Die neu gewählte Duma hat am Mittwoch erstmals getagt. Vor mehr als zwei Wochen gewählt, galten die Ergebnisse auch als Signal an die politische Elite und den Kreml: Wie ticken die Menschen im Land?
Wie aber sind die Stimmenanteile genau zu lesen? Es gab Fälschungsvorwürfe, Beschwerden über massive Vorteilsnahme durch Behörden und eine niedrige Wahlbeteiligung. Wie werden die Menschen in ihrem Parlament nun also tatsächlich repräsentiert? Der Politologe Kirill Rogow hat sich das gefragt und bei slon.ru eine Rechnung aufgestellt, die Russlands Wahlvolk und das manipulative Spiel um seine Gunst durchexerziert – mit überraschenden Schlussfolgerungen.
Die Tatsache, dass kein einziger oppositioneller Kandidat und nicht eine neue Partei ins Parlament einzog, war das Hauptthema der Kommentare zum Ausgang der Dumawahl. Die Wahlen erscheinen wie eine mustergültige Niederlage der Opposition und wie ein Triumph der Wolodinschen Strategie, die im Grunde darin bestand, zunächst einige Vertreter der Opposition zu den Wahlen zuzulassen, sie dann aber nicht gewinnen zu lassen und ihnen auch keinen Anlass zu liefern, gegen die Niederlage zu protestieren. Die heftige Diskussion über diesen Erfolg verdeckt aber einige wichtige und für den Kreml weitaus weniger angenehme Ergebnisse des Urnengangs.
Supermehrheit: Wozu brauchen autoritäre Regime Wahlen und Betrug
Die jüngsten Wahlen wurden vom Kreml als ausnehmend wichtige Revanche für den Misserfolg von 2011 betrachtet. Schließlich werden in autoritär regierten Ländern Wahlen nicht abgehalten, um die Präferenzen der Wähler zu ermitteln, sondern um eine beeindruckende Unterstützung für das Regime zu demonstrieren – für die regierende Partei oder den Leader. Aufgabe des Leaders oder der herrschenden Partei ist es wiederum, nicht einfach nur über die Gegner zu siegen, wie das bei Wahlen mit echtem Wettbewerb der Fall wäre, sondern die eigene erdrückende Überlegenheit zu demonstrieren, also die Unterstützung einer Supermehrheit vorzuweisen.
Das Bild einer solchen erdrückenden Überlegenheit wird dann für die Unzufriedenen und die Eliten ein wichtiges Signal, dass das Regime stark ist, dass Versuche, seine Macht in Frage zu stellen, sinnlos sind und Investitionen in die Opposition zwecklos. Für den Durchschnittswähler sind die Ergebnisse ein nicht minder wichtiges Signal, was denn die (in der Regel scheinbare) Mehrheit denkt. Dieses Signal bringt den Durchschnittswähler dazu, seine eigenen Einschätzungen und Wahrnehmungen zu korrigieren und sie in Richtung dessen zu verschieben, was er als „allgemein übliche Meinung“ auffasst. So stellt sich ein autoritäres Gleichgewicht ein.
Ein Grundpfeiler für die Stabilität autoritärer Regime ist die maßlose Übertreibung ihres Rückhalts in der Bevölkerung. Es ist ein zentrales Element des Autoritarismus, in das denn auch riesige Mittel und Anstrengungen investiert werden. Es mag paradox erscheinen, doch bevorzugt ein autoritäres Regime bei der Wahl zwischen einer gefälschten Supermehrheit und einer realen Mehrheit stets das Erstere, und eine solche Strategie ist vollauf rational.
Bei den Wahlen 2011 sind am Bild einer bedingungslosen Dominanz der Machtpartei Zweifel aufgekommen, und das führte umgehend zu einer Verfestigung der Agenda einer neuen Opposition, die die Protestbewegung des Winters 2011/12 hervorbrachte. Bei den jüngsten Wahlen musste der Kreml um alles in der Welt seine erdrückende Überlegenheit demonstrieren, um diese unangenehme Episode hinter sich zu lassen. Inwieweit und auf welche Weise ist das gelungen?
Mathematik der Archaisierung
Desorganisierung und Demoralisierung der Opposition einerseits sowie Demobilisierung der Wähler andererseits – das waren zwei Schlüsselelemente der Kremlstrategie bei diesen Wahlen. Während die Pragmatik des ersten Ziels auf der Hand liegt, wirft das zweite Fragen auf. Wenn die Unterstützung für das Regime derart groß ist, wie es uns die Umfragewerte weisgemacht haben, warum dann solch große Anstrengungen, um die Wähler von der Urne fernzuhalten?
Bei genauerem Hinsehen liegt der Demobilisierungsstrategie eine klare, mathematisch prüfbare Logik zugrunde, auf die sich die Regierung stützen kann. Wie bereits bei der Wahl 2011 zu konstatieren war, ist Russlands Wählerschaft ein Konglomerat aus verschiedenen politischen Kulturen.
Einen Pol bildet hier das, was Dimitri Oreschkin, Leiter des Projektes Wahlkommission des Volkes, das „symbolische Tschetschenien“ nannte. Das sind die südlichen Regionen und die autonomen Republiken, in denen die Wahlergebnisse stets konformistisch sind: mit 70 bis 97 Prozent Unterstützung für die Staatsmacht bei hoher Wahlbeteiligung. Das sind traditionalistische Enklaven, in denen die Gesellschaft Wahlen nicht als Instrument politischer Partizipation auffasst, sondern wo Regierungen sie als Ritual zur Loyalitätsbekundung arrangieren. Ein Bereich, der tatsächlich ganz traditionalistisch verfasst ist. Die Stimmzettel müssen nicht einmal gezählt werden, weil niemand die verkündeten Zahlen anfechten würde. Zu diesem Bereich zählen insgesamt die Republiken im Kaukasus, die autonomen Republiken und einige russische Oblaste. Nennen wir sie Russland 3.
Am anderen Pol liegt Russland 1, der europäische Teil des Landes, die großen Städte, die [prosperierenden entlegenen – dek] Regionen und Gegenden mit einem großen urbanen Bevölkerungsanteil. Hier spielen die Wählerpräferenzen eine Rolle, und sie zu verfälschen ist nur begrenzt möglich, weil es Wahlbeobachter gibt, wenigstens irgendeine Art Opposition, einige unabhängige Medien und ein gewisses Selbstwertgefühl bei den Wählern, die der Ansicht sind, dass das Regime sie wenigstens anhören sollte.
Zwischen Russland 3 und Russland 1 liegt ein Bereich, der die Elemente der traditionalistischen und pluralistischen politischen Kultur in sich vereint: Das ist Russland 2, in dessen breiter Peripherie viele Merkmale einer traditionellen Gesellschaft erhalten sind, während der fortschrittliche Kern anstrebt, die Standards von Russland 1 zu erreichen, wobei er jedoch zahlenmäßig sehr schwach ist.
Die drei Russlands haben jeweils typische, sehr unterschiedliche Wahlergebnisse. Wenn wir die Regionen nach den Ergebnissen von Einiges Russland anordnen, dann definieren wir Russland 3 vereinfacht als jene Gebiete, in der Einiges Russland über 65 Prozent der Stimmen erhielt, und Russland 1 als die Gebiete, wo die Partei 45 Prozent oder weniger erhielt. Gerade an dieser Marke bewegt sich die Wahlbeteiligung stabil um einen Mittelwert von 39 Prozent. In Russland 2 ist die Wahlbeteiligung sehr viel breiter gestreut mit durchschnittlich 49 Prozent, während sie in Russland 3 im Schnitt bei 73 Prozent liegt. Diese Angaben sind selbstverständlich stark vereinfacht.
So ergibt sich: In Russland 3 gibt es 16 Millionen Wahlberechtigte (das sind 14,5 Prozent aller Wahlberechtigten), von denen nach offiziellen Angaben 12 Millionen zur Wahl gegangen sind und von denen laut offiziellem Ergebnis 9,4 Millionen der Machtpartei ihre Stimme gaben (das wiederum entspricht einem Drittel aller Stimmen, die Einiges Russland bekommen hat).
Auf dem Gebiet von Russland 1 leben 51,7 Millionen Wahlberechtigte (47 Prozent); zur Wahl gingen hier 19,7 Millionen Wähler. 7,7 Millionen von ihnen gaben Einiges Russland ihre Stimme (in Russland 1 erhielt die Partei demnach im Schnitt 39 Prozent, in Russland 3 waren es 78 Prozent).
Somit führt die Strategie der Demobilisierung der Wähler dazu, dass Russland 1 weniger, dafür aber Russland 3 stärker repräsentiert ist – also die Gebiete mit behördlich organisiertem Stimmverhalten. In Russland 3 hat Einiges Russland 1,7 Millionen Stimmen mehr erhalten als in Russland 1, obwohl es hier rund 69 Prozent weniger Wahlberechtigte gab als in Russland 1.
Dieses Bild stellt uns nicht nur vor die Frage nach den Besonderheiten der jüngsten Wahlen und den Folgen der Strategie, das Wählen unpopulär zu machen. Eine Strategie, über die in den letzten Wochen ziemlich viel diskutiert wurde. Sondern es stellt sich auch die viel weitreichendere Frage nach dem politischen Aufbau Russlands und seinem Wahlvolk. Dadurch, dass die Wahlergebnisse (und auch die Wahlbeteiligung) auf dem Gebiet von Russland 3 und zum Teil auch von Russland 2 behördlich organisiert sind, ergibt sich im Gesamtbild von Wählerpräferenzen eine erhebliche Verschiebung zugunsten einer paternalistischen politischen Kultur. Russland 3 ist somit in den Repräsentationsorganen systematisch überhöht vertreten.
Die Partei der Macht ist an ihre Grenzen gestoßen
Bereinigt man die Wahlergebnisse nach der Methode von Sergej Schpilkin um die Abstimmungsanomalien, dann ähneln sie insgesamt durchaus denjenigen von 2011. Nach Schpilkin betrugen die reale Wahlbeteiligung 2016 rund 37 Prozent und das Ergebnis für Einiges Russland 40 Prozent. Stichproben mit Hilfe von Kontrollgruppen in rund 1000 Wahllokalen durch die Wahlkommission des Volkes ergeben ein ähnliches Bild, nämlich eine Wahlbeteiligung im Bereich von 34 bis 41 Prozent und ein Stimmenanteil für Einiges Russland im Bereich von 35 bis 38 Prozent in einigen durchschnittlichen und fortschrittlichen Regionen Russlands (ohne Russland 3, das bei der Stichprobe nicht repräsentiert war).
2016 war die behördliche Mobilisierung von Wählerstimmen noch stärker als 2011: Das Russland 3 der Provinz hat Einiges Russland jetzt mehr Stimmen geliefert, während die Wahlbeteiligung im urbanen Russland 1 diesmal niedriger war. Eine stärkere Mobilisierung realer Wähler hätte 2016 wahrscheinlich für ein schlechteres Ergebnis für Einiges Russland in Russland 1 und dementsprechend auch in Russland insgesamt gesorgt.
Bemerkenswert ist, dass Einiges Russland 2004 37 Prozent der Stimmen errang und nach Schätzung der realen Ergebnisse 2011 ebenfalls zwischen 35 und 39 Prozent lag (diese Werte ergeben sich über verschiedene Auswertungsmethoden). Demnach führte die Post-Krim-Mobilisierung, von der in den letzten zwei Jahren so viel gesprochen wurde, zu keiner wesentlichen Verschiebung der Wählerpräferenzen. Das etwas höhere offizielle Wahlergebnis wäre demnach die Folge einer stärkeren behördlichen Mobilisierung in Russland 3 und einer geringeren realen Wähleraktivität in Russland 1; letztere ist angesichts der Methoden im Wahlkampf vollauf erklärlich.
Russland in der Post-post-Krim-Phase
Lässt sich also feststellen, dass eine Unterstützung für die Partei der Macht im Bereich von 36 bis 39 Prozent dem realen Bild der Wählerpräferenzen in Russland entspricht? Das nun auch wieder nicht. Neben dem verzerrenden Effekt durch behördlich gelenkte Wählerstimmen, „Karussells“ und Mehrfacheinwurf zusätzlicher Stimmzettel, sind auch die autoritären Zerreffekte der Wahlkämpfe zu berücksichtigen. Zu nennen wäre da die Qualität der zur Wahl zugelassenen oder eben nicht zugelassenen Parteien wie auch die Verzerrung der Medienberichterstattung, der begrenzte Zugang der Opposition zu den Medien und die ungleichen Voraussetzungen im Wahlkampf.
Der Haupterfolg des Kreml liegt in der Demobilisierung der liberalen Wählerschaft und der Demoralisierung der neuen Opposition, die 2011 so deutlich zu Tage getreten war. Die Spaltung der Anhänger Kassjanows und Nawalnys, die die PARNAS in ein völlig wirkungsloses Projekt nach Art der Bogdanowschen Bürgerplattformen verwandelt hat, sowie das Vorgehen von Jawlinski, der seine Unfähigkeit und seinen Unwillen, mit auch nur irgendjemandem übereinzukommen, zu seinem wichtigsten politischen Kapital gemacht hat, haben die Agenda der neuen Opposition zunichte und jedwede Koordination unmöglich gemacht.
Verhindert wurde auch eine Wiederholung der Strategie der Partizipation, die Nawalny bei vergangenen Wahlen so erfolgreich verfolgt hatte. Da die Nawalny-Fraktion Jawlinski völlig zurecht als Spoiler für ihre Agenda betrachtete, rief auch sie diesmal dazu auf, nicht zur Wahl zu gehen (da man dort wohl oder übel hätte Jabloko wählen müssen). Dadurch wurde sowohl die Gleichgültigkeit gegenüber den Wahlergebnissen verstärkt, als auch die Kontrolle über selbige. Im gleichen Zuge konnte mit dieser Strategie des Kreml auch noch eine Demobilisierung der Wahlbeobachterbewegung erreicht werden.
Gleichwohl bleibt es eine Tatsache – so erstaunlich das klingen mag – dass sich der Anteil liberaler Wählerstimmen in den beiden Hauptstädten im Russland der Post-Krim-Phase nicht grundsätzlich verändert hat.
Neben diesem Erfolg lässt sich in der elektoralen Landschaft Russlands allerdings auch ein weiteres Muster ausmachen. Während der aufwendige Wahlkampf Jawlinskis in Russland insgesamt mit einem Fiasko endete, erhielten die liberalen Parteien (Jabloko, PARNAS und die Partei des Wachstums) in Moskau und St. Petersburg zusammen 15 bis 20 Prozent. Das mag verwundern, entspricht aber durchaus den liberalen Wahlergebnissen bei den Präsidentschaftswahlen von 2012. Die Liberalen hatten seinerzeit ebenfalls keinen eigenen Kandidaten, sodass als dessen Surrogat der Milliardär Michail Prochorow angetreten war, der dann in St. Petersburg 15 und in Moskau 20 Prozent erzielte.
Hier handelt es sich nicht einfach nur um eine liberale Wählerschaft, sondern um die stark motivierte liberale Wählerschaft, die ihrer Agenda die Stimme gibt, ungeachtet der offensichtlichen politischen Schwäche des Hauptakteurs für diese Agenda. Allerdings ist diese Wählergruppe bei den jüngsten Wahlen im Kaliningrader, Moskauer und Swerdlowsker Gebiet, wo Prochorow 2012 ebenfalls über zehn Prozent geholt hatte, nun schwächer gewesen. Eine Erklärung hierfür steht noch aus.
Insgesamt allerdings erscheint der Wähler in Russland vollkommen ausgelaugt durch die politischen Inszenierungen und Trugbilder des Kreml. Die Debatten der Parteikandidaten ähnelten einem Wettkampf provinzieller Antitalente, und zwar in der Disziplin „Wer ist am unattraktivsten für den Wähler?“. Jawlinski hat es irgendwie geschafft, niemandem zu gefallen und das kümmerlichste Ergebnis seiner ganzen Karriere einzufahren. Hinter all dem wird aber auch das völlige Fehlen einer irgendwie gearteten und für Wähler relevanten Agenda des Kreml deutlich. Zu beobachten ist auch eine nicht von Wolodin bewerkstelligte, sondern eben tatsächliche Demobilisierung der Wähler. Ausgeblieben ist eine Verschiebung der Wählerpräferenzen ins Konservative, wie sie noch vor Jahresfrist als unumstößliche Realität angenommen wurde. Der Zustand der Gesellschaft ähnelt wohl einem Kater nach einer durchzechten Nacht: Der Hype der Party ist vorbei, doch wieder scharf zu fokussieren gelingt noch nicht so recht. Wie dem auch sei: Offenbar haben wir es bereits mit einem Post-post-Krim-Russland zu tun.