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Landschaft der Trauer

Kirchen, einstige Adels-Residenzen oder Gutshäuser – der belarussische Fotograf Valery Vedrenko beschäftigt sich mit der belarussischen Geschichte auf dem Landstrich zwischen Polesien im Süden und der Seenlandschaft im Norden von Belarus. Er fotografiert Bauten, die oft wie in die Gegend gewürfelt scheinen: Kleinode, klassizistisch, barock oder gotisch. 
Allesamt erzählen sie viel über die Geschichte seines Landes, die bis in die Zeit des Großfürstentums Litauen zurück reicht. Einige der Orte sind für die Nachwelt erhalten worden, besitzen sogar Unesco-Weltkulturerbestatus; andere sind sich selbst überlassene Ruinen.

Vedrenko wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Er hat sich mit unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen einen Namen gemacht, darunter mit Grafiken, Filmen und Malerei. Mit der Digitalisierung, sagt er, fand er einen ganz eigenen Zugang zur Fotografie, seither lässt er die Kunstformen miteinander verschmelzen. Wenn er die belarussischen Baudenkmäler dokumentiert, über die Jahre immer wieder zu ihnen zurückkehrt, hält er sich an digitale Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ohne Filter, ohne Effekte. So sind Bilder entstanden, die auch zeigen, wie schwer es dieses kulturelle Erbe in Belarus hat, einen festen Platz zu finden.

Quelle dekoder

Njaswísh, Fronleichnamskirche aus dem 16. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2006 / Foto © Valery Vedrenkodekoder: Ihre Fotografien zeigen Architekturdenkmäler, hauptsächlich Kirchen. Glockentürme zwischen Bäumen, Ruinen im Wald oder imposante Gebäude entlang ausgestorbener Dorfstraßen. Wie kommt es zu dieser Motivauswahl? 

Valery Vedrenko: Mich interessieren Sujets mit eigener Biografie. Die Wahl der Motive ergibt sich daher quasi von selbst. Die Architekturdenkmäler in den belarussischen Großstädten sind aus ihrem historischen Kontext gerissen und wirken eher wie Museumsstücke, die ihres natürlichen Umfelds beraubt sind. Daher reise ich umher und fotografiere in kleinen Ortschaften und Dörfern, in denen die Landschaft und das Alltagsleben noch mehr oder weniger natürlich sind. Allerdings gibt es von diesen Orten mit jedem Jahr weniger, und auch die Motive selbst verschwinden. Sie werden von den neuen Besitzern nach Gusto umgebaut, während sich die Orte selbst  in ländliche Siedlungen verwandeln, die dem Muster einer belarussischen Agrogorodok entsprechen. 

Die Fotoserie heißt Landschaft der Trauer. Ist Belarus das Land der vergessenen Ruinen?

Belarus hat zwei Gesichter. Es gibt das touristische und das lebendige Belarus. Im ersten werden Ihnen ein Dutzend restaurierter Schlösser und Kathedralen präsentiert, im zweiten finden Sie hunderte Kirchen, Gutshäuser und Wirtschaftsgebäude, die zu Ruinen verfallen. Zum historischen Erbe pflegt die Regierung ein Verhältnis wie zum Sport: Wichtig sind nur die Plätze auf dem Podest. Finanzielle Mittel werden nur für die herausragenden Denkmäler bereitgestellt, die Gewinn einbringen und von denen es nicht mehr viele gibt. Um die anderen sollen sich die lokalen Behörden kümmern, die weder über Geld, noch über die fachliche Ausbildung, noch über Infrastruktur verfügen. Deshalb nagt an vielen Architekturdenkmälern in den kleinen Städten und Dörfern der Zahn der Zeit, der leider alles in Ruinen verwandelt. Ich versuche, diese traurige Entwicklung in meinen Bildern festzuhalten, daher der Titel des Projekts.

Hängt die Tatsache, dass Kulturdenkmäler verfallen und in Vergessenheit geraten auch damit zusammen, dass die Belarussen ihre eigene Geschichte oft schlecht kennen?

Natürlich. Da kommen wir schon in den Bereich von Politik und der Bildung, die ihr untersteht. Um eine Metapher zu bemühen: Wenn in der Sowjetunion die Geschichte mit dem Jahr 1917 begann, dann hat die Geschichte in Belarus mit der Wahl der heutigen Staatsführung  begonnen. Alles, was davor war, ist kaum von Bedeutung. Die wirkliche Geschichte des Landes kann man nur in den Bibliotheken erfahren, nicht in den Schulbüchern, die alle fünf Jahre je nach aktueller Lage umgeschrieben werden. Ein solches Verhältnis zur Vergangenheit spiegelt sich unweigerlich auch im Zustand des architektonischen Erbes.

Kann es also sein, dass der Staat kein Interesse daran hat, die Erinnerung an die Geschichte zu bewahren?

Ich werde Ihnen meinen Standpunkt dazu erläutern: In Belarus gibt es weder eine klare Vorstellung von der eigenen Geschichte noch eine Beziehung zu ihr. Alles unterliegt der politischen Konjunktur. Was gestern noch erlaubt war, ist heute bereits verboten, und umgekehrt. Dieser Umstand wirkt sich auf die Einstellung der Beamten und lokalen Behörden aus, die über den Schutz des architektonischen Erbes entscheiden. Er führt zu Gleichgültigkeit nach dem Motto „Nur nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, nichts übereilen“. Und am einfachsten lässt sich das Problem mit der Antwort lösen: „Dafür ist kein Geld da“.

Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt entstanden?

Ich war schon mein Leben lang viel in Belarus unterwegs. Als die Fotografie zu meiner Hauptbeschäftigung wurde, zeichnete sich auch das Genre ab, das mir besonders lag: historische Landschaften. Aus irgendeinem Grund befanden sich die meisten noch erhaltenen Architekturdenkmäler im Westen des Landes. Die Serie (etwa 500 Fotografien) ist das Ergebnis zahlreicher Reisen in diese Regionen und ich beschloss, sie in einem Kunstband zu vereinen. Nach Sichtung und Analyse des aufgenommenen Materials trat jener spezifische Ton hervor, der dem Projekt seinen Namen gab.

Aus welcher Zeit stammen die Ruinen, die Sie fotografieren, und warum sind sie in so schlechtem Zustand?

Aus der Zeit zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, als das Großfürstentum Litauen und dann später die Rzeczpospolita  seine Bedeutung verlor und unsere Gebiete an das Russische Reich fielen. Am besten erhalten ist die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Klassizismus, der Jugendstil, die Neugotik ... Aber was die Geschichte bis dahin verschont hatte, fiel entweder dem letzten Krieg oder dem Sowjetregime zum Opfer. Die meisten sakralen Bauten und Gutshöfe wurden in Kolchosen verwandelt und solange sie standen, auch genutzt. Doch mit der Zeit wurde alles baufällig, die Gebäude hätten restauriert werden müssen, aber sie wurden, als sie ausgedient hatten, einfach verschlossen und ihrem Schicksal überlassen. In den 1990er Jahren gingen einige Gebäude an die Kirchengemeinden zurück, aber die alten Höfe blieben verwaist.

Welche Fotografie aus dieser Serie gefällt Ihnen selbst am Besten und warum?

Da gibt es selbstverständlich nicht die Eine. Aber es gibt eine Fotografie, die ich als Titelbild des Bandes Landschaft der Trauer verwenden wollte. Sie zeigt eine alte Lärche auf dem Friedhof von Ljachawitschy im Bezirk Brest. Ich finde, dass diese Fotografie aus dem Jahr 2013 sehr gut den Reichtum der Vergangenheit und die traurige Gegenwart des historischen Andenkens in Belarus widerspiegelt.

Gibt es irgendwelche lokalen Initiativen, Projekte oder Hilfen, um Gebäude zu retten, die sich in einem besonders schlechten Zustand befinden?

Die gibt es. Es gibt Versuche, leerstehende baufällige Gebäude bei Auktionen zu verkaufen. Manchmal, eher selten finden sich tatsächlich Käufer. Aber ich erinnere mich an keinen Fall, in dem das gekaufte historische Gebäude fachmännisch restauriert und entsprechend wieder genutzt wurde. Die für Belarus einzigartigen Schlösser in Shamyslaul und Shaludok haben schon mehrfach den Besitzer gewechselt. Ich war im September dieses Jahres dort und konnte nicht sehen, dass sich an ihrem traurigen Schicksal etwas geändert hätte. In der Regel treten die neuen Besitzer nach drei bis vier Jahren von ihrem Kauf zurück. Sie sind sich dann stärker bewusst, in was für einer Lage sich diese Schlösser befinden: Weit weg von den Hauptverkehrsstraßen – da gibt es keine Infrastruktur. Keine Hotels, keine Cafés, kein Freizeitangebot. Keine brauchbaren Straßen. Sie sehen sich mit zahlreichen Bau- und Sanierungsproblemen konfrontiert und begreifen, dass sie das investierte Geld nie wieder reinholen werden.

Wie arbeiten Sie normalerweise, wie kann man sich das vorstellen: Suchen und finden Sie Ihre Motive mehr oder weniger zufällig, wenn Sie unterwegs sind? Oder wissen Sie im Voraus, wohin Sie fahren wollen und welches Motiv Sie genau interessiert?

Da gibt es kein System. Selbst wenn ich an einen mir unbekannten Ort fahre, komme ich unterwegs unweigerlich an Orten vorbei, an denen ich schon mehrmals war. Belarus ist nicht groß. Das macht es leichter, Veränderungen wahrzunehmen und zu dokumentieren, sowohl die positiven als auch die negativen, wenn zum Beispiel etwas instandgesetzt wurde oder ein Haus, das eben noch da war, inzwischen eingestürzt ist. Aber besonders interessant ist, dass ich an mir bekannten Orten jedes Mal Motive entdecke, die ich zuvor noch nicht gesehen habe.

Wehrschloss von Mir, zunächst in gotischem Stil erbaut, später erweitert und umgebaut, Renaissance- und Barockeinflüsse. Genießt heute Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
Ruinen der Burg von Nawahrudak, wo der litauische Großfürst Mindaugas seinen Sitz hatte, erbaut im 13. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
Ursprünglich rein gotische, später umgebaute Christi-Verklärungskirche in Nawahrudak aus dem 14. Jahrhundert. Grundstein von Großfürst Witold gelegt, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
Klassizistische Kirche aus dem 19. Jahrhundert im Dorf Wischnewo im Norden von Belarus, fotografiert im Jahr 2015 / Foto © Valery Vedrenko
Kirche und Kirchturm aus dem 19. Jahrhundert, in einem Dorf nordwestlich von Minsk, fotografiert im Jahr 2013  / Foto © Valery Vedrenko
Katholischer Golgatha-Friedhof in Minsk, auf dem auch belarussisch-polnisch-litauische Adelsgeschlechter bestattet sind. Im Hintergrund: Kirche der Kreuzerhöhung, im 19. Jahrhundert als Steinkirche (wieder-)errichtet, fotografiert im Jahr 2016  / Foto © Valery Vedrenko

Kapelle auf einem Friedhof, erbaut im 19. Jahrhundert, Stadt Waloshyn, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
Kirche auf einem Friedhof im Städtchen Iwjanez. Ein Wagen zum Transport der Särge steht vor dem Eingang, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
Kapelle im Wald nahe dem Dorf Hruschauka, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Sie gilt als Grab-Gewölbe der polnischen Adelsfamilie Reitan, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko

Alte Dorfstraße, Warontscha, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
Njaswish, frühere Residenz des polnisch-litauischen Adelsgeschlechts Radziwiłł aus dem 15./16. Jahrhundert. Seit 2005 mit Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
Grabstein auf einem Friedhof im Dorf Lasduny, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
Siedlung Sembin: Ruinen einer Kirche, die im 19. Jahrhundert erbaut wurde, allerdings einen Vorgänger an selber Stelle aus dem 18. Jahrhundert hatte, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
Eine verfallene Kapelle im Schatten einer alten Lärche auf einem Friedhof in Ljachawitschy, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
Katholische Kirche in Rubjashewіtschy, eine ländliche Siedlung südwestlich von Minsk. Erbaut im neogotischen Stil Anfang des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko

Kirche, neogotischer Stil, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2013 / Foto © Valery Vedrenko
Schloss in Shaludok, das der polnische Architekt Władysław Marconi für die fürstliche Familie Czetwertyński entworfen hatte, erbaut 1908, Neobarock, fotografiert im Jahr 2017  / Foto © Valery Vedrenko
Kreuzung im Dorf Galschany im Nordwesten von Belarus nahe der litauischen Grenze, fotografiert im Jahr 2014 / Foto © Valery Vedrenko

Fotograf: Valery Vedrenko
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: dekoder-Redaktion
Übersetzung: Henriette Reisner
Veröffentlicht am: 30.09.2021

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Gnose Belarus

Die Belarussische Volksrepublik

Zwischen dem Zerfall des Zarenreiches und der Gründung einer belarussischen Sowjetrepublik wurde 1918 in Minsk eine unabhängige Republik ausgerufen. Doch das Projekt scheiterte. Die Republik verfügte weder über ein festumrissenes Territorium noch eine eigene Verfassung und nach nicht einmal einem Jahr mussten ihre Vertreter Belarus verlassen. Thomas M. Bohn über die Belarussische Volksrepublik und ihre Bedeutung für die heutige Opposition.

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Die Beziehungen zwischen Belarus und der EU

Die Beziehungen zwischen der EU und Belarus gleichen einer Achterbahn, in der es einige Höhepunkte, aber noch viel mehr Tiefpunkte gibt. Im Zuge der beispiellosen Repressionswelle nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020, infolge derer die EU Alexander Lukaschenko nicht mehr als legitimen Präsidenten von Belarus anerkennt, rast der Achterbahnwagen förmlich auf einen Abgrund zu. Doch wann immer der endgültige Tiefpunkt erreicht scheint, wird ein neuer Boden durchbrochen.

Die EU-Russland-Beziehungen waren am 28. Juni 2021 an einem weiteren vorläufigen Tiefpunkt angelangt, als das belarusische Außenministerium verkündete, die belarusische Teilnahme an der Östlichen Partnerschaft bis auf Weiteres einzustellen. Damit reagierte das Land auf das bereits vierte Sanktionspaket der EU seit August 2020, das am 24. Juni 2021 als Antwort auf die erzwungene Landung von Ryanair Flug 4978 und der Festnahme von Roman Protassewitsch verabschiedet worden war. Im Rahmen dieser Kettenreaktion fror Belarus auch das Abkommen über Rückübernahme ein, welches erst am 1. Juli 2020 in Kraft getreten war, und machte sofort seine Drohung wahr, wonach dieser Rückzug Auswirkungen auf die Bekämpfung der undokumentierten Migration und der organisierten Kriminalität haben würde. Lukaschenko forcierte seitdem geradezu den „Export“ von Migranten, insbesondere aus dem Irak, und verursachte eine manifeste humanitäre- und Migrationskrise in den Grenzgebieten mit Litauen, Lettland und Polen.

Partnerschaft auf Abwegen

Diese jüngste Abwärtsspirale steht wie im Zeitraffer für die EU-Belarus-Beziehungen der letzten drei Jahrzehnte. Immer wieder wurden die kurzen Phasen der Annäherung von anhaltenden Perioden tiefgreifender Entfremdung abgelöst. Nach der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1991 hatte das junge postsowjetische Land schnell diplomatische Beziehungen mit der EU aufgenommen und schließlich im März 1995 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) unterzeichnet. Der im PKA vorgesehene politische Dialog sollte den demokratischen Wandel und die marktwirtschaftliche Transformation des Landes unterstützen. Doch das Abkommen wurde nie ratifiziert. Denn nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 hebelte Lukaschenko mit dem Verfassungsstreich von 1996 den Obersten Sowjet aus und konzentrierte alle Macht im Präsidentenamt1 – was von der Venedig-Kommission und der EU als nicht den demokratischen Standards entsprechend eingestuft wurde. Mit seinen Schlussfolgerungen vom 15. September 1997 beendete der Rat den Ratifizierungsprozess des PKA. Grundlage für die Beziehungen zwischen der EU und Belarus bleibt somit bis heute ein Abkommen über Handel und wirtschaftliche Kooperation, welches noch mit der Sowjetunion im Jahr 1989 geschlossen wurde.

In der Folge verhielt sich Lukaschenko – in den Worten der EU-Schlussfolgerungen von 1997 – nicht nur nicht konstruktiv, sondern geradezu obstruktiv. Der Drozdy-Konflikt im Jahr 1998, infolgedessen die Botschafter der EU und der USA das Land verlassen mussten, ist hierfür ein weiteres eindrückliches Beispiel. Schon in den ersten Jahren der Lukaschenko-Herrschaft wurden somit die Divergenzen zwischen den normativen Ansprüchen und Interessen der EU und den immer autoritärer werdenden Herrschaftspraktiken des Lukaschenko-Regimes deutlich. 

Das Sanktionsparadox

In Reaktion auf Verstöße gegen demokratische Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Belarus griff die EU häufig auf Sanktionen als außenpolitische Zwangsmaßnahme zurück. Erstmals verabschiedete der Rat 2004 umfangreiche personenbezogene Sanktionen, nachdem der sogenannte Pourgourides-Bericht die Beteiligung von hochrangigen belarusischen Offiziellen am Verschwinden von vier Personen in den Jahren 1999/2000 nachgewiesen hatte.2

Weitere bedeutende Sanktionspakete folgten auf die Präsidentschaftswahlen der Jahre 2006, 2010 und 2020/2021, in deren Verlauf es zu Wahlfälschungen sowie zu Gewalt und Repressionen gegen Oppositionelle und Protestierende kam. Die EU verzichtete dabei auf sektorale Sanktionen und setzte stattdessen auf „smarte“ Sanktionen, die sich gezielt gegen Personen, Unternehmen oder auch staatliche Institutionen richten. Ergänzt wurde dies um ein Exportverbot von Gütern, die für interne Repression missbraucht werden können, sowie um ein Waffenembargo. Im Juni 2021 verbot die EU der nationalen Fluggesellschaft Belavia den Zugang zum Luftraum der EU. Zudem erließ die EU ein Einfuhrverbot von Kalidünger, einem der wichtigsten Exportgüter von Belarus.

Doch je mehr Druck von außen auf das Lukaschenko-Regime ausgeübt wird, desto weniger Spielraum bleibt der EU, um durch Handel, Kredite oder Kooperationspartner Einfluss auf die Prozesse im Land zu nehmen – in der Forschung spricht man von dem sogenannten „Sanktionsparadox“3. Insgesamt wird die EU-Sanktionspraxis daher kontrovers diskutiert. Einerseits versichert die EU damit der Welt und sich selbst, dass sie zu ihren proklamierten Werten steht. Zudem signalisiert sie einerseits den belarusischen demokratischen Kräften, dass sie deren Bestreben ernst nimmt und andererseits dem Regime, dass es bei weiteren Repressionen hohe Kosten in Kauf nehmen muss. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass die EU-Sanktionen zu keiner Verhaltensänderung geführt haben und keine Demokratisierung des Landes erzwingen konnten.4 So besteht zum Beispiel kein Zusammenhang zwischen der Härte der Sanktionen und der Freilassung von politischen Gefangenen. Eine weitere Gefahr von schärferen Sanktionen besteht darin, dass Belarus noch stärker in die Abhängigkeit von Russland getrieben wird.

Externe Demokratisierungshilfe

Jenseits von Sanktionen war die EU auch bemüht, die Demokratisierung von Belarus mit Kooperationsangeboten an die Zivilgesellschaft zu fördern. Im Jahr 2009 wurde Belarus schließlich in die Östliche Partnerschaft der EU aufgenommen. Aufgrund des fehlenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens ist das als größter bisheriger Meilenstein in den bilateralen Beziehungen zu werten.

Insbesondere in den Bereichen Forschung und Politikberatung, Bildung, Bürgerrechte, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, Regionalentwicklung und Kultur entstanden enge Verbindungen.5 Über Kanäle wie das Zivilgesellschaftliche Forum der Östlichen Partnerschaft bekam die belarusische Zivilgesellschaft nicht nur einen direkten Draht zur EU, sondern auch ein Forum, um sich zumindest formal bei der belarusischen Regierung Gehör zu verschaffen.6

Im Zuge der beispiellosen Repressionswelle in den Jahren 2020 und 2021 bleibt der EU als externem Akteur jedoch nur die Option, Schadensbegrenzung zu betreiben, die Dokumentation der Repression zu fördern und das Fortbestehen von wichtigen Akteuren der belarusischen Zivilgesellschaft außerhalb von Belarus zu sichern.7

Funktionale Kooperation und Geopolitik

Als dritter Weg neben Sanktionen und Demokratieförderung erwies sich mit den Jahren die funktionale Kooperation. Obwohl ein Ausbau der Beziehungen nach EU-Prinzipien eigentlich nur dann erfolgen darf, wenn Belarus Fortschritte in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte vorweist, ergab sich mit der EU-Osterweiterung 2004 zunehmend die Notwendigkeit zur Kooperation. Mit Litauen, Lettland und Polen wurden drei Nachbarstaaten von Belarus zu EU-Mitgliedern. Diese technokratische Zusammenarbeit der EU mit Belarus erfolgte vorwiegend in wenig politisierten Bereichen, in denen es eine große Überschneidung gemeinsamer Interessen gab, etwa in ‚weichen‘ Sicherheitsbereichen wie Schmuggel oder Migrationsfragen.

Auch für Lukaschenko gab es einige strukturelle Faktoren, die ihn immer wieder die Annäherung an die EU suchen ließen. Zum einen blickten Teile der technokratischen, reformorientierten Elite auf die EU, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben. Zweitens ist die EU als Wirtschaftsblock nach Russland der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus. Und drittens zeigte sich Lukaschenko gerade immer dann der EU zugeneigt, wenn es galt, den wachsenden Einfluss Russlands auszugleichen. Zudem sollte mit der Drohung, sich außenpolitisch zu diversifizieren, mehr Subventionen aus dem östlichen Nachbarn herausgeschlagen werden. Mit diesem sogenannten „Souveränitätsunternehmertum“8 versuchte Lukaschenko, die in Integrationskonkurrenz stehenden Regionalmächte EU und Russland gegeneinander auszuspielen.

So demonstrierte Belarus etwa nach der russischen Krim-Annexion 2014 weiterhin äußerste Loyalität gegenüber Russland und profitierte als Lebensmittel(re)exporteur auch von den russischen, gegen die EU gerichteten Sanktionen. Andererseits weigerte sich Lukaschenko, die Krim als russisch anzuerkennen, stellte Minsk als internationale Plattform für Friedensverhandlungen zur Verfügung und zeigte sich ebenfalls um gute Beziehungen zur Ukraine bemüht. Die EU honorierte diese außenpolitische Zurückhaltung und die mit vergleichsweise mäßigen Repressionen abgehaltenen Präsidentschaftswahlen im Oktober 2015 damit, dass Sanktionen gegen 170 Personen und drei Unternehmen im Februar 2016 nicht mehr verlängert wurden und 2016 die gemeinsame Mobilitätspartnerschaft beschlossen wurde.

Auch die Europäische Investitionsbank (EIB) unterstützte ab 2018 Projekte im Bereich Kleine und Mittelständische Unternehmen, nachhaltige Energiewirtschaft, Transportinfrastruktur oder Wasserwirtschaft.9 Dieser Versuch einer „Normalisierung“ der Beziehungen, die seitens der EU auf der Philosophie des „prinzipientreuen Engagements“10 beruhte, hatte neben der rein technokratischen funktionalen Kooperation noch eine weitere Absicht, hatte sich die EU doch auf die Fahne geschrieben, in der eigenen Nachbarschaft deutlich geopolitischer zu agieren: Angesichts des erhöhten Integrationsdrucks, der ab 2018 von Russland auf Belarus ausgeübt wurde, sollte durch intensivierte Kooperation mit Belarus vor allem dessen Souveränität und staatliche Unabhängigkeit gestärkt werden.11 Die Ereignisse seit August 2020 verdeutlichen allerdings, dass die staatliche Souveränität von Belarus vor allem von den Absichten Russlands abhängt und die Möglichkeiten der EU verschwindend gering sind.

Meinung der belarusischen Bürger

Langjährige Meinungsumfragen von verschiedenen Instituten legen nahe, dass in den letzten zwei Jahrzehnten in der Regel mehr Belarusen eine Integration mit Russland befürwortet haben als mit der EU.

Quelle

Allerdings lassen sich einige Schwankungen beobachten. So bevorzugten zwischen 2009 und 2013 mehr Belarusen eine Integration mit der EU als mit Russland, ein Trend, der möglicherweise mit der Aufnahme von Belarus in die Östliche Partnerschaft und Handelskonflikten mit Russland in Verbindung steht. Mit der Annexion der Krim und dem anhaltenden Konflikt zwischen Russland und dem Westen wendete sich das Blatt allerdings wieder. Verschiedene Umfragen legen nahe, dass seit dem Krieg in der Ukraine eine Mehrheit der Belarusen eher eine Integration mit Russland als mit der EU bevorzugt.13

Neuere Umfragen, die nach August 2020 durchgeführt wurden, zeigen, dass sich das Gesamtbild grundsätzlich nicht verändert hat, auch wenn Teilnehmende an den Protesten der EU tendenziell positiver gegenüberstehen als der Durchschnitt der Bevölkerung.14

Werden hingegen mehr Antwortmöglichkeiten vorgegeben, bevorzugt die absolute Mehrheit der Befragten entweder eine gleichzeitige Integration sowohl mit Russland als auch der EU (41,1 Prozent) oder gar kein geopolitisches Bündnis (22,6 Prozent).15

Strebt die EU also langfristig eine tiefere Integration mit Belarus an, muss sie in Belarus das Wissen über sich erhöhen und das eigene Image verbessern. Zudem muss sie damit rechnen, dass ein großer Anteil der Belarusen weiterhin Russland Sympathien entgegenbringen oder zumindest einer Integrationskonkurrenz der beiden Regionalmächte EU und Russland skeptisch gegenüberstehen wird.16


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.  Burkhardt, Fabian (2016): Belarus, in: Fruhstorfer, Anna / Hein, Michael (Hrsg.): Constitutional Politics in Central and Eastern Europe, S. 463-493. 
2. Official Journal of the European Union: COUNCIL COMMON POSITION 2004/661/CFSP of 24 September 2004 concerning restrictive measures against certain officials of Belarus
3. Kryvoi, Yaroslau / Wilson, Andrew (2015): From sanctions to summits: Belarus after the Ukraine crisis (ECFR Policy Memo 132)
4. Grauvogel, Julia / von Soest, Christian (2014): Claims to legitimacy count: Why sanctions fail to instigate democratisation in authoritarian regimes, in: European Journal of Political Research 53(4), S. 635-653.
5. Mazepus, Honorata et. al. (2021): Civil society and external actors: how linkages with the EU and Russia interact with socio-political orders in Belarus and Ukraine, in: East European Politics 37(1), S. 43-64. Die kritische Forschung über externe Demokratieförderung weist allerdings darauf hin, dass die Unterstützung von politischer Opposition indirekt auch zur Stärkung des autoritären Status quo beitragen haben könnte, indem es sich für Geber und Geförderte als vorteilhaft erwies, die externe Förderung aufrecht zu erhalten, obwohl die gewünschten Ergebnisse nicht eingetreten sind, vgl. Pikulik, Alexei / Bedford, Sofie (2019): Aid Paradox: Strengthening Belarusian Non-democracy through Democracy Promotion, in: East European Politics and Societies: and Cultures 33(2), S. 378-399. 
6. Shmatsina, Katsiaryna (2020): 10 Jahre Östliche Partnerschaft für Belarus – Erfolg, Misserfolg oder etwas dazwischen?, in: Belarus-Analysen Ausgabe 47, S. 2-6. 
7. Auswärtiges Amt: Gegen Repression und Gewalt: Ein Aktionsplan für die Zivilgesellschaft in Belarus
8. Nice, Alex (2012): Belarus: Zwischen Russland und der EU. Präsident Lukaschenko nutzt den Gegensatz zwischen Russland und der EU geschickt zum Regimeerhalt, in: DGAP Analyse 02
9. European Investment Bank: Financed projects in Belarus.
10. Marin, Anaïs (2016): Belarus: Time for a ‘principled’ re-engagement (Policy Brief of the European Union Institute for Strategic Studies).
11. Lough, John (2019): Belarus: Danger ahead – EU response needed (Libmod Policy Paper). 
12. Quellen: Repräsentative Umfrage des Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies (IISEPS) vom Dezember 2015 und September 2008. Daten ab Dezember 2015: Andrej Wardamackij (Belarusian Analytical Workroom), Frage: In welcher Union wäre es besser – in der EU oder in einer Union mit Russland
13. Vgl. Belarus-Analysen: Umfragen des Belarusian Analytical Workroom und Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies (IISEPS)
14. Vgl. die Umfragen von Chatham House (2021): Belarusians’ views on the political crisis, OSW (2021): Belarusians on Poland, Russia and themselves und ZoiS (2021): Belarus at a crossroads: attitudes on social and political change
15. Meinungsumfrage von Chatham House (2020): Welcher geopolitische Block ist für Belarus besser geeignet? 
16. Burkhardt, Fabian (2020): Verfassungsreform in Belarus: die EU und Russland setzen auf unterschiedliche Wege aus der Krise, in: Belarus-Analysen Ausgabe 52, S. 21-23. 

 

 

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterhält die Republik Belarus enge politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen zu Russland. Und auch für den großen östlichen Nachbarn ist Belarus der zentrale regionale Verbündete. Seit der Niederschlagung der Proteste von 2020 und seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die Abhängigkeiten von Belarus deutlich zu Gunsten Russlands verschoben. Eine Gnose von Nadja Douglas.

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