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In einem Land zwischen Wald und Fluss

„Die meisten der heute verschwundenen belarussischen Dörfer liegen wunderschön in der Nähe von Wäldern und Flüssen, und ihre über 200 Jahre alten Namen sind von den Wörtern für Fluss, Sumpf oder Wald abgeleitet.“ So heißt es in einem Text für eine Ausstellung zu dem Fotoprojekt Zwischen Wald und Fluss, das die belarussische Fotografin Svetlana Yerkovich entwickelt und umgesetzt hat.

Das Werk sei ein symbolisches Denkmal für ein figuratives Dorf mit seiner einzigartigen räumlichen Ausstrahlung, sagt Yerkovich, die heute in Schweden lebt. „Es ist ein Versuch, die für immer verlorene innere Landschaft meiner Kindheit wiederzugeben.“ Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

Quelle dekoder
Oblast Gomel, Januar 2016: „Walera lebt allein mit nur einem Nachbarn in einem Dorf. Er gibt zu, dass seine Trinkgewohnheiten sein Untergang sein werden. Weil er schon vor langer Zeit aufgehört hat, dafür zu bezahlen, ist sein Haus ohne Strom. Im Januar 2016 posiert er für mich in seinem Garten.“ / Foto © Svetlana Yerkovich

dekoder: Wie ist das Fotoprojekt Between Forest and River entstanden?

Svetlana Yerkovich: Einen großen und wichtigen Teil meiner Kindheit habe ich selbst sozusagen „zwischen Wald und Fluss“ verbracht, in einem kleinen Dorf im Nordosten von Belarus. Dieses Dorf lag mit seiner einzigen Straße tatsächlich zwischen einem Wald und einem Fluss. Aus dem Kosmos dieses Dorfes und der umliegenden Landschaft sind meine Wurzeln erwachsen. Dort habe ich als Kind Leben und Tod kennengelernt, den Kreislauf allen Lebens, die Schönheit der Natur und die Unergründlichkeit eines tiefhängenden Sternenhimmels. 

Während ich aufwuchs, starben die Menschen oder zogen in die Stadt, am Ende war im Dorf fast niemand mehr übrig. Die Gemüsegärten überwucherten Unkraut und Bärenklau, die Apfelbäume alterten und Moos legte sich auf sie, die Häuser blickten mit leeren, zahnlosen Fenstern. 2010 machte ich einige Porträtaufnahmen von Menschen in diesem Dorf, dann zog ich nach Moskau. Und als ich 2012 beschloss, in ein anderes Land zu ziehen und dort wohl dauerhaft zu bleiben, wollte ich noch dieses Erinnerungsstück anfertigen, noch einmal diese Bilder sehen und festhalten, die eine derartige Bedeutung für mich haben. Daraus ist schließlich das Projekt entstanden.

Wie lässt sich die kulturelle Bedeutung des Dorfes für Belarus erklären?

Die Besonderheit der belarussischen Dörfer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern liegt in der Abwesenheit von Infrastruktur, in der stehengebliebenen Zeit, in der spürbaren Isolation von den Städten. Aus diesem Grund verlässt die Jugend diese wunderschönen Orte, zieht auf der Suche nach einem besseren Leben in die düsteren Städte, und es bleiben nur die Alten zurück, und jene, die es in der Stadt nicht geschafft haben. Oft kehren die Kinder in die verlassenen Elternhäuser zurück, wenn sie in der Stadt kein Glück hatten. Doch auch das ändert sich heute. Teilweise entstehen Wochenendhäuser mit hohen Zäunen, für diese neue Generation der Konsumenten und Anleger. Schaut man hinter einen solchen Zaun, sieht man gerade, rechtwinklig gepflasterte Wege, wie in der Stadt, Dekorationen aus Plastikflaschen, symmetrisch angeordnete Sträucher und Blumen. 

Auf der anderen Seite findet man in der Nachbarschaft langsam verfallende Häuser, einsame alte Menschen, Plumpsklos, und zwei bis drei Mal in der Woche das begrenzte Angebot im Lebensmittelgeschäft auf Rädern. Und es gibt auch die Jugend, die das Dorf als Ort der Freiheit wählt, um größtmöglichen Abstand vom System zu finden. 

Mir persönlich sind die zugewucherten, fast menschenleeren Fleckchen am nächsten, an denen die Menschen noch in enger Verbindung zur Natur leben. Manchmal trifft man noch auf heidnisch-christliche Bräuche, Volksmärchen und Lieder. Sie können völlig seltsam und einzigartig wirken, wie aus einer anderen Dimension.

Wie lange haben Sie für das Projekt recherchiert?

Im September 2012 unternahm ich die erste zielgerichtete Reise durch die Dörfer meiner Kindheit. Es wurde schnell klar, dass es in ganz Belarus eine Menge dieser Dörfer gibt – aussterbend, ohne einen einzigen Bewohner. Und dass diese in Dickicht und Gestrüpp versunkenen Dörfer tatsächlich die schönsten Orte des Landes sind. Also machte ich weiter, setzte meine Reisen fort, bis 2016. Ich war in allen sechs Gebieten des Landes unterwegs, orientierte mich zumeist an der Karte und wählte die kleinsten Straßen, die in Wäldern und Feldern endeten. Die genaue Anzahl der Dörfer, die ich besucht habe, kann ich nicht benennen, aber es waren sicher mehr als 50. Doch das spielt keine Rolle; viele sagen ohnehin, dass die Fotografien wie aus ein und demselben Dorf wirken, eine Art Collage. 

Wie haben die Dorfbewohner auf Ihre Arbeit reagiert?

Die Leute fragten natürlich, warum ich fotografiere. Und ich antwortete stets ehrlich und ernsthaft, erzählte von meinen Gefühlen und dass ich davon träume, ein Buch zu machen, um es meinen Großeltern zu widmen, und allen, die im Buch abgebildet sind. Mit einigen Leuten sprach ich viel, mit anderen nur wenig. Und einem alten Mann, der gerade Schnee von der Straße schaufelte, sagte ich nur, dass ich ihn sehr gern in dem tiefen Schnee mit der Schippe fotografieren würde, woraufhin er zustimmend nickte, sich bereitwillig und ernst in Pose stellte, ohne nur ein Wort zu erwidern.

Manche leben ganz allein in ihrem Dorf und freuen sich einfach, dass sie mit jemandem sprechen können. Mir war es wichtig, nicht als „Mädchen aus der Stadt“ wahrgenommen zu werden, das eine Safari oder ethnografische Exkursion unternimmt. Ich kannte mich ja im dörflichen Umfeld bis ins kleinste Detail aus. Wir sprachen über Dinge, die uns gleichsam nah waren. Gleichzeitig teilte ich auch ehrlich meine Wahrnehmung von Schönheit und erzählte, warum mir gerade diese alte, zerrissene Strickjacke oder jenes Brennesseldickicht interessant, bedeutsam und schön vorkamen. So entstand auf Seiten der Fotografierten nicht nur Nähe, sondern auch Neugier. Das Gespräch gewann dadurch ein gutes Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Geheimnis. Und das ist unabdingbar für ernsthaftes, konzentriertes Arbeiten, für meine Fotografien. 

Wie sind Sie künstlerisch an das Projekt herangegangen?

Am Anfang konnte ich nur schwerlich beschreiben, was ich eigentlich genau suche. Doch ich war überzeugt davon, dass alles in mir vibrieren würde, wenn ich das gesuchte Motiv schließlich erblicke, dass es mir nicht entgehen würde. Auf einigen Reisen begleitete mich mein jetziger Ehemann als Fahrer und Assistent, er ist ebenfalls Fotograf, aber unsere Arbeitsstile unterscheiden sich stark. Er stellte mir immer wieder dieselben Fragen: Warum fotografierst du diesen Menschen, den anderen aber nicht? Warum biegen wir hier ab, dort aber nicht? Genau erklären konnte ich das nicht, es war immer eine Reaktion auf bestimmte Merkmale des Menschen oder der Landschaft, die ich wahrnahm, es war Intuition. Nur auf diese Weise, intensiv meditierend, konnte ich dieses Bild, das ich schon so lange vor meinem inneren Auge hatte, erkennen und einfangen. Es ist nicht wirklich eine dokumentarische Geschichte, eher ein Kunstbild, das auf sorgfältig ausgewählten realen Begebenheiten beruht.

Man könnte sagen, „Zwischen Wald und Fluss“ ist ein Zustand zwischen Himmel und Erde, in dem der Mensch in enger Beziehung mit der Natur lebt, die für viele der Porträtierten zudem die einzige Bezugsperson in ihrem Umfeld ist. Und in dieser Beziehung liegen Tiefe und Schönheit, Mystik, Freiheit und Kraft. Die abgebildete Zeit wiederum ist als Kategorie nicht so wichtig, deshalb habe ich mich dafür entschieden, mit einer Kombination aus Schwarzweiß und Farbe zu spielen. Außerdem hatte ich immer einen dünnen, weißen Vorhang dabei, den ich bei manchen Aufnahmen eingesetzt habe, was der Betrachter für sich nach Belieben interpretieren kann. 

Mit den Fotos können sich sicher auch Menschen außerhalb von Belarus identifizieren?

„Zwischen Wald und Fluss“ kann man sowohl in Belarus, als auch überall anders finden. Es ist ein Ort an einem Fluss, umgeben von schönem Dickicht, an dem ein Mensch ganz allein in seiner Stille mit den ewig existenziellen Fragen lebt, haust, hadert. So eine Gegend ist vielen Betrachtern in allen möglichen Ländern vertraut und nah, wie irgendeine verlassene Gegend an einem gegenüberliegenden Ufer, zu dem keine Brücke oder Fähre führt, und von dem alle Fragen als Echo zurückschallen.

Oblast Grodno, Januar 2016 / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Mogiljow, Juli 2014: „Sina posiert in ihrem Haus, das buchstäblich auseinanderfällt. Als ich sie besuchte, säuberte sie gerade ihr Lieblingsessen – kleine, günstige Fische. Sie mag es, allein zu leben, und hat sich geweigert, zur Familie ihres Sohnes in einen größeren Ort zu ziehen. Ihr Sohn drohte ihr schließlich, dass er kommen und das Haus zerstören würde. Schlussendlich zog sie doch um.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Grodno, Januar 2016: „Michail lebt mit seiner Frau in einem Dorf im Wald westlich des Flusses Beresina in der Oblast Grodno. Die meisten anderen Häuser im Dorf stehen leer. Im Januar 2016 ist er unterwegs auf einem Spaziergang abseits des Dorfes entlang der nächsten Straße, was er tut, wenn er besonders unruhig oder gelangweilt ist. Es posiert auf einer Bank am Straßenrand, die er selbst gebaut hat.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Gomel, September 2012 / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Mogiljow, Juli 2012: „Wassili posiert im Sommer 2012 mit seinem Hund nahe seines Hauses in der Oblast Mogiljow. Sein Haus hat keine Fenster. Er sagt, die Tür sei gleichzeitig sein Fenster. Wassili lebt allein.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Grodno, Januar 2016: „Swetlana hat eine psychische Störung, ihre Schwester kümmert sich um sie. Sie leben allein in einem chutar (so nennt man ein alleinstehendes Haus, das nicht zu einem Dorf gehört) in der Oblast Grodno. Im Januar 2016 posiert sie mit ihrer geliebten Katze Lussja gegenüber ihres Hauses.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, Dezember 2015: „Ein verlassenes Haus in einem verlassenen Dorf in der Oblast Witebsk zerfällt in der Landschaft, die schnell überwuchert wird von unkontrolliert wachsendem giftigem Bärenklau. In Kontakt mit menschlicher Haut verursacht der Pflanzensaft in der Sonne schwere Verbrennungen.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Mogiljow, September 2012: „Wladimir posiert vor einem verlassenen Haus in seinem Dorf in der Oblast Mogiljow. Für einen besonderen Anlass trägt er seine Anzughose. Heute ist der Tag, an dem er mehrere Kilometer zum nächsten Dorf läuft, um seine Rente abzuholen. Er lebt allein in seinem Elternhaus, in dem er aufgewachsen ist, bevor er in die Stadt zog und dort heiratete. Er sagt, beides, seine Hochzeit und sein Leben in der Stadt, sei gescheitert, und schließlich konnte er nirgendwo mehr hin, außer in sein Elternhaus, das nach deren Tod verlassen war. Es gibt nur einen weiteren Einwohner im Dorf.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, September 2012: „Alexander lebt allein in dem Dorf Serp (dt. Sichel) in der Oblast Witebsk. Die beiden benachbarten Dörfer Serp und Molot (dt. Hammer) tragen die Namen dieser bedeutenden Sowjet-Symbole, die man mit harter Arbeit und guter Erne verbindet. Die Dörfer waren bis in die 1990er Jahre groß und lebendig. Heute leben dort nur noch ein paar Menschen und die Flächen zwischen den Häusern sind mit hohem Gras überwuchert.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Gomel, Januar 2016: Die beiden einzigen Nachbarn in einem Dorf in der Oblast Gomel / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Minsk, März 2014: „Frühling. Ein Baum, der vor einem verlassenen Haus umgestürzt ist, ringt um Leben und treibt aus in der warmen Frühlingssonne.“ Foto © Svetlana YerkovichOblast Witebsk, Dezember 2015: „Anatoli posiert vor seinem alten Holzhaus, das er versucht, vor Wind und Kälte zu schützen, indem er Ziegenhaut überall an die Außenwände nagelt. Anatoli lebt allein und hat viele Ziegen, die er nur Menschen zeigt, die nicht kleinlich sind. Ich habe seine Ziegen gesehen.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
 Oblast Mogiljow, September 2012 / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, Dezember 2015: „38 Prozent der Fläche von Belarus sind mit Wäldern bedeckt, und 14 Prozent sind Sümpfe. Sie sind die Lungen des Landes und wichtige Wasserressourcen, die die Flüsse speisen. Viele der verschwindenden belarussischen Dörfer liegen in Gebieten nahe Wäldern und Flüssen. Viele von ihnen haben über 200 Jahre alte Namen, die von den Worten ‚Fluss‘, ‚Sumpf‘ oder ‚Wald‘ abgeleitet sind. Es gibt mindestens 64 Sabolotje (dt. hinter dem Sumpf), 60 Salesje (dt. hinter dem Wald) und 61 Saretschje (dt. hinter dem Fluss).“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, März 2013: Radio- und Strommasten in der Oblast Witebsk / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
 Oblast Gomel, September 2012: „Ein verlassenes Haus in einem verlassenen Dorf in der Region Polesien verfällt. Es ist bis zu seinem zerstörten Dach überwuchert von Trauben. Im September 2012 schmeckten die Trauben reif und gut. Die Pflanze muss sorgfältig ausgewählt worden sein, um im belarussischen Klima wachsen zu können, das sich für den Anbau von Wein nicht eignet. Die Gegend ist heute ein Jagdrevier für Touristen und Reiche.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
Oblast Witebsk, März 2014: „Viktor lebt allein in seinem Haus in einem verschwindenden Dorf in der Oblast Witebsk. Er passt gut auf sein Haus auf, und er hat Hühner und einen Hahn. Im Frühling 2014 posiert er außerhalb seines Hauses neben dem Auto, von dem er noch hofft, es verkaufen zu können. Viktor ist überzeugt, dass die Bank, bei der er seit der Sowjetzeit seine Ersparnisse hat, ihn beklaut hat. Er schreibt erfolglos Beschwerden an unterschiedliche Behörden und Ministerien. Seine Nachbarn sagen, er erfinde Geschichten.“

Fotografie: Svetlana Yerkovich
Bildredaktion: Andy Heller

Übersetzung: Tina Wünschmann
Interview: ingo Petz
Veröffentlicht am 19.05.2023

 

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Als Kaljady (каляды) wird in Belarus und bei anderen slawischen Völkern die Zeit zwischen dem 25. Dezember und 6. Januar (und nach orthodoxem Ritus bis zum 19. Januar) bezeichnet, in der sich heidnische und christliche Rituale und Glaubensvorstellungen zu einer besonderen Art des Weihnachtsfestes vermengt haben. 

Die Festtage liegen in der Regel zwischen der Geburt Christi (25. Dezember) und der Taufe Christi (6. Januar). Ursprünglich gehen sie auf die Wintersonnenwende zurück, die Tage nach dem 21. Dezember also, wenn die Tage wieder merklich länger werden. In dieser Zeit sollen böse Geister durch fröhliche Lieder vertrieben werden. Dazu verkleiden sich die Menschen: als kasa (Ziege), ein Symbol der Fruchtbarkeit, als baba (Großmutter) oder dsed (Großvater), die für die verstorbenen Vorfahren stehen, als Soldat, ein Symbol für das bösmächtige und geheimnisvolle Fremde, als tschort (Teufel), der übermächtige Kräfte verkörpert, oder als wouk (Wolf), der in archaischen Vorstellungen als Entführer von Mädchen und jungen Frauen gilt. Es werden Symbole von Sonne und Sternen an Stöcken getragen. Man trägt nicht nur Kostüme und Masken, sondern auch traditionelle belarussische Kleidung. 

Eine Kaljady-Gesellschaft im Gouvernement Mahiljou aus dem Jahre 1903.

So gehen die festlichen Gesellschaften in den Dörfern von Haus zu Haus, häufig begleitet von Musikern, die auf traditionellen Instrumenten den Umzug auf das Fest einstimmen. Man singt Lieder zusammen, tanzt und isst zusammen bestimmte Speisen. Darunter vor allem kuzzja (куцця), eine süße Getreidespeise mit Honig, Nüssen, Rosinen oder Mohn, deren Verzehr Glück, Hoffnung und Unsterblichkeit bringen, die auch das familiäre Wohlbefinden stärken soll und die es in unterschiedlichen regionalen Versionen gibt. Da die Speise rund ist, steckt in ihr symbolhaft eine der Erklärungen für die etymologische Herkunft des Wortes kaljady. Als kola wird in ostslawischen Sprachen das Rad oder der Kreis bezeichnet. In diesem Sinne könnte kuzzja ein Symbol für die Sonne sein und kaljady in archaischer Vorstellung damit als ein Fest für das wiederkehrende Leben verstanden worden sein. Aber in Bezug auf die Etymologie gibt es keine eindeutige Erklärung. Einig ist sich die Wissenschaft lediglich darüber, dass das Wort aus vorchristlicher und womöglich sogar aus vorslawischer Zeit stammt, als der Beginn eines neuen Jahres mit den wieder länger werdenden Tagen gefeiert und entsprechend ritualisiert wurde.

In zahlreichen Regionen von Belarus sind die Kaljady-Rituale bis heute in variierenden Ausformungen lebendig. In dem Dorf Semeshawa beispielsweise stehen die Kaljady-Zaren im Mittelpunkt eines Schauspiels, an dem dutzende Dorfbewohner und Laienschauspieler teilnehmen. Dabei stürmen die Weihnachtssoldaten die Dorfhäuser, führen karnevaleske Tänze und Clownereien auf, was in der Vorstellung der Bewohner Glück, Harmonie und Wohlstand für das kommende Jahr versprechen soll. Das außergewöhnliche Ritual wurde 2009 sogar in die UNESCO-Liste des dringend zu schützenden immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

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