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Die First Daughter und ihre Milliarden-Mitgift

Unter den reichsten Menschen der Welt ist und bleibt Putin der geheimnisumwobenste, resümierte im März 2019 Wladislaw Inosemzew. Der Wirtschaftswissenschaftler gab damit seine Einschätzung zu einem damals verabschiedeten US-Gesetz ab, dessen Aufgabe darin besteht, korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Die US-Nachrichtendienste werden mit ihren Beweisen in keiner Weise Putins Legitimität beeinträchtigen, schrieb Inosemzew – wohl aber ein Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen.

Nun werfen nicht die ausländischen Nachrichtendienste dieses Licht, sondern vermehrt unabhängige russische Medien: So hat im November 2020 das Online-Magazin Projekt in seiner Recherche über die mutmaßliche Ex-Geliebte des Prä­si­denten berichtet, eine Millionärin. Das Investigativmedium Washnyje istorii zieht den Kreis enger und nähert sich Putins Tochter und ihrem Ex-Gatten an – der mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde. 

Quelle istories

Im Januar 2019 entdeckte Troy Hunt, ein australischer Fachmann für Websicherheit, in einem Hackerforum etwas, das sogar ihn, der schon lange Jagd auf gestohlene Userdaten machte, in Staunen versetzte. Hunt ist ein Cyber-Robin-Hood: Seit vielen Jahren durchstöbert er Foren von Cyberkriminellen und kauft Datenbanken gehackter Accounts – nicht, um daran zu verdienen, sondern um die Opfer vor der drohenden Gefahr zu warnen. 

Doch an jenem Tag stieß Hunt auf ein Archiv, dessen Dimensionen ihn verblüfften. In der Datenbank befanden sich 773 Millionen E-Mail-Adressen und 21 Millionen Passwörter. Der Verkäufer des Archivs nannte es Collection #1. Über Hunts Fund wurde weltweit berichtet, man sprach von der größten Sammlung gehackter Accounts, die jemals veröffentlicht wurde.
Wer hätte ahnen können, dass in der riesigen Collection #1, zufällig entdeckt von einem australischen Cyber-Robin-Hood, zwischen hunderten Millionen E-Mail-Adressen der Kontakt eines Mannes auftauchen würde, den man ruhig als Hüter eines der wichtigsten Staatsgeheimnisse Russlands bezeichnen kann.

Dieser Mensch arbeitet weder im Verteidigungsministerium, noch entwickelt er Geheimwaffen oder rekrutiert Mitarbeiter ausländischer Geheimdienste. Er ist ein Unternehmer aus Sankt Petersburg, von dem die meisten Menschen in Russland wahrscheinlich noch nie gehört haben. Und obwohl er bereits mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde, gibt es in seiner Biografie Dinge, die noch viel mehr Aufmerksamkeit verdienen.

Mit 32 Dollarmilliardär und Hüter wichtiger Staatsgeheimnisse

Der Mann, um den es hier geht, ist in ein russisches Geheimnis eingeweiht, das mindestens so streng gehütet wird wie geheime Atomraketenstützpunkte: Er kennt Wladimir Putins Familie und weiß Bescheid über Hunderte Millionen Dollar schwere Offshore-Deals von Verwandten des Präsidenten.

Woher hat dieser Mensch so viel Einblick in Wladimir Putins Familie und ihre Geschäfte? Ganz einfach: Mehrere Jahre lang war er selbst ein Mitglied der russischen First Family. Er heißt Kirill Schamalow und war verheiratet mit Wladimir Putins Tochter Katerina Tichonowa.


Teil I

Anfang 2020 erhielten Mitarbeiter von Washnyje istorii Zugang zum E-Mail-Archiv von Kirill Schamalow. Die Dokumente wurden den Journalisten von einer anonymen Quelle zugespielt, die sich vermutlich mithilfe der Daten aus der Collection #1 Zugang zu Schamalows E-Mail-Postfach verschafft hatte. Wir kennen weder seinen (oder ihren) Namen noch die Motive. Die Person schrieb nur, dass sie dieses Archiv auch anderen russischen Medien angeboten habe, aber niemand auch nur einen Blick auf das Material werfen wollte. Die Quelle stellte lediglich eine Bedingung: keine medizinischen Daten verwenden. Sie teilte uns außerdem mit, dass sie Schamalow über den Klau seines Accounts informiert habe.  

Der Sohn von Putins Freund

Kirill Schamalow ist der Sohn von Nikolaj Schamalow, einem der ältesten und engsten Freunde Wladimir Putins. Schamalow senior gehörte zum Kreis der Wenigen, die der Präsident regelmäßig zu seinem Geburtstag einlud. Mitte der 1990er Jahre waren Schamalow und Putin Mitgründer der berühmten Datschen-Kooperative Osero bei Sankt Petersburg. Als Wladimir Putin Präsident wurde, bekamen fast alle seine Datschen-Nachbarn hohe Posten in der Politik oder in Staatskonzernen.

Nikolaj Schamalow (2020 wurde er 70 Jahre alt) hat sich nach Auskunft seiner Bekannten mittlerweile zur Ruhe gesetzt und verbringt viel Zeit bei der Jagd. Doch sein Geschäft wird von seinen Söhnen weitergeführt. Der älteste, Juri, leitet seit über 15 Jahren eine der größten privaten Rentenversicherungen Russlands, Gazfond. Eine noch beeindruckendere Karriere hat aber der jüngste Sohn Kirill gemacht.

Die „Neuen Petersburger“

Kirill Schamalows E-Mail-Archiv ist nicht nur deshalb von großer gesellschaftlicher Bedeutung, weil es bisher unbekannte Details zu wichtigsten Geschäftsabschlüssen und politischen Entscheidungen enthält. Dieses Archiv ist gewissermaßen eine Milieustudie zur russischen Elite im 21. Jahrhundert in eigens von ihr verfassten Briefen.

Die russische Elite – das sind unter anderem die Kinder derjenigen, die in den Medien und im Volksmund als „Piterskije“, „die Petersburger“, bezeichnet werden: Putins zahlreiche Datschen-Nachbarn, seine Judo-Sparringspartner, Masseure und Kollegen aus der Petersburger Stadtverwaltung, die Anfang der 2000er Jahre Schlüsselpositionen im Land einnahmen. Doch seither sind mehr als 20 Jahre vergangen, die Piterskije sind gealtert, und an ihre Stelle sind ihre Kinder und Enkel getreten – die Neuen Piterskije.

Zusammen mit den Schlüsselpositionen haben die Neuen Piterskije von ihren Eltern auch die Führungsmethoden übernommen. 

2009 war Schamalow erst 27 Jahre alt. Aber er war bereits Vize-Präsident für Business Administration beim größten russischen Petrochemie-Konzern Sibur und hatte zuvor bereits bei Gazprom, Rosoboronexport, der Gazprombank und im Apparat der russischen Regierung gearbeitet.

Doch der größte Sprung seiner Karriere kam erst später: 2014 erwarb Schamalow 17 Prozent des Unternehmens Sibur im Wert von fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek] und erhöhte damit seine Anteile am Konzern auf mehr als 21 Prozent. Dieser Deal brachte ihn mit einem Schlag auf die Forbes-Liste der reichsten Russen und machte ihn außerdem zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes. Zu diesem Zeitpunkt war Schamalow gerade mal 32 Jahre alt.

Doch dem war ein noch bemerkenswerteres Ereignis vorausgegangen. Wie die internationale Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt hatte, heiratete Schamalow 2013 die Vorsitzende der Stiftung Innopraktika, Katerina Tichonowa. Mittlerweile gibt es in den Medien zahlreiche Beweise, dass es sich dabei um die jüngere Tochter von Wladimir Putin handelt; der Kreml jedoch verweigert schon seit vielen Jahren die Bestätigung der Verwandtschaft. 

Kirill Schamalows E-Mail-Archiv lässt weder einen Zweifel daran, dass es sich bei Tichonowa um die Tochter des russischen Präsidenten handelt (aus Rücksicht auf ihre Sicherheit veröffentlichen wir hier keine persönlichen Dokumente), noch dass sie im Februar 2013 seine Frau wurde. Davon zeugen die gegenseitigen E-Mails sowie Fotos von ihrer Hochzeit, die nie zuvor an die Öffentlichkeit gelangten.

Wahrscheinlich würden wir an dieser Episode ihres Privatlebens gar nicht rühren (wobei fraglich ist, wie privat das Leben des Präsidenten und seiner Familie sein kann), wäre da nicht Folgendes: In Schamalows Mails wird erwähnt, dass seine Offshore-Firma ein Aktienpaket des Konzerns Sibur im Marktwert von 380 Millionen Dollar für gerade mal 100 Dollar gekauft hat.

Und dem zeitlichen Ablauf nach zu urteilen, könnten diese zwei unglaublichen Glücksfälle im Leben des jungen Geschäftsmannes – die Ehe mit der Präsidententochter und die quasi geschenkten Aktien des größten Petrochemie-Konzerns des Landes – miteinander zusammenhängen.


Illustrationen © Natalja Jamschtschikowa

Teil II

Kirill Schamalows Mailfach sagt nichts darüber, wie und wo Katerina Tichonowa und er sich kennengelernt haben. Es gibt nur indirekte Hinweise darauf, dass Schamalow und Tichonowa sich seit ihrer Kindheit kennen und auch als Jugendliche in Kontakt geblieben sind. Wann aus ihrer Bekanntschaft mehr wurde, wissen wir nicht, aber 2012 waren sie bereits vollauf damit beschäftigt, sich ein gemeinsames Luxusleben in Russland und Frankreich einzurichten.

Ein Anwesen auf der Rubljowka und ein Schloss in Biarritz

Am 2. Juni 2012 bekam Schamalow eine E-Mail von der Frau, die von dem jungen Paar mit dem Um- und Ausbau einer Villa beauftragt worden war, und zwar im Dorf Ussowo an der Rubljowskoje Chaussee – einem der teuersten Orte Russlands. Das Haus befindet sich in der Nähe des Anwesens des Präsidenten in Nowo-Ogarjowo.

„Sehr geehrter Kirill, anbei übersende ich Ihnen Fotos von den Möbeln, die Katja für den Garten ausgesucht hat. Sie sind alle in Italien vorrätig (wie uns bestätigt wurde). Für die Bestellung muss eine Vorauszahlung in Höhe von 60 Prozent der ausgewiesenen Gesamtsumme überwiesen werden“, schreibt ihm die Frau.

Im Anhang findet sich eine Liste von Einrichtungsgegenständen für den kleinen Gartenpavillon: Tisch, Sofa, ein paar Sessel, Stoffvorhänge – im Gesamtwert von 53.000 Euro.

Diese E-Mail leitete Kirill an Katerina Tichonowa weiter, mit dem Kommentar: 

„Gefällt mir, keine Einwände. Was denkst du?“

Insgesamt kosteten Umbau, Möbel und Einrichtung fast neun Millionen Euro. Nimmt man das Grundstück und das Haus selbst dazu, könnten sich die Gesamtkosten für das Anwesen auf etwa 15 bis 17 Millionen Euro belaufen.

Das Haus in Ussowo war nicht die einzige teure Immobilie von Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa. Zeitgleich zum Umbau des Anwesens bei Moskau richteten sie ein kleines Schloss in Frankreich ein.

Im Oktober 2012 hatte Schamalow über seine Firma Alta Mira mit Sitz in Monaco eine Villa im Städtchen Biarritz gekauft. Das Anwesen gehörte früher der Familie von Gennadi Timtschenko, einem alten Freund von Wladimir Putin und einem der größten russischen Öl-Exporteure. Den Dokumenten in Kirill Schamalows Postfach nach zu urteilen, kostete ihn das Haus in Frankreich rund 4,5 Millionen Euro.

Biarritz und seine Umgebung kann man ruhig als Auslandsreiseziel Nummer eins von Wladimir Putins Familie bezeichnen. Wie das Netzwerk OCCRP herausfand, erwarb 2013 ein weiterer russischer Staatsbürger ein Haus unweit von Kirill Schamalows Schloss: Artur Otscheretny. Er ist verheiratet mit Ljudmila Putina, der Ex-Ehefrau des russischen Präsidenten. Das Paar hatte 2013 offiziell die Scheidung bekanntgegeben, und 2016 entdeckte die Zeitung Sobesednik, dass Ljudmila Putina in den Papieren zu ihrer Sankt Petersburger Wohnung ihren Nachnamen in Otscheretnaja geändert hatte.

Von 2013 bis 2014 ließen Schamalow und Tichonowa die französische Villa von Designern einrichten. Daran, dass die jüngste Tochter des russischen Präsidenten plante, das Mini-Schloss auch zu benutzen, gibt es keinen Zweifel: Sie war unmittelbar in die Gespräche um die Renovierung des Anwesens in Biarritz involviert.

Unternehmer sollten bescheidener sein. Sie haben Recht

Während der Schwiegersohn des russischen Präsidenten Aktien von Offshore-Firmen besaß, ausländische Konten eröffnete und Immobilien in Ländern der NATO erwarb, leitete Wladimir Putin den Prozess der „Nationalisierung der russischen Eliten“ ein. 2013, genau zu der Zeit also, als Schamalow und Tichonowa fleißig ihr französisches Schlösschen einrichteten, brachte Putin einen Gesetzentwurf in die Staatsduma ein, der es Beamten und Führungskräften von Staatsunternehmen verbieten sollte, Konten im Ausland zu eröffnen und ausländische Bankeinlagen oder Wertpapiere zu besitzen. Das Verbot erstreckte sich auch auf Ehepartner und minderjährige Kinder. Im Erläuterungstext hieß es, das Gesetz diene „der Gewährleistung der nationalen Sicherheit“.

Das luxuriöse Anwesen von Schamalow und Tichonowa in Ussow kann der Präsident wohl ebenfalls kaum gutgeheißen haben. 2016 antwortete er auf die Frage einer Journalistin des Portals Znak nach dem nicht gerade bescheidenen Lebensstil der Chefs von Staatskonzernen: „Was unsere Geschäftsleute anbelangt, auch innerhalb von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung und dass sie derart provokante Immobilien bauen, da stimme ich Ihnen zu – sie sollten bescheidener sein. Sie haben Recht. Ich habe ihnen das schon mehrfach gesagt. Und ich hoffe, dass sie darauf hören. […] Man muss verstehen, in was für einem Land wir leben, und die Leute nicht reizen.“

Hochzeit in Igora

Die Hochzeit mit Katerina Tichonowa wird in Kirill Schamalows Korrespondenz zum ersten Mal am 7. September 2012 erwähnt. An diesem Tag erhielt er eine E-Mail von einer Frau, die sich um die Hochzeitvorbereitungen kümmerte:

„Ich möchte Ihnen und Jekaterina für die angenehme Bekanntschaft und unser Treffen danken. Wir haben die wichtigsten Punkte, die wir dort besprochen haben, in einer kurzen Übersicht zusammengefasst.“

Dem Schreiben war ein kurzer Ablaufplan für die Hochzeitsfeier im Skiort Igora in der Nähe von Sankt Petersburg beigefügt. Ursprünglich sollte die Feier im Januar 2013 stattfinden, wurde dann aber auf den 23. bis 25. Februar verschoben.

Ab Ende Januar versendete Schamalow an seine Freunde Hochzeitseinladungen mit detaillierter Beschreibung des Dresscodes: 

„23. Februar. Herren: Dresscode Cocktail im russischen Stil. Samtjackett, dazu Halstuch, Hemd mit Stehkragen. Damen: Cocktail im russischen Stil. Kleid, Rock oder Sarafan, bodenlang, in Pastelltönen, Haare geflochten, Kopftuch;

24. Februar. Herren: Creative Black Tie im russischen Stil. Smoking und Fliege dürfen farbig sein. Damen: Creative Black Tie im russischen Stil. Abendkleid in A-Form, Hochsteckfrisur mit Tiara-Kopfschmuck im Kokoschnik-Stil;

25. Februar. Herren: Casual chic im russischen Stil. Lockerer Anzug mit Polohemd, Rollkragen oder Pullover. Damen: bodenlanger Glockenrock, Feinstrickpullover.“

Insgesamt lud das Brautpaar rund 100 Gäste ein. Auf der langen Gästeliste fehlten die Eltern von Katerina Tichonowa – der Präsident und seine Gattin (zu diesem Zeitpunkt war die Scheidung noch nicht offiziell). Ihr Fehlen auf der Liste könnte allerdings auch mit dem Sicherheitskonzept erklärt werden, für das sechs Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten (SBP) verantwortlich waren. Für diese hatte das junge Paar sogar eigens ein Haus angemietet.


Teil III

Seinem Postfach nach zu urteilen war Kirill Schamalow sowohl vor seiner Heirat mit Katerina Tichonowa als auch danach – als Schwiegersohn des russischen Präsidenten – Eigentümer von Offshore-Firmen. Ein Großteil der Firmen, die von Juristen aus verschiedenen Ländern geführt wurden, war auf Strohmänner registriert. Haupthüter der Offshore-Geheimnisse von Kirill Schamalow und dessen Vater Nikolaj war Dario Item, Botschafter des kleinen Inselstaates Antigua und Barbuda, der die Interessen seines Landes in Spanien, Monaco und Liechtenstein vertritt.

Ein großzügiges Geschenk

Im Juni 2013 kaufte Kirill Schamalows Offshore-Firma Kylsyth Investments Ltd. mit Sitz in Belize von einer anderen Offshore-Firma, Volyn Portfolio Corp. mit Sitz auf den britischen Virgin Islands, 38.000 Aktien einer dritten Offshore-Firma auf der Insel Guernsey, Themis Holdings Ltd. Zu diesem Zeitpunkt war die Themis Holdings Ltd. die Muttergesellschaft des Unternehmens Sibur. Mit anderen Worten: Mit dem Kauf von Anteilen der Themis Holdings Ltd. erwarb Kirill Schamalow automatisch 3,8 Prozent am Konzern Sibur. Bereits vor diesem Deal hatten ihm 0,5 Prozent der Holding gehört: Insgesamt hielt er nun also einen Anteil von 4,3 Prozent.

Doch das Interessanteste an dieser Reihe von Deals ist nicht einmal, dass Wladimir Putins Schwiegersohn – ungeachtet der vom Präsidenten geplanten „Nationalisierung der Eliten“ – exotische Offshores für seine Investitionen in ein strategisches russisches Unternehmen benutzte, sondern wie viel er für diese Aktien bezahlt hat: 3,8 Prozent der Anteile am Konzern Sibur kosteten ihn bloß einhundert Dollar. Dabei hat Schamalow selbst in einem Interview mit der Zeitung Kommersant den Gesamtwert des Konzerns auf rund zehn Milliarden Dollar geschätzt. Damit könnte der Marktwert seines Aktienpakets bei etwa 380 Millionen Dollar liegen (den Rabatt für fehlenden Anspruch auf Kontrollrechte nicht mitgerechnet) – oder, mit anderen Worten: 3,8 Millionen Mal höher, als der Schwiegersohn des russischen Präsidenten dafür bezahlt hat.

Der Pressedienst von Sibur übermittelte Washnyje istorii eine Stellungnahme von Dimitri Konow, dem Vorstandsvorsitzenden des Konzerns: 

„Die Transaktionen im Jahr 2013 fanden im Rahmen eines 2011 von Aktionären ins Leben gerufenen Programms statt, das der zusätzlichen Motivationssteigerung eines breiten Kreises von leitenden Managern des Unternehmens dienen sollte. In jeder Etappe gab es andere Teilnehmer und unterschiedliche Bedingungen für die verschiedenen Teilnehmergruppen. Die Bedingungen für den Aktienverkauf der von Ihnen angesprochen Transaktion unterschieden sich nicht von denen für einige andere Manager. Exklusive Bedingungen für K. N. Schamalow persönlich gab es nicht. Womöglich ist Ihnen nicht bewusst, dass bei der Bewertung des Aktienwerts die Höhe der Schulden der betreffenden juristischen Person berücksichtigt wird/wurde“, teilte Konow mit.

Washnyje istorii hat sich jedoch die Verträge von elf Topmanagern genau angeschaut, die an dem Optionsprogramm von Sibur teilgenommen haben, von dem Konow spricht. Sie alle haben echtes Geld für ihre Anteile bezahlt – abzüglich eines Rabatts von etwa 15 Prozent des Marktwerts, was der gängigen Praxis solcher Motivationsprogramme entspricht. So musste beispielsweise der geschäftsführende Direktor Sergej Komyschan laut Vertrag für 0,26 Prozent an Sibur-Aktien 21,6 Millionen Dollar zahlen. Das heißt, für ein fünfzehn Mal kleineres Paket als das des Präsidenten-Schwiegersohns hat Komyschan 216.000 Mal mehr bezahlt. Alexej Filippowski, der Vizepräsident des Unternehmens, musste für sein Paket von 0,15 Prozent 12,7 Millionen Dollar zahlen.

Auf unsere Frage, warum andere Manager im Gegensatz zu Schamalow echtes Geld für ihre Aktien bezahlen mussten, entgegnete Dimitri Konow bloß, unsere Zahlen seien „inkorrekt“. Welche Zahlen seiner Ansicht nach korrekt sind, sagte er allerdings nicht.

Wenn man die Dinge beim Namen nennt, ist also Folgendes passiert: Die Offshore-Firma des Schwiegersohns des russischen Präsidenten hat für 100 Dollar etwas gekauft, was eigentlich rund 380 Millionen kostet.

Und das war erst der Anfang der beispiellosen Bereicherung von Kirill Schamalow.

Auf der Suche nach der passenden Mitgift

Kirill Schamalow hatte sehr viel Glück mit seinen Beratern und Assistenten. Den E-Mails nach zu urteilen, war ein ganzes Team für ihn tätig: Es recherchierte Investitionsprojekte für ihn, schrieb Redebeiträge für seine Auftritte bei Foren und Sitzungen des Direktorenrats, inklusive der Antworten auf mögliche Fragen aus dem Publikum. Ganz wie zu Studienzeiten, als man ihm dabei half, sein Diplom zu verteidigen und seine Rede für den Prüfungsausschuss vorzubereiten. 

Nach der Hochzeit mit Tichonowa hatten die zahlreichen Helfer des Präsidenten-Schwiegersohns alle Hände voll zu tun: Sie mussten ein groß angelegtes Finanzprojekt finden, das in den Besitz ihres Chefs übergehen sollte. E-Mails mit märchenhaften Angeboten über Milliarden von Dollar landeten eine nach der anderen in Schamalows Postfach – und Wladimir Putins Schwiegersohn suchte sie sich so aus, wie wir uns im Supermarkt Milch aussuchen.

Am 16. Mai 2013 schickte Schamalows Assistent Denis Nikijenko ihm den Vorschlag, Anteile an gleich drei Unternehmen zu kaufen – Rostelekom, Tele2 und Trikolor TV –, um sie danach zu einem „nationalen Telekommunikations-Champion“ zu vereinen, wie es in dem Schreiben hieß. Die Gesamtkosten für die Realisierung dieser Idee beliefen sich auf neun Milliarden Dollar. Wo sollte Schamalow dieses Geld hernehmen? Nikijenko erklärte das in einer Notiz:

„Die finanzielle Grundlage für den Erwerb könnten Kreditressourcen von der WTB, Sberbank und Gazprombank bilden. Zur Bildung der 20 bis 30 Prozent sogenannter Eigenmittel wäre es denkbar, befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond oder Gazprombank.“

Abgesehen davon, dass Schamalows Assistent vorschlägt, dieses enorme Vorhaben auf Kosten von Staatsbanken zu finanzieren, enthält das Zitat eine weitere interessante Formulierung: die „20 bis 30 Prozent ‚sogenannte Eigenmittel‘“.

Jeder, der bei der Bank eine Hypothek aufnehmen will, um eine Wohnung zu kaufen, muss 20 bis 30 Prozent des Kaufpreises selbst aufbringen. Genauso ist es, wenn ein Investor Aktiva erwerben will, besonders wenn es sich dabei um riesige Projekte über hunderte Milliarden Rubel handelt. Wie aus Nikijenkos E-Mail hervorgeht, hatten Schamalows Betraute jedoch offenbar nie vor, Eigenmittel ihres Chefs einzusetzen. Stattdessen schlugen sie vor, „befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond“ – der, wie der Zufall es will, von Schamalows älterem Bruder Juri geleitet wird.

Im April 2014 schrieb Nikijenko Schamalow schließlich eine weitere E-Mail, die gleich mehrere Vorschläge enthielt. Der erste war, 51 Prozent an dem Konzern VSMPO-Avisma zu erwerben, dem weltgrößten Titanproduzenten (dieses Paket kostete zu diesem Zeitpunkt über eine Milliarde Dollar).

„Warum 51 Prozent? Wenn eine Person, die mehr als 50 Prozent der Anteile an einem Unternehmen besitzt, auf der Sanktionsliste landet, können US-Bürger und -Konzerne keine Geschäfte mehr mit diesem Unternehmen machen. Weil die USA an einer Zusammenarbeit mit VSMPO-Avisma interessiert sind, wäre es somit unwahrscheinlich, dass der Konzern oder ein Teilhaber auf die Sanktionsliste kommt“, erklärte Nikijenko die Vorteile einer Übernahme des Titankonzerns.

Der zweite Vorschlag bestand darin, ein zusätzliches Aktienpaket des Konzerns Sibur zu erwerben.

„Die Unternehmensbeteiligung von GNT (gemeint ist Gennadi Nikolajewitsch Timtschenko – Anm. Washnyje istorii) schränkt die operative Geschäftstätigkeit des Konzerns ein. Sibur erhält bereits Absagen von Banken und Geschäftspartnern (weil Timtschschenko auf der Sanktionsliste der USA steht – Anm. Washnyje istorii). Um dieses Problem zu lösen, schlagen wir vor, GNT seine Anteile abzukaufen. Die Transaktion kann durch zwei Manager des Unternehmens mit nachträglicher Zusammenführung der Anteile in eine Hand realisiert werden (dieser Vorgang, bei dem eine künstliche Schuld geschaffen und daraufhin von einem zweiten Aktienpaket getilgt wird, ist gut erprobt)“, heißt es in dem Schreiben.

Wie der weitere Verlauf zeigt, entschied sich Kirill Schamalow offenbar für diesen Vorschlag. Das Interessanteste an der E-Mail ist die Beschreibung des Schemas für den Kauf der Sibur-Aktien von Gennadi Timtschenko: die Schaffung einer „künstlichen Schuld“ und deren Tilgung durch ein weiteres Aktienpaket. Derartige Schemata werden in der Rechtsliteratur und in Handelsgerichtsurteilen als populäres Mittel beschrieben, um die Kontrolle über Unternehmen zum Spottpreis zu bekommen.

Der Kauf von Sibur

Am 1. August 2014 registrierte Kirill Schamalow unter seiner Privatadresse in der Zoologitscheskaja Uliza in Moskau die Firma Jausa 12. Laut seinen E-Mails kaufte diese Firma bereits sechs Tage später, am 7. August, 17 Prozent von Sibur. Der Marktwert dieses Aktienpakets lag bei fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek]. Gegenüber Kommersant sagte Schamalow, die Mittel dafür habe er bei der Gazprombank geliehen (in dessen Direktorenrat sein Bruder Juri sitzt – Anm. Washnyje istorii), als Sicherheit hätten eigene Vermögensgegenstände gedient. Welche Vermögensgegenstände das genau waren, sagte er nicht.

Im Rahmen des Sibur-Optionsprogramms hatte Schamalow fast zum Nulltarif über vier Prozent der Holding akkumuliert. Mit dieser Kreditsicherheit hätte er theoretisch ein Darlehen von rund 500 Millionen Dollar bekommen können. Aber woher hatte der junge Geschäftsmann das restliche Geld für den Erwerb der Aktien?

Leider enthält Schamalows Korrespondenz keine Antwort auf diese Frage, vorausgesetzt man will nicht die E-Mail seines Assistenten Denis Nikijenko als solche werten, in der zum ersten Mal die Idee der Übernahme von Timtschenkos Sibur-Anteilen mithilfe einer „künstlichen Schuld und ihrer Tilgung durch ein zweites Aktienpaket“ geäußert wurde.

Wann und wie Schamalows Firma Jausa 12 ihren Riesenkredit abbezahlt hat, wissen wir nicht. Der letzte im Rosstat zugängliche Jahresabschluss stammt aus dem Jahr 2016, in der Zeile „Verbindlichkeiten“ sind dort immer noch 80 Milliarden Rubel angegeben. Den Daten des Föderalen Steuerdienstes zufolge beschloss Schamalow im September 2017, Jausa 12 aufzulösen, was er im Dezember desselben Jahres auch tat.

Wie dem auch sei, als zweitgrößter Aktionär der größten Petrochemie-Holding des Landes (mit einem Anteil von 21,3 Prozent), zog Schamalow die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Wahrscheinlich, um den Fragen zu seinen Verwandtschaftsbeziehungen und der Herkunft seines Vermögens zuvorzukommen, gab der Schwiegersohn des Präsidenten der Zeitung Kommersant ein Interview. Das Blatt stellte keine unangenehmen Fragen.

Das Interview endete mit einer patriotischen Äußerung Schamalows: „Ich bin in Russland geboren, aufgewachsen und lebe hier. Mein Business ist hier. Und zwar komplett nach russischem Recht, nicht irgendwo im Offshore. Irgendwelche Hintertürchen und Geschäfte im Ausland – das ist nichts für mich“, erklärte Wladimir Putins Schwiegersohn. Dabei hat er offenbar vergessen, dass er die Sibur-Aktien über eine Firma in Belize gekauft hatte, sein Schloss in Frankreich auf eine Firma in Monaco gemeldet war und er 2015, im selben Jahr, in dem das Interview stattfand, mehrere Konten in der Schweiz eröffnet hatte. Aber 2017, als die Sanktionen einen immer weiteren Kreis von Wladimir Putins Bekannten erfassten, begannen Schamalows Finanzbeauftragte, die Geschäfte seiner Firmen und Fonds mit Konten bei europäischen Banken einzustampfen, und registrierten auf seinen Namen einen eigenen Fonds – den Centurion International Fund auf der Insel Labuan, einem Offshore-Gebiet in Malaysia. Der Fonds läuft über Offshore-Unternehmen aus Belize – einem winzigen Staat an der Karibischen Küste.


Teil IV

Kirill Schamalow konnte man durchaus auch vor seiner Liebesbeziehung mit Katerina Tichonowa zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Russlands rechnen – dank der Freundschaft seines Vaters mit dem russischen Präsidenten und seinen eigenen zahlreichen Beziehungen zu Vertretern der Neuen Petersburger. Schamalow war erst 27, als er gebeten wurde, im Streit um die Moskauer Flughäfen Einfluss auf die Entscheidung der Handelsgerichte zu nehmen. Durch die Ehe mit Katerina Tichonowa stieg er allerdings in eine ganz andere Liga auf: Vom Sohn eines Freundes wurde er zum Familienmitglied Wladimir Putins – mit allen Möglichkeiten, die dieser Status mit sich brachte.    

Ein gemütliches Zuhause

Einer der Hochzeitsgäste war Kirill Dmitrijew, Chef des Russian Direct Investment Funds (RDIF). Er stand als Gast der Braut auf der Liste: Dmitrijew ist mit Natalja Popowa verheiratet, Katerina Tichonowas Stellvertreterin bei der Stiftung Innopraktika.  

Der von Dmitrijew geleitete Staatsfonds ist einer der wichtigsten staatlichen Player innerhalb der russischen Wirtschaft. Sie wurde 2011 auf Initiative des Präsidenten (damals Dimitri Medwedew) und des Premierministers (damals Wladimir Putin) gegründet. Hauptaufgabe des RDIF ist es, führende russische Unternehmen zu finanzieren und ausländische Investoren für Projekte zu ködern. Seit seiner Gründung hat der RDIF fast zwei Billionen Rubel [Stand Januar 2021: 22 Milliarden Euro – dek] in verschiedene Unternehmen in Russland investiert.    

Dem vorliegenden Archiv zufolge bekam Schamalow die ersten Mails von Dmitrijew Mitte 2012, also in einer Zeit, als er sich gerade mit Tichonowa ein gemütliches Zuhause errichtete. Die jungen Paare (Dmitrijew und Popowa, Schamalow und Tichonowa) waren miteinander befreundet. Sie machten mehrfach zusammen Urlaub im Ausland, und Schamalow und Dmitrijew schrieben einander alle paar Tage zu den verschiedensten Themen.  

Unter anderem schickten der Schwiegersohn des russischen Präsidenten und der Chef des RDIF einander permanent Links und diskutierten Wirtschaftsmeldungen. Das war aber noch nicht alles – mehrmals finden sich in Schamalows Posteingang vertrauliche Dokumente des RDIF, die Dmitrijew seinem geschäftstüchtigen Freund übersandte.

Eine Hand wäscht die andere

Kirill Dmitrijew versorgte seinen Freund Schamalow nicht nur mit Informationen, sondern auch mit enormen Summen aus der Staatskasse für sein Unternehmen. Im Januar 2015 schickte der RDIF-Direktor dem Präsidenten-Schwiegersohn einen Artikel der Vedomosti mit dem Titel RDIF unterstützt Sibur. Darin hieß es, Dmitrijews Staatsfonds plane gemeinsam mit ausländischen Investoren, in ein Projekt von Sibur zu investieren, das den Bau eines Petrochemiewerks mit dem Namen Sapsibneftechim in Tobolsk, Oblast Tjumen, vorsah.      

„Langsam kommen wir in die Gänge :-)“, schreibt Dmitrijew in einer E-Mail. „Super!“, antwortet Schamalow, der zu dem Zeitpunkt der zweitgrößte Aktionär von Sibur ist. 

Sapsibneftechim ist das größte Petrochemiewerk Russlands. Es wurde im Mai 2019 in Betrieb genommen. Seine Fertigstellung kostete insgesamt schätzungsweise 9,5 Milliarden Dollar. Ende 2015 erklärte der RDIF auf seiner Website, er habe gemeinsam mit anderen Investoren mehr als ein Drittel der Projektfinanzierung zur Verfügung gestellt (3,3 Milliarden Dollar). Doch für die Errichtung einer so großen Anlage reichte Schamalows Firma die Beteiligung des befreundeten Staatsfonds nicht. Und so griff ihm der Schwiegervater unter die Arme. 

Im Oktober 2015 stimmte Wladimir Putin zu, dass Sibur 1,75 Milliarden Dollar aus dem Nationalen Wohlstandsfonds erhalten soll. Dieser Fonds ist eigentlich für die Förderung der privaten Altersvorsorge der Staatsbürger da, sowie dafür, Defizite in der Rentenkasse auszugleichen.

Doch nicht nur Schamalow profitierte von seiner Freundschaft mit Kirill Dmitrijew. Dem Chef des RDIF brachte seine enge Bekanntschaft mit Wladimir Putins Schwiegersohn ebenfalls satte Gewinne. Ein Beispiel dafür ist der Kauf des Sibur-Terminals für die Verladung von Flüssigerdgas am Handelshafen Ust-Luga durch den RDIF. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass nicht alle Top-Manager von Sibur so begeistert von der Idee waren, den Terminal zu verkaufen. Im November 2015 war der Deal unter Dach und Fach: Für 700 Millionen Dollar hatte der RDIF zusammen mit einem Investorenkonsortium den Terminal in Ust-Luga gekauft.

Auf die Anfrage von Washnyje istorii, warum er Schamalow vertrauliche Dokumente des RDIF zukommen ließ und inweiweit er dafür gegenüber dem von ihm geleiteten Staatsfonds hafte, reagierte Kirill Dmitrijew nicht.

Begehrter Partner mit Ressourcen

Das Besondere am Business von Wladimir Putins Schwiegersohn war nicht nur, dass es ihm gelang, Aktien eines strategischen Unternehmens millionenfach unter ihrem Marktwert einzukaufen, sondern er war auch ein enorm gefragter Partner, bei dem Unternehmer mit den verlockendsten Angeboten buchstäblich Schlange standen. Unter anderem wurden Schamalow Beteiligungen an verschiedensten Firmen offeriert, ohne dafür irgendwelche Gelder zu verlangen – offenbar in der Annahme, dass Putins Schwiegersohn diesen Unternehmen etwas bieten könne, was im heutigen Russland wertvoller ist als Geld. 

So bekam Schamalow 2017 von seinem ehemaligen Studienkollegen Dimitri Utewski eine Beteiligung an einer großen Müllentsorgungsfirma in der Nähe von Sankt Petersburg angeboten. Utewski versprach ein „fixes Jahreseinkommen“ und bat im Gegenzug – wörtlich – um eine „administrative Ressource (mindestens auf der Ebene eines Gouverneurs)“. Wie Schamalow konkret auf diesen Vorschlag reagierte, wissen wir nicht, aber in seinem E-Mail-Verkehr gibt es genügend Beispiele dafür, wie er seinen Partnern half, Probleme auf höchster Staatsebene zu lösen.

Zusammen mit seinem Vater war Schamalow jahrelang Miteigentümer des [Zementherstellers – dek] Russkaja zementnaja kompanija und der Holding Sibirski zement. Oleg Scharykin, Hauptgesellschafter dieser Firmen, sagte einmal in einem Interview mit dem Kommersant, mit Schamalow senior verbinde ihn eine Freundschaft: „Nikolaj Terentjewitsch und ich sind vor allem gute Freunde, und unsere Geschäfte beruhen auf zwischenmenschlichen Beziehungen.“

2016 fand sich dieser Scharykin in einer unangenehmen Situation wieder: Am 7. April hatten Ermittlungsbeamte und FSB-Mitarbeiter seinen Wohnsitz in der Siedlung Nikologorskoje bei Moskau und seinen Firmensitz in Moskau durchsucht. Bereits am 11. April, also nur vier Tage später, erhielt Kirill Schamalow eine E-Mail von Waleri Bodrenkow, dem Vizepräsidenten von Sibirski zement. Betreff: „Lightversion für den Garanten“, im Attachment mehrere Belege und ein an Wladimir Putin adressierter Brief von Oleg Scharykin. (Mit „Garant“ ist der russische Präsident gemeint, i. S. v. „Garant der Verfassung“ – Anm. d. Red. Washnyje Istorii

In dem Brief an den „Garanten“ schrieb Scharykin, die Durchsuchungen seien von seinem „Businesskontrahenten“ Andrej Murawjow initiiert worden, dem ehemaligen Präsidenten von Sibirski zement. 

„Ich bitte Sie inständig, verehrtester Wladimir Wladimirowitsch, diese Situation unter Ihre persönliche Kontrolle zu bringen und der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation den Auftrag zu erteilen, das Vorgehen der Organe des FSB und des Ermittlungskomitees der RF im Zuge der Durchsuchung meines Wohnsitzes rechtlich zu überprüfen“, heißt es am Ende von Scharykins Brief. 

Kirill Schamalow ließ diese E-Mail nach Erhalt umgehend ausdrucken. Wir wissen nicht, ob er sie danach seinem Schwiegervater vorlegte, aber es war nicht das einzige Mal, dass Scharykin ihn um Hilfe bat, und im Archiv finden sich Beweise, dass Wladimir Putins Schwiegersohn diese Bitten erhörte.   

Ein Jahr später, im April 2017, schickte Oleg Scharykin Kirill Schamalow zwei weitere an den russischen Präsidenten gerichtete Briefe. In einem beklagte er sich, dass seine Firma Keramitscheskije technologii optische Elemente für Boden- und Weltraumteleskope entwickele, aber die staatliche Gesellschaft Roskosmos sie nicht kaufe:     

„Ich würde Sie bitten, dem Generaldirektor der Staatlichen Weltraumorganisation Roskosmos I. A. Komarow den Auftrag zu erteilen, ein gemeinsames Programm zur Verwertung der vorhandenen Technologie zu erarbeiten“, appellierte Scharykin an Putin. 

Wie es aussieht, konnte Schamalow seinem Partner zumindest teilweise helfen. Zwei Wochen später, am 12. Mai 2017, schrieb Scharykin ihm wieder eine E-Mail: 

„Guten Morgen, Kirill. Hier die Protokolle. Das Treffen mit KSW verlief gut, er hat sich alles genau angesehen. Festen Händedruck.“

Die Abkürzung KSW entspricht den vollständigen Initialen von Kirijenko Sergej Wladilenowitsch, dem ehemaligen Chef von Rosatom und zu jenem Zeitpunkt – wie auch heute noch – stellvertretender Leiter der russischen Präsidialadministration. Seinem Schreiben hängte Scharykin das Protokoll des Treffens mit dem Chef von Rosatom an, bei dem die weitere Zusammenarbeit des Staatskonzerns mit der Firma Keramitscheskije technologii besprochen wurde. Anfragen von Washnyje istorii ließ Scharykin unbeantwortet.  


Teil V

Katerina Tichonowa verwendete für den Mailwechsel mit Kirill Schamalow mehrere E-Mail-Adressen. Für ihren Hauptaccount aber wählte sie einen Usernamen, der viel über Wladimir Putins Tochter und ihre Interessen verrät: Hypatia von Alexandria. So hieß eine Gelehrte im antiken Alexandria, die Philosophie, Mathematik und andere Disziplinen unterrichtete. Hypatia wurde nicht nur für ihre wissenschaftlichen Erfolge, sondern auch für ihre Bescheidenheit gepriesen. 

Hypatia: Bescheidenheit und Rock’n Roll 

In den Mails des jungen Paares ging es, abgesehen von der Einrichtung ihrer schicken Häuser in Russland und Frankreich, vor allem um zwei Themen: Rock‘n‘Roll-Akrobatik und das Innovationsprojekt Innopraktika.

Die von Tichonowa geleitete Stiftung wurde 2012 gegründet. Sie verbindet das Zentrum für nationale intellektuelle Reserven der MGU mit der Stiftung Nationale intellektuelle Entwicklung zur Förderung wissenschaftlicher Projekte von Studenten, Doktoranden und jungen Wissenschaftlern, die ebenfalls der MGU untersteht. Vornehmlich kümmert sich Innopraktika um die Vermittlung zwischen Business und Wissenschaft, um innovative Technologien in Russland zu entwickeln und sie auf dem Markt zu positionieren. Die Liste der Partner von Innopraktika würde jede russische Nonprofit-Organisation vor Neid erblassen lassen. Zu ihnen zählen die mächtigsten Konzerne, darunter auch solche mit staatlicher Beteiligung: Rosneft, Rosatom, Sibur, Rostec, Gazprombank, RDIF und viele mehr.  

Innopraktika wurde für viele Großunternehmer gewissermaßen zur Eintrittskarte in die Sphäre führender Forschungs- und Entwicklungsprojekte (zumindest an der MGU). Und wie Katerina Tichonowas E-Mails zeigen, wusste sie ihre Ehe mit Schamalow für die Voranbringung ihres Fonds zu nutzen. Mehrmals bat die Tochter von Wladimir Putin ihren Mann außerdem, zusammen mit seinen Partnern ihr liebstes Hobby zu finanzieren – Rock‘n‘Roll-Akrobatik. 

Am 14. April 2014 schickte sie ihrem Mann den Entwurf einer E-Mail von Iwan Sbitnew, dem Präsidenten des russischen Verbands der Rock‘n‘Roll-Akrobatik, die an den Generaldirektor des Erdgasförderunternehmens Nowatek, Leonid Michelson, adressiert war:

„[…] Wir möchten Sie bitten, die Möglichkeit einer Unterstützung für den russischen Verband der Rock‘n‘Roll-Akrobatik in Form einer Spende für die satzungsgemäße Tätigkeit in Höhe von einer Million Dollar jährlich über fünf Jahre zu prüfen“, stand am Ende seiner E-Mail.    

Innerhalb der nächsten zehn Tage leitete Tichonowa zwei weitere Schreiben gleichen Inhalts von Sbitnew an Schamalow weiter, eines an den Präsidenten der Gazprombank Andrej Akimow (ohne Angabe der Summe) und eines an den Generaldirektor von Sibur, Dimitri Konow (10 Millionen Rubel [damals rund 200.000 Euro – dek]).  

Die Chefs dieser russischen Großkonzerne, die Tichonowa um Unterstützung bat, schlugen ihre Bitten nicht ab: Sibur, Nowatek und die Gazprombank tauchten mehrfach in der Liste der Partner und Sponsoren des Verbandes der Rock‘n‘Roll-Akrobatik auf. 

Trennung

Anfang 2018 berichtete die internationale Nachrichtenagentur Bloomberg von der Trennung Kirill Schamalows und Katerina Tichonowas. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte Schamalow das Sibur-Aktienpaket verkauft, das er 2013 von Gennadi Timtschenko erworben hatte. Bloombergs Quellen zufolge machte Schamalow mit diesem Verkauf keinen Gewinn, weil er dieses Paket als Garantie des Vertrauens des russischen Präsidenten bekommen hatte. In Schamalows E-Mail-Archiv finden sich keine Angaben dazu, wie viel er für die Sibur-Aktien bekommen hat. 

2018 kam Kirill Schamalow auf die Blacklist der USA, weil er nach seiner Hochzeit mit der Tochter des russischen Präsidenten „zu einem ausgewählten Kreis von Milliardären aus dem Umfeld von Wladimir Putin gehörte“. Die amerikanischen Behörden waren mit dieser Entscheidung reichlich spät dran: Die letzte E-Mail von Schamalow an die Präsidententochter stammt vom 15. Juni 2017. Er leitete Tichonowa eine E-Mail von einem berühmten Sankt Petersburger Architekten mit mehreren Planungsentwürfen für eine Villa im Grünen weiter (ohne genaue Adressangabe). Danach gibt es im Archiv keine E-Mails mehr zwischen den beiden.   

Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa ignorierten die Anfragen von Washnyje istorii. Wir baten auch den Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, um einen Kommentar zur Nutzung von Offshore-Firmen durch Wladimir Putins Schwiegersohn, zum Kauf von Aktien millionenfach unter dem Marktwert und zu den Luxusimmobilien in Russland und Frankreich, über die Schamalow zusammen mit der Präsidententochter verfügte. Dazu sagte Peskow wörtlich: „Solche Fragen sind schon oft unbeantwortet geblieben.“   

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Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

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Als Oligarchen werden Großunternehmer bezeichnet, die starken Einfluss auf die Politik nehmen. In Russland, aber auch in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen Wirtschaft und Politik sehr eng verwoben sind, stellen sie ein zentrales Charakteristikum des politischen Systems dar.

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Wlast

Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiertLeviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

„Das Volk bleibt stumm“

Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

Historismus und Historiosophie

Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

„Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

„Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

Allgegenwärtig und unsichtbar

Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


1.vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva
2.vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123
3.vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50)
4.vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137
5.Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25
6.vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22
7.vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7
8.Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“,  S. 6-22, hier S. 8
9.Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f.
10.zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69
11.vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f.
12.zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31
13.zit. nach: stoletie.ru:  „Cerkov’ vsegda byla s narodom“
14.vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica
15.Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii
16.YouTube: V. Putin o russkoj duše
17.vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit
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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)