Medien

„Er ist nicht unser Zar“

Am 5. Mai 2018, dem Samstag vor Putins vierter Amtseinführung, hatte Oppositionspolitiker Nawalny erneut zu Protesten aufgerufen: „Er ist nicht unser Zar“ lautete die Parole der Kundgebungen in ganz Russland. Die klang schon deutlich mehr nach Systemwechsel als noch im Jahr zuvor, als die Menschen vor allem gegen die Korruption auf die Straße gegangen sind. Unter dem Motto „Dimon wird antworten” waren die damals auch eher gegen Dimitri Medwedew, nicht gegen Putin selbst gerichtet.
Beobachtern zufolge gingen der Staat und staatsnahe, selbsternannte Bürgerwehren am vergangenen Samstag mit besonderer Härte gegen die Demonstranten vor, die Slogans wie „Wir sind die Macht” skandierten. Im Internet machten auch Bilder von der Festnahme Minderjähriger die Runde.

Laut der Bürgerrechtsorganisation OWD-Info wurden in 27 Städten knapp 1600 Personen festgenommen. Neben Moskau und Petersburg gab es Demonstrationen in Tscheljabinsk, Krasnodar, Woronesh und zahlreichen weiteren russischen Städten.

Während staatsnahe Medien die Proteste wie gewohnt weitgehend ignorieren, berichten vor allem unabhängige Medien darüber. dekoder bringt Ausschnitte daraus, zeigt Bilder und ein Video der Proteste.

Quelle dekoder

Video: Konstantin Selin/Fontanka.ru (Original)

Vedomosti: Staat bringt sich in Misskredit

Die Redaktion von Vedomosti stellt die Ereignisse vom 5. Mai in Zusammenhang mit dem heutigen vierten Amtsantritt Putins – und fragt, ob der Kreml gut damit beraten ist, gewaltsam gegen die vielen jugendlichen Protestierenden vorzugehen:

Deutsch
Original
Die Amtseinführung Wladimir Putins, bei der er am Montag zum vierten Mal den Eid als russischer Präsident ablegen wird, wie auch schon 2012, verläuft im Schatten der vor dem Festakt gewaltsam auseinandergetriebenen oppositionellen Kundgebunden. Womöglich wurde dabei noch brutaler vorgegangen als in den vergangenen Jahren. [...]
Doch eine solche Brutalität wird kaum effektiv sein. Die hohe Wahrscheinlichkeit im Awtosak zu landen kann, im Gegenteil, die Teilnahme an Protestveranstaltungen bei Jugendlichen nur romantisieren. [...]
Die Landesgeschichte und Ereignisse in postsowjetischen Ländern zeigen, dass solche Organisationen [wie der Kosakenverband ZKW – dek] nicht in der Lage sind, den Staat im Falle seriöser Unruhen zu unterstützen. Stattdessen können sie ihn in Misskredit bringen durch Gewalt gegen Heranwachsende und Frauen, was sogar bei den Loyalen Kritik hervorruft.
Инаугурация Владимира Путина, который в понедельник в четвертый раз принесет присягу президента России, как и в 2012 г., пройдет под знаком предшествовавшего торжествам силового разгона оппозиционных выступлений – возможно, еще более жесткого, чем последние несколько лет. [...] Но такая жестокость вряд ли будет эффективной. Высокие шансы оказаться в автозаке, напротив, могут только романтизировать участие в протестных акциях для молодежи. [...]

Отечественная история и события в постсоветских странах показывают, что подобные организации не способны поддержать государство в случае серьезных волнений. Зато они могут дискредитировать его насилием против подростков и женщин, которое вызывает осуждение даже у лоялистов.

erschienen am 06.05.2018

„Sie tun ihm weh! Hören sie auf!“ rufen Demonstrierende / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

Echo Moskwy: Gespaltene Opposition

Auf Echo Moskwy beklagt der Menschenrechtler Juri Samodurow, dass die Opposition gespalten sei. Dabei wäre eine gemeinsame Aktion viel wirksamer gewesen.

Deutsch
Original
All die Oppositionellen, die gegen diese Aktion waren und dagegen auf Facebook und Echo Moskwy getrommelt hatten, à la „wir wollen für Nawalny nicht die Kohlen aus dem Feuer holen. Nawalny ist ein autoritärer Leader usw.“ – die haben diese Aktion einfach nicht verstanden!

Wenn Jawlinski und Nawalny, Kassjanow und Netschajew ZUSAMMEN zu dieser nicht-genehmigten, friedlichen und freien Aktion der Bürger aufgerufen hätten, wenn sie denn auch ZUSAMMEN gekommen wären, dann HÄTTE der 5. MAI die politische Atmosphäre in unserem Land zum Besseren ÄNDERN KÖNNEN.

Jawlinski und Kassjanow und Borowoj und Netschajew haben wieder mal ihre Chance verpasst, außerdem haben sie die Jugend heute allein gelassen, sie der Polizei, der Nationalgarde, dem OMON überlassen.

Все оппозиционеры режиму Путина, кто были против и агитировали против этой акции в фейсбуке и на Эхо Москвы , говоря «не хотим таскать каштаны из огня для Навального. Навальный авторитарный лидер и т.п. и т.д.» ничего в этой акции не поняли!

Если бы к этой несогласованной , мирной и свободной акции граждан призвали и Явлинский и Навальный и Касьянов и Нечаев и статусная интеллигенция и правозащитники ВМЕСТЕ и пришли бы на нее тоже ВМЕСТЕ , то 5 МАЯ МОГЛО ИЗМЕНИТЬ политическую атмосферу в нашей стране в лучшую сторону.

И Явлинский и Касьянов и Боровой и Нечаев снова упустили свой шанс, а кроме того оставили молодежь сегодня одну, наедине с полицией, Росгвардией, ОМОНОм...

erschienen am 05.05.2018

Teilnehmer der Demo auf dem Puschkin-Platz in Moskau: „Ihr könnt  nicht alle blockieren.“ „Es reicht, ihr habt genug über mich hinweg entschieden!“ / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

Facebook/Galljamow: Bilderkampf gewonnen

Der politische Kampf ist auch ein Kampf der Bilder. Vor allem Fotos von Verhaftungen Minderjähriger machten in Sozialen Medien die Runde. Auf Facebook kommentiert der Politikwissenschaftler Abbas Galljamow:

„Besonders gefährlich“

Deutsch
Original
Dem Fotografen dieses Bildes ist Nawalny noch bis an sein Grab zu Dank verpflichtet. Wie auch dem Jungen. Ein einziges solches Foto reicht, um die Regierung für gescheitert zu erklären. Unsere Sicherheitskräfte sind natürlich unverbesserlich. Sie sind es, die mit ihrem Feuereifer das Regime zu Grabe tragen.
Автору этого фото Навальный должен будет по гроб жизни обязан. Как и мальчишке, конечно. Одной этой фотографии достаточно, чтобы объявить власть проигравшей.

Наши силовики, конечно, неисправимы. Именно они своим рвением режим и угробят.

erschienen am 05.05.2018

Die Menge ruft: „Man hat den Zar verhaftet!“ Der Schildträger fordert:  „Putin soll Imperator werden“ / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

Republic: Image eines Polizeistaats

Auf Republic sinniert Oleg Kaschin nach dem gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte und den Provokationen durch die Kosaken darüber, weshalb sich der russische Staat immer mehr als Polizeistaat darstelle:

Deutsch
Original
Der russische Staat will heute wie ein Polizeistaat aussehen. Das ist kein Fehler und kein Missverständnis, sondern eine bewusste Entscheidung, die die Staatsmacht getroffen hat. Um eine revolutionäre Bedrohung zu bekämpfen, braucht es gar keine revolutionäre Bedrohung. Die Leute, die eine solche Aufgabe haben – die politische Stabilität aufrecht zu erhalten – werden sie immer aufrecht erhalten, ganz unabhängig davon, ob sie bedroht ist oder nicht.
Der Albtraum der Administration des Präsidenten, der anti-extremistischen Polizeiabteilungen, der militärischen Einheiten der Rosgwardija, und so weiter, bis hin zu eben jenen Kosaken, ihr Albtraum ist eine Protestaktion, zu der niemand kommt, so dass sie mit der Bedrohung, auf deren Bekämpfung heute ihr ganzes Leben ausgerichtet ist, alleine dastehen.[...]
Diese hausgemachte Landschaft politischer Konfrontation ist heute womöglich der beste Schutz der Staatsmacht vor irgendwelchen Überraschungen. Du kannst auf den Platz gehen, du wagst dich zu verabredeter Zeit auf den Platz – und die Staatsmacht wird dort auf dich warten, sie braucht dich.
Сегодня российское государство хочет выглядеть полицейским. Это не ошибка и не недоразумение, это сознательный выбор, сделанный властью. Чтобы бороться с революционной угрозой, сама по себе революционная угроза не нужна. Люди, у которых такая работа – обеспечивать политическую стабильность, – будут обеспечивать ее всегда вне зависимости от того, угрожает ей что-нибудь или нет. Наверное, кошмаром администрации президента, антиэкстремистских полицейских управлений, боевых подразделений Росгвардии и так далее вплоть до тех же казаков – их кошмаром была бы протестная акция, на которую вообще никто не пришел, оставив их без той угрозы, на противодействии которой выстроена сегодня вся их жизнь.[...]
Рукотворный ландшафт политического противостояния – пожалуй, сегодня именно он служит лучшей защитой власти от любых неожиданностей. Можешь выйти на площадь, смеешь выйти на площадь в назначенный час – власть ждет тебя там, ты ей нужен.

erschienen am 07.05.2018

Diskussion über Putin zwischen einem nationalistisch eingestellten Demonstrierenden und einer NOD-Anhängerin / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

Facebook: Böse, archaisch, das Volk hassend

Der kremlkritische Journalist Alexander Morosow kommentiert auf Facebook, dass der schwarze Peter nun bei der Staatsmacht liege:

Deutsch
Original
Nawalny geht immer alles leicht und präzise von der Hand, und mit einer klaren Botschaft an die Öffentlichkeit. Es schien, dass in diesem Jahr nichts auf Komplikationen rund um die Amtseinführung hindeuten würde: Alle haben Angst, das Gefühl allgemeiner Hoffnungslosigkeit wächst, die Post-Krim festigt sich auf allen Gebieten, Politik und Protest ist sogar im Bewusstsein kritisch denkender Menschen zu etwas geworden, wovon man sich besser fernhält.

Und doch gab es ein ideales Ergebnis: Ein Rekordanzahl von Festnahmen in [rund] 30 Städten, furchtbare Videos, auf denen OMON-Leute wie Bestien auf normale Bürger eindreschen, Ultrarechte mit Peitschen stürzen sich auf dem Puschkin Platz auf die Versammelten. Ein Zwölfjähriger wird von einem Schrank von Wachtposten mit brutaler Fresse im schmerzhaften Griff zum Mannschaftswagen geführt.

Das politische Regime produziert sich auf allen internationalen Informationsplattformen unausgesetzt als böse, archaisch und das Volk hassend (Volksgegner).

У Навального все получается всегда очень просто, точно и с ясной доставкой контента аудитории. Казалось бы ничто не предвещало никаких осложнений вокруг инаугурации в этом году: все запуганы, общее чувство безнадежности растет, посткрым укрепляется во всех сферах, "политика" и "протест" превратились в сознании даже критически мыслящих людей в нечто, от чего нужно держаться подальше.

И тем не менее - опять идеальный результат: рекордное количество задержаний в 30 городах, жуткие видео, где ОМОН с озверением избивает обычных граждан, ультраправые с плетьми нападают на собравшихся на Пушкинской площади, 12-летнего подростка болевым приемом ведет в автозак крупный мордатый "вертухай". То есть политический режим непрерывно ведет "презентацию" себя на все мировые информационные панели в качестве избыточно злобного, архаичного и ненавидящего "население" (антинародного).

erschienen am 06.05.2018

Teilnehmende werfen Plastikflaschen auf die OMON-Kräfte / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

New Times: Mit Peitschen und Schraubenziehern

Andrej Kolesnikow ist Politikwissenschaftler und Programmdirektor von Carnegie Moscow Center. Auf New Times erklärt er, warum man von der neuen-alten Staatsmacht keine wirklichen Wunder erwarten dürfe:

Deutsch
Original
Den Problemen von brennenden Einkaufszentren und der Umwandlung ganzer Regionen des Landes in Mülleponien ist nicht mit der Heiligung von Georgsbändchen beizukommen. Was es in der vierten Legislaturperiode bestimmt nicht geben wird, ist Zauberei: Durchbrüche aller Art und erstaunlich effektive Regierungswunder. Auch dann nicht, wenn tonnenweise Reliquien aller Heiligen, die es gibt auf dieser Welt, angeliefert werden, und wenn alle Ämter mit Technokraten besetzt werden und mit Wachleuten aus dem System FSO. Man muss arbeiten, aber nicht mit Peitschen und Schraubenziehern die Daumenschrauben anziehen, sondern mit Kopf und Herz. Diese Einsicht ist bislang nicht bei der Staatsmacht Russlands angekommen. Und höchstwahrscheinlich wird sie überhaupt nicht mehr ankommen.
Проблемы горящих торговых центров и превращения целых регионов страны в свалки нельзя решить освящением георгиевских ленточек. Чего точно не будет в четвертом сроке, так это волшебства — всяких там прорывов и удивительной эффективности в управлении. Даже если тоннами возить сюда мощи всех святых, имеющихся в наличии на земле, и поназначать на все должности «технократов» и охранников из системы ФСО. Придется работать, но не нагайками и отвертками, закручивающими гайки, а головой и сердцем. Понимание этого к российским властям еще не пришло. И, скорее всего, уже не придет.

erschienen am 06.05.2018

Eine der ersten Festnahmen: „Russland, das sind wir", steht auf dem Schild / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

MBX.media: Zeichen der Ohnmacht

Für den renommierten Politikwissenschaftler Dimitri Oreschkin ist das gewaltsame Vorgehen gegen die Protestierenden nur eine Erscheinung der Ohnmacht vom System Putin, wie er im Interview mit MBX.media darstellt. Der Kanal ist von Putin-Kritiker Michail Chodorkowski finanziert und nach seinen Initialien (Michail Borissowitsch Chodorkowski) benannt.

Deutsch
Original
Da Putin bei den Wahlen die Mehrheit der Stimmen bekommen hat, meinen er und seine Leute, dass sie volles Recht hätten, den ganzen Protest schnell zu ersticken. Er muss die Zensur einschalten und den Mund derer stopfen, die unzufrieden sind. Das wäre unabhängig davon passiert, ob die Menschen am 5. Mai auf die Straße gegangen wären oder nicht, ob sie in Awtosaks gesteckt worden wären oder nicht. Das Auseinandertreiben [von Protesten – dek] ist nicht die Ursache, sondern eines der Phänomene der neuen Politik. Wenn nicht bei dieser Demo, dann hätten wir die Daumenschrauben bei irgendwas anderem beobachten können – zum Beispiel bei dem Druck auf Medien oder auf die Organisatoren von Umweltprotesten. Das wird auf jeden Fall passieren, denn das Wesen von Putins Herrschaft besteht nicht im Dienst an der Gesellschaft, sondern im Selbsterhalt.

Je schlechter, je ineffektiver die Machtvertikale selbst ist, desto fester muss sie die Daumenschrauben anziehen.

Так как Путин получил большинство голосов на выборах, он и его люди считают, что у них есть полное право быстренько задушить весь протест. Ему нужно включать цензуру, прикрывать рот тем, кто не доволен. Это произошло бы независимо от, того вышли бы люди 5 мая или нет, распихали бы их по автозакам или нет. Разгон не причина, а одно из явлений новой политики. Если не на этом митинге, то мы увидели бы закручивание гаек в чем-нибудь другом — например, в давлении на СМИ или на организаторов экологических протестов. Это в любом случае будет, потому что сущность власти Путина не в служении обществу, а в самосохранении.

Чем хуже, чем менее эффективна сама вертикаль, тем больше ей приходится закручивать гайки.

erschienen am 06.05.2018

Menschen in Kosakenuniforn schlagen auf Demonstrierende ein / Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

Als Menschenkette marschieren Demonstrierende den OMON-Kräften entgegen / Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

Foto © Viktoria Odissonowa/Novaya Gazeta

Erschienen am 07.05.2018
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Bolotnaja-Bewegung

Am 6. Mai 2012 wurden beim Marsch der Millionen nach Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei etwa 650 Menschen verhaftet. Mischa Gabowitsch über den Bolotnaja-Prozess und die vorangegangenen Proteste 2011/12.

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Protestbewegung 2011–2013

Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.

Die bislang größte Protestwelle in Russlands postsowjetischer Geschichte wurde durch die Dumawahlen am 4.12.2011 ausgelöst. Die freiwilligen Wahlbeobachter, die zum ersten Mal so zahlreich angetreten waren, erlebten die massiven Fälschungen an diesem Tag als unmittelbaren emotionalen Schock. Eine Erfahrung, die sich über zahlreiche Posts in Freundesnetzwerken und sozialen Medien rasch verbreitete, nachdem Wladimir Putins Ankündigung im September 2011, nach vier Jahren als Premierminister wieder die Präsidentschaft übernehmen zu wollen, bereits viel Unmut ausgelöst hatte. Die Proteste richteten sich vor allem gegen Putin und die Partei Einiges Russland, doch das Themenspektrum weitete sich schnell aus. Viele zuvor apolitische Menschen machten auf den – fast ausschließlich friedlichen – Demonstrationen, Einzelaktionen und Camps ihre ersten Protesterfahrungen. Es gelang der Bewegung jedoch nicht, Putins Rückkehr an die Macht zu verhindern. Differenzen zwischen den Teilnehmern ebenso wie die repressive Reaktion des Staates brachten die Bewegung – nicht jedoch andere Protestformen – schließlich zum Versiegen.

Mediale Repräsentation und Wirklichkeit klaffen in Bezug auf die Protestbewegung weit auseinander. In journalistischen Darstellungen war oft die Rede von einer Oppositionsbewegung oder dem Protest einer Moskauer „kreativen“ oder Mittelklasse. Oft wird auch nur vom Protestwinter 2011–12 gesprochen, womit vor allem die ersten, teilweise karnevalesk anmutenden Massendemonstrationen in der Hauptstadt mit jeweils über 100.000 Teilnehmern gemeint sind – oder aber Aktionen wie die Menschenkette um den Moskauer Gartenring am 26.2.2012. Tatsächlich fanden Proteste gegen Wahlfälschungen in fast allen Regionen des Landes sowie im Ausland statt, allerdings vor allem in größeren Städten. Die Demonstrationswelle versiegte in der Provinz erst gegen Ende 2012, in Moskau klang sie sogar noch 2013 mit Protesten gegen die Duma und bei den Bürgermeisterwahlen im September nach.

Begriffe wie „Opposition“ und „Mittelklasse“ geben wenig Aufschluss: Die meisten Protestaktionen wurden nicht von der Opposition organisiert, die Teilnehmer waren politischen Oppositionellen gegenüber oft skeptisch bis ablehnend eingestellt, und die Motivationen der in Alter, Einkommen und Herkunft sehr unterschiedlichen Protestierenden hatten mit deren sozio-ökonomischem Status meist nichts zu tun.

Die wissenschaftliche Diskussion1 beschäftigt sich eher mit der Dynamik zwischen verschiedenen Teilnehmern und Anliegen. Mit dem Aufstand gegen die Umwandlung von Sozialleistungen in Geldtransfers (2005) sowie den massiven regionalen Bewegungen in Wladiwostok und Kaliningrad (2008–09) hatte es bereits größere Protestwellen gegeben. Hinzu kamen zahlreiche lokale Aktionen gegen Privilegien für Beamte, Umweltzerstörung oder verdichtende Bebauung. Solche Themen waren auch auf den großen Demonstrationen der Jahre 2011–13 präsent. Die vielen Einzelanliegen fanden jedoch bei Oppositions-Aktivisten und zunächst auch bei den zahlreichen Protestneulingen kein Gehör. Sie wurden von der Kritik an Putin, der Staatspartei und dem Wahlleiter Wladimir Tschurow übertönt. Oppositionsfiguren wie der nationalliberale Blogger Alexej Nawalny oder der linke Aktivist Sergej Udalzow waren zwar in den Medien sehr präsent, doch es gelang ihnen mit ihren sehr allgemein gehaltenen Parolen nicht, die Mehrheit der Protestierenden als Unterstützer zu gewinnen. Die temporäre Zusammenarbeit zwischen Aktivisten verschiedener Couleur, symbolisiert durch das weiße Bändchen als Protestsymbol, konnte nicht institutionalisiert werden. Versuche wie der im Oktober 2012 gegründete Koordinationsrat der Opposition scheiterten schon bald an innerem Zwist und mangelnder Verwurzelung in Basisinitiativen. Viele neu politisierte Bürgerinnen und Bürger wandten sich enttäuscht ab oder aber lokalen Anliegen zu – von der Kommunalpolitik bis zur Wahlbeobachtung. Gegenkulturelle Aktionen von Performancekünstlern wie Pussy Riot oder Pjotr Pawlenski erregten – besonders bei westlichen Beobachtern – viel Aufmerksamkeit, waren innerhalb Russlands jedoch eher Nebenschauplätze des Protests.

Noch bedeutsamer als die innere Spaltung war die Reaktion des Staates. Viele Aktionen – vor allem in der Provinz – wurden mit brutaler Polizeigewalt aufgelöst, die beim „Marsch der Millionen“ in Moskau am 6. Mai 2012 ihren Höhepunkt fand. Es folgte eine Verhaftungswelle sowie eine Reihe repressiver Gesetze, die neben zahlreichen alten und neuen Aktivisten auch NGO-Mitarbeiter sowie gänzlich Unbeteiligte (etwa Musikfans) traf. Auf Gegendemonstrationen und – im Zuge des Pussy Riot-Prozesses und schließlich der Ereignisse in der Ukraine – in staatsnahen Medien und der Öffentlichkeit wurden sowohl Oppositionelle als auch einfache Protestierende zunehmend als dekadente, prowestliche „Nationalverräter“ dargestellt, teilweise auf öffentlichen Plakaten. Zudem spalteten der Euromaidan, die Angliederung der Krim sowie der Krieg im Donbass Liberale, Linke und Nationalisten jeweils in zwei Lager. Die oppositionelle Szene vermochte es nicht, ihre Präsenz auf den Demonstrationen in Wahlerfolge zu verwandeln.

Dennoch ist der Protest in Russland nicht gänzlich zum Erliegen gekommen. Bewegungen wie diejenige gegen Nickelbergbau entlang des Chopjor-Flusses oder gegen eine neue Lastwagenmaut legen eine große Ausdauer und einen hohen Organisationsgrad an den Tag. Auch Aktivisten für LGBT-Rechte oder für die Freilassung politischer Gefangener nehmen regelmäßig große persönliche Risiken auf sich, um ihre Anliegen trotz der neuen Restriktionen öffentlich vorzutragen.


1.z. B.: Bikbov, Aleksandr (2012): Metodologija issledovanija „vnezapnogo“ uličnogo aktivizma (rossijskie mitingi i uličnye lagerja, dekabr' 2011 – ijun' 2012), in: Laboratorium Nr. 2, S. 130-163; Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin; ders. (2016, im Erscheinen): Protest in Putin’s Russia, London

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Bolotnaja-Platz

Der Bolotnaja-Platz befindet sich zwischen dem Kreml und dem alten Kaufmannsviertel Samoskworetschje im Zentrum Moskaus. Er hat im Mittelalter zunächst als Handelsplatz gedient, später kam ihm immer wieder eine wichtige politische Bedeutung zu, zuletzt während der Proteste gegen die Regierung in den Jahren 2011/12.

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Meeting am 10. Dezember auf dem Bolotnaja-Platz

Nachdem erste Meldungen über Manipulationen bei den Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011 publik wurden, gab es zunächst kleinere Protestaktionen in Moskau. Eine Woche später fand am 10. Dezember 2011 auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau eine der größten Demonstrationen der jüngeren Geschichte Russlands statt, als Zehntausende saubere Neuwahlen forderten. Es entstand eine neue Protestbewegung, die vom Staat über die folgenden Monate jedoch wieder unterdrückt wurde.

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Internationales Aufsehen erregte am 21. Februar 2012 ihr Punkgebet in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale – und vor allem der anschließende Prozess, bei dem zwei Mitglieder zur Haft im Straflager verurteilt worden waren. Auch wenn sich die Ursprungsgruppe inzwischen aufgelöst hat, traten sie beim Finalspiel der Fußball-WM 2018 erneut in Erscheinung. Matthias Meindl über die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot.

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Das weiße Band ist eines der Hauptsymbole der Protestbewegung von 2011/2012. Es bringt die Kritik an den manipulierten Dumawahlen im Dezember 2011 und den Präsidentenwahlen im März 2012 zum Ausdruck und steht sinnbildlich für die in diesem Zusammenhang entstandene Forderung „Für saubere Wahlen“.

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Das St. Georgs-Band ist ein schwarz-orange gestreiftes Band, das auf eine militärische Auszeichnung im zaristischen Russland zurückgeht. Heute gilt es als Erinnerungssymbol an den Sieg über den Hitler-Faschismus, besitzt neben dieser historischen aber auch eine politische Bedeutung.

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