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„Die Teppiche stehen für den Traum von einem besseren Leben”

Lesia Pcholka gründete 2017 die Initiative VEHA – „als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte”. Denn die sei vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Krieges konstruiert. Seitdem sammelt Pcholka mit Mitstreiterinnen Fotos aus Familienarchiven, um die Alltagsgeschichte der Belarussen visuell aufzuarbeiten.  

Für das Projekt Najlepšy bok (dt. Die beste Seite) hat die Initiative Fotos von Belarussen in der Provinz zusammengetragen, die sich in den 1920er und 1950er Jahren vor Webteppichen fotografieren ließen. Wir haben mit Lesia Pcholka gesprochen und zeigen eine Bilderauswahl. 

Quelle dekoder

Die Frau des Fotografen Schura Taranda steht rechts. Privatarchiv Mikola Taranda / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

dekoder: Wie kam es zum Projekt Najlepšy bok
 
Lesia Pcholka: Najlepšy bok war unsere erste Sammlung und auch das erste Projekt, das vom VEHA-Archiv präsentiert wurde. Wir haben dafür dieses visuelle Thema ausgewählt, das Porträts von Menschen aus Belarus und dem Begriff der Schönheit nachgeht. Im Sammeln von Familienfotos sahen wir eine Möglichkeit, uns mit von allen geteilten Erinnerungen und den non-verbalen Seiten des Alltagslebens zu befassen. Diese Heimatfotografien sind soziale Artefakte, die die Identität, Werte und Ästhetik der Menschen einfangen und aufdecken, wie sie von anderen gesehen und erinnert werden wollen.

Es ging uns darum, die Menschen durch eine neue künstlerische Herangehensweise aktiv in die Bewahrung des kulturellen Erbes einzubeziehen. Für diese Idee waren die Webteppiche, die auf den Fotos der Sammlung Najlepšy bok als Hintergrund dienen, das perfekte Symbol.   

Woher stammt die Tradition, Teppiche als Dekoration an die Wand zu hängen, und was verrät das über Belarus in diesen Zeiten?  

Die Tradition, Teppiche als Wanddekoration aufzuhängen, entstand im ländlichen Belarus, vor allem zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Fotos in unserer Sammlung Najlepšy bok wurden in Dörfern aufgenommen, oft von fahrenden Fotografen, die Webteppiche mit sich führten, um ein einfaches, mobiles Fotoatelier aufzubauen. Sie dienten als Hintergrund für Familienporträts, ähnlich wie die Kulissen in städtischen Ateliers.

Teppiche und Bettüberwürfe gehörten zu den schönsten Ausstattungsgegenständen in ländlichen Haushalten. Sie wurden von Frauen gefertigt, in Zeiten des Mangels und wirtschaftlicher Probleme. Das Weben war eine Notwendigkeit und zugleich eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken. Textilien standen für Schönheit, Behaglichkeit und den Traum von einem besseren Leben. Sie wurden als Teil der Aussteuer von Generation zu Generation weitergereicht und rückten so nach und nach ins Zentrum der Inneneinrichtung und der visuellen Kultur. Die Verwendung von Webteppichen als Fotohintergrund ist Ausdruck tief verwurzelter sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gegebenheiten und zeugt zugleich von der starken Tradition des Textilhandwerks in der Region und von Praktiken des visuellen Erzählens.   

Wer waren die „fahrenden Fotografen“?  

Diese Fotografen reisten von Dorf zu Dorf, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und machten Fotos der dort ansässigen Menschen. Fotoateliers befanden sich in den Städten, und die Dorfbevölkerung hatte oft nicht die Möglichkeit oder das Geld, dort Porträts oder Familienfotos machen zu lassen. Das war nicht gerade billig und der Weg dorthin war beschwerlich. Die fahrenden Fotografen wurden oft in Naturalien bezahlt – mit dem, was es im Dorf gerade gab, etwa Milch, Eier und andere Waren.   

Existiert die Tradition, Teppiche als Hintergrund für Fotos zu nutzen, heute noch? 

Die Tradition, Menschen vor Teppichen zu fotografieren, ist nicht verschwunden; sie hat sich verändert. Viele haben noch Fotos von sowjetischen Wohnungen, in denen ein Teppich an der Wand hinter dem Sofa hängt. Non-verbale Alltagspraktiken verschwinden nie völlig, sie entwickeln sich immer weiter. Das ist das Interessanteste an unserer Arbeit. Gewohnheiten und visuelle Codes dienen uns dazu, dass wir uns über die Gegenwart und die Alltagspraktiken verständigen, die uns prägen und von anderen unterscheiden.   

Wie entstehen Projekte bei VEHA?

Bevor wir anfangen, Fotomaterial zu sammeln, legen wir ein Thema fest. Bei unserer Recherche in zahlreichen belarussischen Archiven sehen wir, dass bestimmte Stilmerkmale und Szenen immer wieder vorkommen. Aber am wichtigsten ist, dass wir – sobald das Thema steht – erst einmal abwarten, was die Menschen uns schicken und erst dann Schlussfolgerungen ziehen.

Das betrifft auch die Datierung: Wir analysieren die Objekte, die bei uns eingehen, und dann können wir das Jahr und den Ort der Aufnahme ermitteln. So haben wir festgestellt, dass die Fotos in dieser Sammlung überwiegend in der Zwischenkriegszeit und vor allem im westlichen Teil von Belarus entstanden sind. Wir legen in unseren Texten zu den Projekten immer offen, dass unsere Schlussfolgerungen auf unseren Methoden beruhen und auch andere Herangehensweisen an die Geschichte denkbar sind.

Unsere Recherche beschränkt sich auf die Gruppe derer, die sich aktiv beteiligen und uns Fotos zusenden. Das sind zwischen 50 und 500 Personen.  

Wie erfahren die Leute von der Fotosammlung? 

Wir machen öffentliche Aufrufe, um Fotos zu sammeln: Alle Menschen können uns Bilder aus ihrem Familienarchiv schicken, wenn diese vor 1980 auf dem Gebiet des heutigen Belarus aufgenommen wurden und in eine der fünf bestehenden VEHA-Sammlungen passen.

Bei den ersten Sammlungen wie Najlepšy bok haben wir auch staatliche Museen und ethnografische Institutionen kontaktiert. Dank der Unterstützung von Medien und dem öffentlichen Interesse konnten wir die Materialien für das Buch innerhalb kurzer Zeit zusammentragen.

Selbst wenn wir ein Foto nicht in die Sammlung aufnehmen, fördert das Stöbern im Familienarchiv das Bewusstsein für das Familiengedächtnis und trägt dazu bei, dass die Bilder weiter erhalten bleiben. Wir sammeln keine Originale, nur digitale Kopien.

Aber VEHA ist mehr als nur ein Onlinearchiv. Wir wollen neue Sinnschichten im Alltag freilegen und die visuelle Geschichte von Belarus sichtbar machen. Wir heben die Rolle der einfachen Menschen in der Geschichte hervor und präsentieren Archivmaterial in zeitgemäßen, zugänglichen Formen. 

Mittlerweile dürfte eine Kooperation mit staatlichen Stellen schwierig sein. 

Heute kontaktieren wir keine staatlichen Museen mehr – auch deshalb, weil es unter den jetzigen politischen Umständen für sie womöglich nicht sicher ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber wir sind offen für die Kooperation mit europäischen Einrichtungen, die viele Fotos aus Belarus aufbewahren (auch wenn diese schwer auffindbar sind, weil sie oft fälschlicherweise Polen oder dem Russischen Reich zugeordnet werden). Trotz dieser Schwierigkeiten verfolgen und unterstützen die Menschen unsere Arbeit weiterhin und das VEHA-Archiv ist seit 2017 bis heute aktiv.

Zurzeit bereiten wir mit der Arsenal-Galerie in Białystok ein neues Buch mit dem Titel Ruinen von Belarus vor. Kürzlich ist unsere Arbeit in einer der umfassendsten Publikationen über belarussische Fotografie gewürdigt worden.1 Die Anerkennung durch die akademische Gemeinschaft und die Unterstützung durch so seriöse Institutionen wie Arsenal sind für uns ein sehr großer Ansporn.

Wir sind ja im Grunde immer noch Erinnerungsaktivistinnen, eine kleine Gruppe von Frauen, die ein Onlinemuseum der belarussischen Geschichte aufbauen. 

 

Links: 1952, Dorf Sarytawa, Ljachawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Nadseja Mazjuschenka mit ihren Töchtern Ljubai und Waljai. Fotograf Petryk Taranda. Privatarchiv Mikola Taranda.  
Rechts: Dorf Holjawitschy, Baranawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Privatarchiv Aljaxandr Huk. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

Um 1950. Privatarchiv  Sjarhei Leskez. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

Links: 1955 Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Das Ehepaar Kutschynski. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje.  
Rechts: 1940, Nawassjolki, Hrodsenski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Familie von Franzischek Martulja. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

1950er Jahre, Merkulawitschy, Tschatscherski Rajon, Homelskaja Woblasz. Familie Kuljaschowych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

Anfang 1950er Jahre, Dorf Sdsitawa, Bjarosauski Rajon, Breszkaja Woblasz. Mikalai Wassileuski. Privatarchiv Anastassija Danilowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

Links: 1950, Tscherwen, Minskaja Woblasz. Ema Lipen mit Freundin. Privatarchiv Jury Naidowitsch. 
Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

1952-1953, Dorf Kanjuchi, Pinski Rajon, Breszkaja Woblasz. Valjanzina Marwenjuks Ehemann mit Freunden. Quelle: Belarussisches Oral History Archiv. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

Links: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz.  
Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

Um 1960, Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Abschied in die Armee. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

Links: Um 1950. Privatarchiv Sjarhei Leskez.  
Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

1930-1940. Familie Paulouskich. Aljaxandr Lutschyna. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

1940-1950, Dorf Lapki, Staubzouski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Swjatlana Kukel. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

Links: 1966, Menewesh, Drahitschynski Rajon, Breszkaja Woblasz. Sofja Dsjamidauna Baryssjuk-Sorka aus Raschyn und Ahrypina Dawydauna Serada-Sorka aus Dseraunaja. Privatarchiv Iryna Sorko.  
Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

1940, Dorf Paljaninawitschy, Bychauski Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Lissawych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

Links: Um1950, Dorf Aharodniki, Lidski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Priester Boris Shabrouski der Pryabrashenskai Kirche mit seiner Frau. Privatarchiv Vera Tyschkewitsch.   
Rechts: 1946, Budslau, Mjadselski Rajon, Minskaja Woblasz. Hanna Sadouskaja, Erstkommunion. Privatarchiv Lesia Pcholka. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 

1945-1947, Dorf Lankau, Bjalynizki Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Trussawych. Privatarchiv Darja Jakubowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok


1 Siarhiej Hruntoŭ, Photography and the Culture of Memory among Belarusians in the Second Half of the 19th – Early 21st Century, Belarusian Science, 2023.
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Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik

In der europäischen Geschichte vollzog sich der Prozess der Nationalstaatsbildung primär im Zeitraum zwischen der Französischen Revolution 1789 und dem Ersten Weltkrieg 1914. Das nationale Projekt der Belarus trat hingegen mit gehöriger Verspätung auf die politische Bühne: Es begann mit der Ausrufung einer kurzlebigen Belarusischen Volksrepublik (BNR) im Jahre 1918 und kam mit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus im Jahre 1991 zum Abschluss. Dazwischen lagen rund 70 Jahre der Zugehörigkeit zur Sowjetunion, welche die belarusische Gesellschaft nachhaltig prägten. Im Hinblick auf die gegenläufigen Prozesse der Belarusifizierung in der Zwischenkriegszeit und der Russifierung in der Nachkriegszeit lässt sich von einer Zweiteilung der sowjetisch-belarusischen Epoche sprechen, vielleicht sogar von einer Unterscheidung in eine „Belarusische“ und eine „Belorussische“ Sowjetrepublik. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Metamorphosen aufzuzeigen, welche die Belarus im Laufe des 20. Jahrhunderts im Eiltempo vollzog.

Die Gründung einer kommunistischen Republik auf dem Gebiet der Belarus erfolgte unter turbulenten Bedingungen. Nachdem die deutschen Truppen infolge der Novemberrevolution die westlichen Gebiete der Belarus verlassen hatten, rückte die Rote Armee vor und zwang die Rada (dt. Rat), das Leitungsorgan der Belarusischen Volksrepublik (BNR), Anfang 1919 ins Exil. Inmitten des anschließenden Polnisch-Sowjetischen Krieges und des andauernden russischen Bürgerkrieges kam es in der Folge zweimal, zunächst am 1. Januar 1919 in Smolensk und dann am 31. Juli 1920 in Minsk, zur Ausrufung einer Sozialistischen Sowjetrepublik Belarus (SSRB). In der Zwischenzeit existierte von Ende Februar bis Mitte Juli 1919 außerdem eine Belarusisch-Litauische Sowjetrepublik (LitBel). Im Frieden von Riga musste Sowjetrussland 1921 schließlich mit dem Wilnagebiet, dem westlichen Polesien, mit Wolhynien sowie Galizien und den beiden Städten Grodno (belarusisch: Hrodna) und Brest die westlichen Landesteile des ehemaligen Zarenreichs abtreten. Sie bildeten von nun an die „östlichen Gebiete“ der Zweiten Polnischen Republik, deren Grenze bis 30 Kilometer an die belarusische Hauptstadt Minsk heranreichte. Bei der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 bestand die Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) daher zunächst nur aus einem unscheinbar kleinen Gebiet um die Hauptstadt Minsk.

 

Belarusische Karikatur in Antwort auf den Vertrag von Riga, 1921. Beschriftung: „Nieder mit der schandhaften Teilung von Riga. Lang lebe die freie, unteilbare, bäuerliche Belarus!“ / Illustration © Public domain

Territorialisierung und Sowjetisierung

Dies änderte sich in den Jahren 1924 bis 1926, als sich die Fläche der BSSR auf Kosten der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) mit der Angliederung der Gebiete um Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow) verdoppelte. Damit kristallisierte sich aber auch der künstliche Charakter der belarusischen Staatsbildung heraus. Normalerweise stiften Nationalbewegungen ein Gemeinschaftsgefühl, das auf ethnischen oder sprachlichen Kriterien beruht. Erst danach beginnen sie, die geografischen und politischen Grenzen abzustecken. Im belarusischen Fall war es genau umgekehrt. Für die belarusischen Bauern, die als „Hiesige“ (tuteischyja) nicht daran gewöhnt waren, über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszublicken, wurde erst ein Gebiet definiert und dann eine Identität imaginiert. Zum Abschluss gelangte der Prozess der Territorialisierung durch die im Hitler-Stalin-Pakt festgelegte Vereinigung der BSSR mit den „polnischen Ostgebieten“, die eine abermalige Verdoppelung der Fläche bedeutete.

Die Konsolidierung der BSSR verlief bis zum Zweiten Weltkrieg ganz im Zeichen einer zunehmenden Sowjetisierung. Dabei bildeten die 1920er Jahre zunächst eine Phase der sprachlichen Belarusifzierung und des kulturellen Pluralismus. So entsprach etwa die Gründung des Instituts für Belarusische Kultur 1921 der sowjetischen Politik der Indigenisierung (korenisazija), die auf die Einbindung der Eliten in das System von Staat und Partei abzielte. Dazu zählte auch die Kodifizierung der belarusischen Sprache, die 1918 mit der Grammatik Branislau Taraschkewitschs, der sogenannten Taraschkewiza, einsetzte.1 Jenseits der Religion öffneten sich auch Freiräume für die jüdische Kultur. Ein Ausdruck der belarusisch-russisch-polnisch-jiddischen Mehrsprachigkeit war die Inschrift „Minsk“, die in vier Sprachen und drei Alphabeten am Bahnhof der Hauptstadt prangte.2

 

Inschrift des Namens der Hauptstadt in vier Sprachen am Bahnhofsgebäude in Minsk, Zwischenkriegszeit / Foto © Public domain

Allerdings führte der Stalinismus an der Schwelle von den 1920er zu den 1930er Jahren zu einer Trendwende, aus der ‚belarusischen‘ wurde in en folgenden Jahren zunehmend eine ‚belorussische‘ Sowjetrepublik. So folgte auf die Belarusifizierung eine Phase des Sowjetpatriotismus, in der die Taraschkewiza von der Narkamauka abgelöst wurde. Auch in der BSSR wurden sogenannte Kulaken verfolgt und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Maßnahmen wurden allerdings langsamer und moderater durchgeführt als andernorts, da die Belarus nicht zu den fruchtbaren Schwarzerderegionen gehörte.3 Dem Großen Terror fielen schließlich zahlreiche Angehörige der Intelligenzija zum Opfer, die als nationale Trägerschicht verfolgt wurde. Zu den Zeugnissen jener Jahre zählt die Erschießungsstelle Kuropaty am östlichen Stadtrand von Minsk.

Als Folge der deutschen Besatzung der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1945 waren auf dem Territorium der BSSR rund zwei Millionen zivile Opfer zu beklagen – insgesamt rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Dabei waren etwa 600.000 der Ermordeten Juden, womit die BSSR zu einem der wichtigsten Schauplätze des Holocaust geriet. Doch ungeachtet der enormen Bevölkerungsverluste ging die Sowjetunion aus dem Zweiten Weltkrieg als eine Siegermacht hervor, die ihre territoriale Verschiebung nach Westen im Protokoll von Jalta und im Potsdamer Abkommen im Februar und August 1945 legitimieren konnte. Im gleichen Monat wurde in einem separaten sowjetisch-polnischen Abkommen auch die endgültige Westgrenze der BSSR festgelegt. Die ehemaligen polnischen Ostgebiete wurden in der Folge sowjetisiert, wozu auch ein 1944 mit der Volksrepublik Polen aufgenommener Bevölkerungsaustausch beitrug.4

 

Karte der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1946. Die ockerfarbenen Regionen waren inklusive Białystok von 1921 bis 1939 Teil der Zweiten Polnischen Republik. Unter deutscher Besatzung gehörte die von einer belarusischen Minderheit besiedelte und grün markierte Gegend um Białystok der Zivilverwaltung an. Nach dem polnisch-sowjetischen Abkommen von 1945 verblieb Białystok in der Volksrepublik Polen / Karte © Public domain

Industrialisierung und Urbanisierung

Abgesehen von diesem außenpolitischen Akzent stand die Entwicklung der BSSR in der Nachkriegszeit ganz im Zeichen des sozioökonomischen Fortschritts. Phasenverschoben zur Gesamtentwicklung der Sowjetunion setzte die Industrialisierung der landwirtschaftlich geprägten BSSR erst nach 1945 ein.5 Fortan wurden alle Ressourcen auf die Hauptstadt Minsk konzentriert, die somit eine Sogwirkung entfaltete. 1947/48 wurden dort ein Traktorenwerk und ein Lastkraftwagenwerk errichtet, die jeweils unionsweite Bedeutung hatten.

Jedoch wirkte sich der Fortschrittsoptimismus der belarusischen Parteiführung im Hinblick auf die Beherrschung der Natur in mancherlei Hinsicht kontraproduktiv aus. In der am Prypjat-Fluss gelegenen Landschaft Polesien wurde – als Pendant zu der in den 1960er Jahren auf ukrainischer Seite errichteten Atomindustrie – eine Trockenlegung der Sümpfe betrieben. Diese führte jedoch zu einer Versandung von weiten Arealen und trug damit zum Aussterben der Dörfer bei. Sowjetischerseits wurde dafür bezeichnenderweise der Ausdruck „Auswaschen“ (wymywanije) geprägt. Gemeint war die Landflucht junger Fachkräfte, die über Bildungsanstalten und Arbeitsstätten einen dauerhaften Verbleib in den Städten anstrebten.

Die demografische Konsolidierung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich bis in die 1970er Jahre hin. 1970 wurde mit einer Bevölkerungszahl von 9,1 Millionen der Stand der Gesamtbevölkerung der östlichen und der westlichen Landeshälften vor dem Zweiten Weltkrieg erreicht, wobei die Einbußen durch die Arbeitsmigration nach Sibirien und Zentralasien auch in Betracht gezogen werden müssen.

Unter dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der belarusischen Kommunistischen Partei, Pjotr Mascherow, entwickelte sich die BSSR ab 1965 nicht nur zu einer Musterrepublik, die wirtschaftlich schwarze Zahlen schrieb. Sie trat mit Blick auf den historischen Sieg über den Nationalsozialismus unter dem Slogan der Partisanenrepublik auch selbstbewusst gegenüber dem Kreml auf – womit sie in Konflikt mit einigen Angehörigen der Moskauer Nomenklatura geriet. Diese fürchteten einerseits das Emanzipationsstreben der belarusischen Partisanenfraktion in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und damit einen eigenen Machtverlust, andererseits warfen sie der BSSR den Umstand der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg vor.6 Dass Minsk erst 1974 mit dem prestigeträchtigen Ehrentitel einer „Heldenstadt“ ausgezeichnet wurde, war Ausdruck dieser Spannungen. Widerstände im Kreml trugen dazu bei, dass sich Leonid Breshnew nur verspätet 1978 bereit erklärte, den entsprechenden offiziellen Festakt in Minsk zu vollziehen.

Im gleichen Jahr wurde in der BSSR auch der Verstädterungsgrad von 50 Prozent überschritten, was den Wandel vom Agrarland zum Industriestaat dokumentierte. Kehrseite dieses Sprungs nach vorn war die Preisgabe der Landessprache. Zwar wurde bildungspolitisch auf Zweisprachigkeit gesetzt, doch bevorzugten die von der sowjetischen Moderne profitierenden Eltern das Russische als Unterrichtssprache für ihre Kinder. In den 1970er Jahren verschwanden die belarusischsprachigen Schulen aus den Städten. Gleichzeitig hatten die Landflucht und die Anpassung bäuerlicher Schichten an urbane Milieus das Phänomen der „gemischten Sprache“ hervorgebracht, ein Mischmasch aus Heu und Stroh oder eben aus Belarusisch und Russisch.7

 

Vorrevolutionäre Gehöfte und die in den 1930er Jahren erbaute Akademie für Körperkultur am Jakub-Kolas-Platz, Minsk 1952 / Foto © BGAKFFD, 0-118044

Hiesige und Sowjetmenschen

Im Unterschied zur übrigen Sowjetunion konnte in der BSSR nicht von einem gesellschaftlichen Stillstand während der Breshnew-Ära die Rede sein. Die Republik befand sich weiterhin in einem Prozess der nachholenden Modernisierung. Gerade deswegen wurde sie von der wirtschaftlichen Rezession, die die Perestroika der 1980er Jahre mit sich brachte, umso härter getroffen. Außerdem zog der radioaktive Niederschlag des Reaktorunfalls von Tschernobyl am 26. April 1986 ein Viertel des Territoriums der BSSR in Mitleidenschaft. Zwei Jahre später wurden in der Zeitschrift Literatura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) schließlich die stalinistischen Massenerschießungen im Wald Kuropaty am Stadtrand von Minsk bekannt gemacht, was breite Debatten auslöste. Einer der Verfasser des Textes war der Archäologe Sjanon Pasnjak, ein führender Akteur der sich neu formierenden belarusischen Nationalbewegung. Als Konsequenz dieser Enthüllungen erfolgte im Juni 1988 die Gründung der Belarusischen Volksfront (BNF), die sich hinter die weiß-rot-weiße Flagge der Belarusischen Volksrepublik von 1918 stellte. Bereits im Dezember 1986 und Juni 1987 hatten erst 28 und dann noch einmal 134 prominente belarusische Intellektuelle in einem offenen Brief an Gorbatschow den Verlust der belarusischen Sprache im Zuge der kulturellen Russifizierung beklagt. Im Hinblick auf Kuropaty und Tschernobyl sprachen radikalere Stimmen sogar von einem sowjetischen Genozid am belarusischen Volk.8

Ungeachtet dessen erfolgte die Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus am 25. August 1991 im Nachgang zu entsprechenden Verlautbarungen anderer Sowjetrepubliken eher beiläufig. Von einer weit um sich greifenden belarusischen Identität konnte zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht die Rede sein. Für die Belarusen war das 20. Jahrhundert sowohl ein Zeitalter der Staatsbildung und Territorialisierung als auch ein Zeitalter der demografischen Katastrophen, der nachholenden Industrialisierung und der Urbanisierung. Diese Entwicklungen, die durch den Katalysator des Zweiten Weltkriegs noch beschleunigt wurden, hatten für eine Metarmorphose gesorgt: Aus den in ihren dörflichen Welten verhafteten Hiesigen waren urbane Sowjetmenschen geworden, die sich vom Lebensstil der sozialistischen Moderne überzeugen ließen. Die rapiden Transformationen der belarusisch-sowjetischen Epoche waren also keinesfalls von einem Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft begleitet. Im Gegenteil: Der sowjetische Fortschrittsglaube und die sowjetische Parteiöffentlichkeit hatten nicht nur dafür gesorgt, dass die Belarusinnen und Belarusen ihre Nationalsprache aufgaben. Neben der Marginalisierung des jüdischen Erbes ist bis in die Gegenwart auch ein Defizit an Arbeiterbewegung und bürgerlicher Kultur als historische Hypothek zu beklagen.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen:
Bohn, Thomas M. (2008): Minsk – Musterstadt des Sozialismus: Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln
Brakel, Alexander (2009): Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn
Einax, Rayk (2014): Entstalinisierung auf Weißrussisch: Krisenbewältigung, sozioökonomische Dynamik und öffentliche Mobilisierung in der Belorussischen Sowjetrepublik 1953–1965, Wiesbaden
Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde: Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg
Kouida, Artem (2019): Melioration im Belarussischen Polesien: Die Modernisierung der sowjetischen Peripherie (1965–1991), Wiesbaden

1.Rudling, Per Anders (2015): The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906–1931, Pittsburgh 
2.Bemporad, Elissa (2013): Becoming Soviet Jews: The Bolshevik Experiment in Minsk, Bloomington 
3.Siebert, Diana (1998): Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921–1941), Stuttgart 
4.Ruchniewicz, Małgorzata (2015): Das Ende der Bauernwelt: Die Sowjetisierung des westweißrussischen Dorfes 1944–1953, Göttingen 
5.Kashtalian, Iryna (2016): The Repressive Factors of the USSR’s Internal Policy and Everyday Life of the Belarusian Society (1944–1953), Wiesbaden 
6.Urban, Michael E. (1989): An Algebra of Soviet Power: Elite Circulation in the Belorussian Republic 1966–1986. Cambridge/New York 
7.Hentschel, Gerd (2014, Hrsg.): Trasjanka und Suržyk – gemischte weißrussisch-russische und ukrainisch-russische Rede: Sprachlicher Inzest in Weißrussland und der Ukraine? Frankfurt am Main 
8.Astrouskaya, Tatsiana (2019): Cultural Dissent in Soviet Belarus (1968–1988): Intelligentsia, Samizdat and Nonconformist Discourses, Wiesbaden 
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