetunion, den KGB. Ältere Leute wie ich, wir wissen einfach ganz genau, was das ist. Und der Nachwuchs hat während der Bolotnaja-Prozesse eine gründliche Lektion erteilt bekommen.

Man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen

Soll man wählen gehen?        

Wissen Sie, meine Meinung ist, man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Man soll nach den eigenen Regeln spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen.

In unserem Fall, auch wenn die Parteien oder Kandidaten, die Ihre Interessen vertreten, nicht auf dem Stimmzettel stehen, sollte die Regel in Kraft treten „Für jede beliebige Partei außer …“. Dieses Motto, das von Alexej Nawalny stammt, und das Verfahren, das 2011 erfunden wurde, das hat recht gut funktioniert. Allerdings finde ich, also zumindest in Zentralrussland gibt es gewisse Auswahlmöglichkeiten, nicht? Und vor allem muss einem klar sein, dass sich die Regierung, dass sich Einiges Russland, eine niedrige Wahlbeteiligung wünscht. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen.

Die Regierung wünscht sich eine niedrige Wahlbeteiligung. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen

Wissen Sie, die Hauptsache ist ... Also, die Griechen haben ja nicht zufällig jene, die außerhalb der Gesellschaft standen, idiotos genannt, nicht wahr? Idioten. Um aber von der Regierung etwas fordern zu können, muss man leider trotz allem mit ihr in Verhandlungen treten, sonst bleibt einem nur der Revolver. Wahlen sind so etwas wie Verhandlungen, sind gewaltfreie Gespräche mit dieser Regierung, die bei mir keinerlei positive Emotionen hervorruft. Und deswegen glaube ich, ja, man soll wählen gehen.  

Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats.

Danke.

Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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Staatsduma

Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

Russlands Parlament, die Föderale Versammlung, ist in zwei Kammern organisiert. Als Oberhaus vertritt der Föderationsrat die Regionen. Das Unterhaus wird als Staatsduma (Gosudarstwennaja Duma) bezeichnet. Die Namensgebung weist auf die historische Vorgängerin hin, die von 1905 bis zur Oktoberrevolution 1917 als Staatsduma des Russischen Imperiums tagte.

In drei Schritten zur Dominanz der Exekutive

Am 12. Dezember 1993 fanden die Wahlen zur ersten postsowjetischen Duma und gleichzeitig das Referendum über die Verfassung der Russischen Föderation statt. Dies war die endgültige Abkehr vom Obersten Rat und damit vom Sowjetparlamentarismus, der keine Gewaltenteilung kannte.

Die Beziehungen im Dreieck zwischen Präsident, Regierung und Duma lassen sich in drei Phasen einteilen. Sie unterscheiden sich  im Hinblick darauf, inwieweit der Präsident durch parlamentarische Fraktionen und Gruppen unterstützt wird: 1994 bis 1999 waren die pro-präsidentiellen Parteien in der Minderheit, 2000 bis 2003 konnte Putin eine Koalition aus vier Fraktionen schmieden, seit 2004 dominiert Einiges Russland die Duma.1

Grafik 1: Fraktionen und Gruppen in den Legislaturperioden I bis VI (1994-2016)2

Die gesamte erste Phase, und auch Teile der zweiten, waren durch ein schwach institutionalisiertes Parteiensystem3 gekennzeichnet: Den pro-präsidentiellen Parteien der Macht standen eine Vielzahl anderer Fraktionen und Gruppen gegenüber. In der zweiten Duma stellten die Kommunisten gar die meisten Abgeordneten (s. Grafik 1). Dennoch regierte Jelzin nicht einfach mit Präsidialerlassen am Parlament vorbei, sondern handelte Unterstützung für Gesetzesvorhaben aus, in dem er beispielsweise im Gegenzug bestimmten Interessensgruppen bei der Haushaltsplanung entgegenkam4.

Mit den Parlamentswahlen von 1999 änderte sich das Bild. Die neu kreierte Regierungspartei Einheit erlangte zwar nur knapp 17 Prozent der Mandate, zusammen mit drei weiteren Fraktionen setzte sie jedoch die von Präsident und Regierung eingebrachten Gesetze weitgehend um. Mit den Wahlerfolgen der Einheit-Nachfolgerin Einiges Russland in den Jahren 2003 und 2007 wurde in Phase drei der Übergang zu einem dominanten Parteiensystem mit einem Parlament, das weitgehend von der Exekutive bestimmt wird, vollzogen. Die Politikwissenschaftlerin Petra Stykow spricht daher bei der Staatsduma von einer „institutionalisierten, autoritären Legislative“.5

Auswirkungen auf die Funktionen des Parlaments

Die Ausübung der verfassungsmäßig garantierten Kernfunktionen fällt in den drei Phasen entsprechend unterschiedlich aus.

Erstens: Die Ernennung des Regierungschefs. Im Unterschied zu vergleichbaren politischen Systemen werden in Russland Regierungsposten nicht an parlamentarische Parteien vergeben6, sondern Präsidenten bestellen Technokratenregierungen. Allerdings muss die Duma zustimmen, wenn der neugewählte Präsident den Regierungschef ernennt. Während Jelzin noch zu Eingeständnissen gezwungen war (zur Auflösung der Duma nach der dritten Ablehnung kam es allerdings nie), wurden Putins Ministerpräsidenten ausnahmslos mit deutlichen Mehrheiten bestätigt.

Zweitens: Misstrauensvoten gegen die Regierung. Abstimmungen wurden 1994, 1995, 2001, 2003 und 2005 lanciert. Lediglich 1995 nach der Geiselnahme in Budjonnowsk kam eine Mehrheit von 241 Stimmen zustande – allerdings gestattet es die Verfassung auch hier dem Präsidenten, das Misstrauensvotum zu ignorieren. Die Duma kann außerdem ein komplexes Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten einleiten, sollte der Verdacht bestehen, dass sich der Präsident einer schweren Straftat schuldig gemacht hat. 1998 lancierte die Fraktion der Kommunisten ein solches Verfahren gegen Jelzin, jedoch fand keiner der fünf zur Abstimmung gebrachten Anklagepunkte die nötige Zweidrittel-Mehrheit für die Weiterleitung an den Föderationsrat und das Verfassungsgericht.

Drittens: Die Gesetzgebung, das Hoheitsrecht der Duma. Grafik 2 veranschaulicht, dass zwischen 1994 und 1999 die Hälfte bis ein Drittel der von Präsident und Regierung initiierten Gesetzesentwürfe nicht die Unterstützung der Duma fanden. Mit dem Siegeszug von Einiges Russland ändert sich das Bild: Exekutive Gesetzesentwürfe scheitern nur noch in Ausnahmefällen. Umgekehrt verhält es sich mit präsidentiellen Vetos: In den 1990er Jahren legte Jelzin durchschnittlich gegen 15 bis 25 Prozent der Gesetze, die von der Staatsduma verabschiedet wurden, Widerspruch ein. Unter Putin starb das Veto im Laufe der Zeit aus.
 

 


Grafik 2: Erfolgsrate von Präsident und Regierung in der Duma, Quelle: Autor

 

 


Grafik 3: Veto russischer Präsidenten, Quelle: Autor

Allgemein lässt sich festhalten, dass sich mit dem Übergang in die Putin-Ära die Abwesenheit von Abgeordneten bei Abstimmungen verringert und die Fraktionsdisziplin erhöht hat. Auch die Anzahl der Gesetze und die Geschwindigkeit, mit der diese verabschiedet werden, hat sich gesteigert.

Die Duma als Faktor der Regimestabilität

In den Medien kursiert der angebliche Ausspruch des ehemaligen Vorsitzenden Boris Gryzlov, dass die Duma „kein Ort für Diskussionen“7 sei. Der Volksmund sieht in ihr gar einen „durchgedrehten Drucker“, der Gesetze am laufenden Band ausspuckt. Als „autoritäre, institutionalisierte Legislative“ kann die Duma nicht mehr ihrer horizontalen Kontrollfunktion8 gegenüber Präsident und Regierung nachkommen. Dies macht die Kammer jedoch nicht bedeutungslos, denn bürokratische Verteilungskämpfe um Ressourcen innerhalb der Exekutive werden auch in und mit der Duma ausgetragen9. Wenn Ministerien etwa um Ressourcen konkurrieren, können diesen loyal gesinnte Abgeordnete Gesetze verzögern oder Änderungen beantragen.

Nach den Protesten 2011/2012 wies die Gesetzgebung vor allem in den Bereichen Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einen zunehmend repressiven Charakter auf. Ein Beispiel dafür ist das Gesetz über ausländische Agenten10. Mit anhaltender Wirtschaftskrise nehmen außerdem Gesetze überhand, die über Steuern und andere Abgaben Eigentum von Bürgern und Unternehmern „konfiszieren“. Die Politologin Ekaterina Schulmann11 argumentiert, dass es immerhin besser sei, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, als ins Gefängnis zu wandern. Sicher ist jedenfalls, dass die Duma auch nach den Wahlen 2016 eine wichtige Rolle dabei spielt, Repression und Konfiskation ins Gleichgewicht zu bringen und somit über Regimestabilität und -wandel mitentscheiden wird.


1.Chaisty, P. (2014): Presidential dynamics and legislative velocity in Russia, 1994–2007, in: East European Politics, 30(4), S. 588-601
2.Interaktive Quelle zum Weiterklicken: Ria Novosti: 20 let Gossudarstvennoj dumy
3.Stykow, P. (2008): Die Transformation des russischen Parteiensystems: Regimestabilisierung durch personalisierte Institutionalisierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 772-794
4.Remington, T. F. (2007): The Russian Federal Assembly, 1994–2004, in: The Journal of Legislative Studies, 13(1), S. 121-141 und: Troxel, T. A. (2003): Parliamentary Power in Russia, 1994-2001
5.Stykow, P. (2015): Parlamente und Legislativen unter den Bedingungen „patronaler Politik“: Die eurasischen Fälle im Vergleich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 396 - 425
6.University of Oxford: The Coalitional Presidentialism Project
7.Gryzlov wurde von den Medien nicht korrekt zitiert, allerdings ist die plakative Phrase fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses über die Duma geworden. Hier das Originalzitat von Gryzlov
8.Whitmore, S. (2010): Parliamentary oversight in Putin's neo-patrimonial state: Watchdogs or show-dogs?, in: Europe-Asia Studies, 62(6), S. 999-1025
9.ben.noble.com: Rethinking 'rubber stamps': Legislative Subservience, Executive factionalism, and policy-making in the Russian state duma
10.Inzwischen existiert eine Liste mit Gesetzen, die aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit nach Meinung eines Expertenkomitees rückgängig zu machen sind.
11.Vedomosti: Čto lučše: kogda sažajut ili kogda razdevajut?

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Polittechnologija bezeichnet in Russland und anderen postsowjetischen Staaten ein Menü von Strategien und Techniken zur Manipulation des politischen Prozesses. Politik – als Theater verstanden – wird dabei als virtuelle Welt nach einer bestimmten Dramaturgie erschaffen. Politische Opponenten werden mit kompromittierenden Materialien in den Medien bekämpft, falsche Parteien oder Kandidaten lanciert oder ganze Bedrohungsszenarien eigens kreiert.

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