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Sergej Lawrow

Seit 20 Jahren vertritt derselbe Mann Wladimir Putins Politik in der Welt. In dieser Zeit hat Sergej Lawrow Annäherungsversuche mit Washington unternommen und der Welt mit Atomraketen gedroht. Er wurde als erfahrener Diplomat geachtet und als Lügner ausgelacht.

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Administrative Ressource

Am 24. März 20061 fuhr der Polit-Stratege Wladislaw Surkow in eine unscheinbare Nebenstraße im Moskauer Stadtteil Kitaj-Gorod. Hier, unweit der FSB-Zentrale an der Lubjanka, befand sich das Hauptquartier der Russischen Partei des Lebens. Surkows Mission war es, diese winzige Öko-Partei des Putin-Vertrauten Sergej Mironow mit einigen anderen kleineren Gruppen zu einer Mitte-Links-Partei mit Wachstumspotential zusammenzuführen. Mit ausdrücklicher Unterstützung des Präsidenten sollte so eine neue loyale Kraft geschaffen werden, die in kontrollierter Konkurrenz zur Regierungspartei steht und diese möglicherweise eines Tages würde ersetzen können. Ein, wie Surkow es ausdrückte, zweites Standbein der Macht.2 Es soll hier nicht um die Partei Gerechtes Russland gehen, die infolge dieser Aktion entstand – sondern darum, was Surkow dort eigentlich tat, an diesem Freitag in Kitaj-Gorod.

Der Kreml-Berater – damals war Surkow stellvertretender Chef der einflussreichen Präsidialadministration – bediente sich des sogenannten administratiwny ressurs (dt. Administrative Ressource). Dieser relativ unscharfe Begriff wird im politischen Diskurs Russlands und anderer post-sowjetischer Staaten oft verwendet. Er ist mitunter schwer von einfacher Korruption zu unterscheiden, da die Nutzung der Administrativen Ressource oft nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Folgen hat. Im weitesten Sinne bezeichnet er eine Art Amtsbonus: Einen Vorteil, den Amtsinhaber aus ihrer formalen Machtposition ziehen und gegenüber Mitbewerbern und Kontrahenten in Wirtschaft und Politik einsetzen können. In diesem Fall nutzte Surkow die hohe Organisationsfähigkeit der staatlichen Behörden und die informellen Verbindungen zwischen Mironow und Putin, um die politische Landschaft im Sinne der Regierung zu beeinflussen.

Die Administrative Ressource (im Russischen meist abgekürzt: „adminressurs“) ist also das Potential von Vertretern der Exekutive auf allen Verwaltungsebenen, organisatorische und finanzielle Ressourcen innerhalb des Staatsapparates für die eigenen Zwecke zu nutzen. Dazu zählen die Mehrheitsbeteiligung des Staates an den größten Fernsehsendern ebenso wie die Möglichkeit, Polizei, Sicherheitsdienste, Gerichte und zahlreiche Lizenzierungsbehörden für Einflussnahme auf den politischen Prozess zu missbrauchen.3 Durch Einsatz dieser Instrumente werden unter anderem Wählerstimmen mobilisiert und unerwünschte Kandidaten und Gruppen eingeschüchtert oder ganz aus dem Rennen genommen – zum Beispiel durch plötzliche polizeiliche Ermittlungen.

Die vielen Gesichter des adminressurs

Ein Beispiel: Im September 2013, kurz vor den Bürgermeisterwahlen in Moskau, häuften sich die Berichte, dass Rentner Anrufe von der Pensionsverwaltung erhielten. Die Beamten stellten den Senioren einen Präsentkorb mit Nahrungsmitteln in Aussicht – wenn sie ihn spätestens bis zum Tag vor den Wahlen abholen würden.4 Bediente sich der amtierende (und später wiedergewählte) Bürgermeister Sergej Sobjanin seiner Behörden, um eine wichtige Wählergruppe mithilfe von Geschenken von sich zu überzeugen?

Ein weiteres Beispiel: Im April 2016 durchsuchte die Steuerfahndung Büros der ONEXIM-Gruppe von Michail Prochorow. Der Firmengruppe gehört unter anderem das Investigativportal RBC. Das Medium war, so interpretierten es zahlreiche Beobachter, in seiner Berichterstattung zu weit gegangen und wurde durch den Einsatz der Steuerbehörde nun subtil darauf hingewiesen. Die Chefredaktion musste gehen.

Schließlich ein Fall, den die Organisation Golos im August 2016 aufdeckte: Von 241 Firmen, die im Jahr 2015 über eine Million Rubel an die Partei Einiges Russland gespendet hatten, erhielten 80 im Laufe des Jahres staatliche Aufträge im Gegenwert von mehr als dem Zehnfachen des gespendeten Betrags.5 Über den Umweg von Unternehmen, die für ihre Spenden „belohnt“ wurden, gelangten so effektiv Staatsmittel in die Kassen der Regierungspartei. Hier überschneiden sich Korruption und Nutzung der Administrativen Ressource.6

Die Sache hat System

All diese Fälle von Parteigründungen und indirekter -finanzierung über Wahlgeschenke bis hin zum gezielten Einsatz der Steuerfahndung zeigen, wie breit das Spektrum der Administrativen Ressource ist. Wie zentral dieses Phänomen ist, wird jedoch noch einmal deutlicher, wenn man es in einen breiteren analytischen Zusammenhang stellt.

Der Politikwissenschaftler Richard Sakwa sieht Russland als „dualen Staat“: Einerseits strukturiere die Verfassung das politische Geschehen, indem sie demokratische Verfahren als Legitimationsgrundlage politischer Handlungen definiere und Normen der Rechtsstaatlichkeit setze. Formal müssen sich alle Akteure daran orientieren. Andererseits werde diese konstitutionelle Ordnung ständig durch informelle Praktiken der Exekutive samt ihrer Beamtenschaft konterkariert: Diese parallele Existenz von zwei widersprüchlichen Funktionsprinzipien – dem demokratisch-konstitutionellen und dem informell-„parastaatlichen“ – hemme die Entwicklung hin zu offenem demokratischem Wettbewerb, schütze aber zugleich auch vor einem Abgleiten in vollumfänglichen Autoritarismus.7

Begriff und Gebrauch der Administrativen Ressource zeigen genau diese Doppelbödigkeit, die Hybridität der russischen Politik. Regime, die keinen Wert auf demokratische Legitimation legen, müssen sich keiner komplexen legalistischen Mittel bedienen, um ihre Ziele zu erreichen. Die russische Verfassung hingegen – und das Bedürfnis, nach außen auf demokratische Verfahren innerhalb des Landes verweisen zu können –  zwingt die Eliten dazu, ihre politischen Ziele wenigstens formal innerhalb der geltenden Regeln zu verfolgen. Daher die Parteigründungen auf Initiative des Kreml, daher die Steuerfahndung, und daher auch die Wichtigkeit der Wahlen – an deren Ausgang auch aufgrund des Einsatzes der Administrativen Ressource kaum ein Zweifel besteht.


1.Vielleicht auch am 26. – die Quellen widersprechen sich hier. Für einen Auszug aus dem geleakten Gesprächsprotokoll des Treffens siehe: Kommersant: Stenogramma-minimum
2.March, Luke (2009): Managing opposition in a hybrid regime: Just Russia and parastatal opposition, in: Slavic Review 68(3), S. 504-527, hier S. 511
3.Siehe etwa Hale, Henry (2005): Regime Cycles: Democracy, Autocracy and Revolution in Post-Soviet States, in: World Politics 58(1), S. 133-165, hier S. 144; Blakkisrud, Helge (2011): Medvedev’s New Governours, in: Europe-Asia Studies, 63(3), S. 367-395, hier S. 386
4.Slon.ru: Moskovskaja mėrija zadarivaet pensionerov produktovymi naborami
5.Rbc.ru: «Golos» obnaružil schemu skrytogo finansirovanija «Edinoj Rossii»
6.Eine Einführung in die Begrifflichkeit und auch die wirtschaftliche Dimension der Administrativen Ressource gibt der Ökonom Rustem Nureew hier: Administrativnyj resurs i ego ėvoljucija v postsovetskoj Rossii
7.Sakwa, Richard (2010): The dual state in Russia, in: Post-Soviet Affairs, 26(3), S. 185-206

Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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Wladislaw Surkow

Wladislaw Surkow war stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, stellvertretender Regierungschef Russlands und persönlicher Berater des Präsidenten. Für viele Beobachter galt er als „Putins Rasputin“, „Graue Eminenz im Kreml“ oder „Chefideologe des Landes“. Von 1999 bis mindestens 2013 war Surkow maßgeblich an den Public-Relations-Strategien des Kreml und der Organisation von Putins Wahlkampagnen beteiligt. Darüber hinaus fungierte er für Lobbygruppen als wichtiger Ansprechpartner in der Regierung.

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Polittechnologija bezeichnet in Russland und anderen postsowjetischen Staaten ein Menü von Strategien und Techniken zur Manipulation des politischen Prozesses. Politik – als Theater verstanden – wird dabei als virtuelle Welt nach einer bestimmten Dramaturgie erschaffen. Politische Opponenten werden mit kompromittierenden Materialien in den Medien bekämpft, falsche Parteien oder Kandidaten lanciert oder ganze Bedrohungsszenarien eigens kreiert.

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Dimitri Peskow ist seit dem Machtantritt Putins für dessen Pressearbeit zuständig und gilt als offizielles Sprachrohr des Kreml. Üblicherweise für die Krisen-PR verantwortlich, sorgte er mehrfach selbst für negative Schlagzeigen, unter anderem im Rahmen der Panama Papers.

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Jedinaja Rossija

Die Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit.

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