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Sergej Sobjanin

Der sowjetische Gassenhauer „Beste Stadt der Welt“ dröhnt aus den Lautsprechern, Menschen jubeln und halten Transparente mit der Aufschrift „Unser Bürgermeister“ hoch. Die Stimmung ist gut, obwohl einige der offiziell 50.000 Teilnehmer von ihren Arbeitgebern dazu eingespannt werden, an den Feierlichkeiten teilzunehmen.1 Der Event-Moderator ergreift das Mikro: „Unser Kandidat Sergej Sobjanin führt mit 56 Prozent. Heute ist ein doppelter Feiertag: Tag der Stadt und Tag des Wahlsiegs!“2

Letztendlich gewinnt Sobjanin die Moskauer Bürgermeisterwahl 2013 mit rund 51 Prozent. Der unterlegene Oppositionspolitiker Alexej Nawalny kreidet schon kurz nach den Feierlichkeiten Wahlfälschungen an und versammelt seine Anhänger genau dort, wo Sobjanin tags zuvor seinen Triumph feierte – am Bolotnaja Platz.

Der Amtsinhaber wählte diesen Ort wahrscheinlich nicht zufällig: Die Chiffre Bolotnaja steht schon seit fast zwei Jahren für die Proteste gegen Wahlfälschung. Schon während dieser Proteste stellte Sobjanin fest, dass Moskauer unzufrieden seien und Reformen wollten; er forderte eine „ernste Veränderung“ der Kommunikation mit der Bevölkerung und ihre Teilnahme an der Lokalpolitik.3

Eine Bürgermeisterwahl später steht Sobjanin so gut da wie nie zuvor: 2018 gibt es bei der Wahl keine richtigen Konkurrenten, die Wahlbeteiligung bleibt aber dennoch auf gewohntem Niveau von rund 30 Prozent. Bolotnaja-Proteste sind Vergangenheit, und Sobjanin holt eines der landesweit besten Ergebnisse aller Gouverneurswahlen 2018: Etwa 70 Prozent stimmen für ihn. Gab es wirklich eine „ernste Veränderung“, oder worin besteht der Erfolg des Bürgermeisters – der in der Corona-Krise 2020 als „russischer Söder“ von sich Reden macht?

 

 

Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbild-Modus wechseln. Quelle: ZIK

 

In Moskau, so schreibt der Journalist und „noodleremover“ Alexej Kowaljow, gebe es praktisch keine Lokalmedien. Es komme zwar eine Vielzahl an Zeitungen und kostenlosen Anzeigenblättern raus, auch Fernsehkanäle gebe es und Onlinemedien; dem überwiegenden Großteil von ihnen sei aber eines gemeinsam – sie gehören der Stadtverwaltung. Und diese, so Kowaljow, gebe ihren Medien auch ihre eiserne Regel vor: „drei Moskau, drei Sobjanin“. Dieser Richtschnur zufolge müsse in jedem Text über Moskau das Stadtoberhaupt Sergej Sobjanin ausschließlich in positivem Licht und mindestens drei Mal erwähnt werden.4 Dafür gebe die Moskauer Stadtverwaltung Schätzungen zufolge umgerechnet 500 US-Dollar pro Minute aus.5

Für Kowaljow ist klar: Diese Mittel werden in den Personenkult um Sobjanin investiert. Dessen Spitzenplatz in den Beliebtheits-Ratings russischer Gouverneure sei ein Zeugnis dafür.

„Mann ohne Eigenschaften“

Doch worin besteht dieser Personenkult? Sobjanin erscheint für viele doch eher farblos, fern jeder Glorifizierung: Ihn umweht der Stallgeruch einer Amtsstube, seine seltenen Interviews gleichen bürokratischen Deklarationen, die öffentlichen Reden wirken gestanzt und maschinell. Vielleicht ist es auch der Grund, weshalb Sobjanin von seinen frühen Weggefährten den Spitznamen „Roboter“ abbekam, und weshalb der Journalist Kirill Martynow in Sobjanin gar einen „Mann ohne Eigenschaften“ sieht.6

Sobjanins Biografie auf der Website des Moskauer Bürgermeisters liest sich knapp und trocken. Die meisten der insgesamt dreizehn aufgeführten Stationen aus dem Werdegang bestehen aus Ein- bis Vierzeilern: 1958 kommt er in der Oblast Tjumen zur Welt, 1980 erlernt er den Schlosserberuf, 1984 übernimmt Sobjanin ein Parteiamt. 1989 folgt der Juraabschluss, 1991 wird er Bürgermeister einer Kleinstadt, 1994 Duma-Vorsitzender des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen. 2001 ist Sobjanin Gouverneur der Oblast Tjumen, 2005 kommt er nach Moskau und leitet fortan die Präsidialadministration. Nach einem kurzen Intermezzo als stellvertretender Regierungschef wird Sobjanin 2010 zum Bürgermeister von Moskau ernannt.

Die letzten zwei Punkte seiner offiziellen Biografie sind demgegenüber etwas ausführlicher: 2013 reicht er sein Rücktrittsgesuch beim Präsidenten ein, um eine vorgezogene Gouverneurswahl zu ermöglichen. Am 18. September 2018 tritt er sein Amt erneut an: Er bedankt sich für das Vertrauen und verspricht die „Fortsetzung der Umgestaltung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, des Transports, des Blagoustrojstwo […].“7

Sergej Sobjanin gilt als „Mann Putins“. Quelle - Wikimedia

Blagoustrojstwo

Der Begriff Blagoustrojstwo war im August 2018 Thema von The Economist, er bezeichnet eine Verbesserung der städtebaulichen Gestaltung und bezieht sich im Artikel hauptsächlich auf das massive Moskauer Umbauprogramm seit 2011. Laut Economist sehen die Machthaber darin ein Instrument zur Demonstration von Effektivität und zur Förderung von Loyalität – insofern ist Blagoustrojstwo eine Art Legitimationsstrategie. Viele Moskauer wiederum sehen in der Chiffre etwas Ähnliches, allerdings mit anderen Vorzeichen: Blagoustrojstwo sei eine Beschwichtigungsstrategie, die die urbane Mittelschicht von neuen Bolotnaja-Protesten abhalten soll.8 Während manche Wirtschaftswissenschaftler Blagoustrojstwo auch als ein Konjunkturprogramm verstehen, sehen einige Korruptionsforscher darin eher größere Anreize zu Raspil.9

Bei vielen Moskauern kommt Sobjanins Umbauprogramm jedenfalls an: Viele der unliebsamen Verkaufsbuden (russ. „Larki“), die die Hauptstadt förmlich zupflasterten, werden abgerissen. Die asphaltierten Trottoirs, die zuvor oft mit Pfützen übersät waren, erstrahlen nun verbreitert und mit Pflastersteinen (russ. „Plitki“) in neuem Glanz. Moskauer Parkanlagen und Boulevards sind sauber, saniert und herausgeputzt. Die notorisch verstopften Straßen werden genauso ausgebaut wie Parkplätze, es gibt 30 neue Metrostationen, mehr Busse und dutzende Kilometer Fahrradwege. Der 2017 eröffnete Sarjadje-Park unweit des Kreml gehört nun laut dem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Time zu den 100 Greatest Places 2018. Für Proteste dagegen sorgten die Pläne, mehrere tausend Wohnhäuser, darunter zumeist sogenannte Chruschtschowki, abzureißen.
Es gibt jedoch auch Verbesserungen, die zwar nicht vom Bürgermeister abhängen, ihm jedoch auch in die Hände spielen: So halten beispielsweise die Autofahrer nun in Moskau meistens tatsächlich vor dem Zebrastreifen, und Taxifahrten werden erheblich günstiger. Kurzum: Die Qualität des öffentlichen Raumes steigt unter Sobjanin, genauso wie die gefühlte Lebensqualität.

Parallel dazu steigen auch die Ausgaben des Moskauer Haushalts: in sieben Jahren um fast das Doppelte.10 2017 sind sie ungefähr so hoch wie die Ausgaben von einem Viertel aller restlichen Regionen Russlands. Pro Kopf gibt Moskau ungefähr das Dreifache des Landesdurchschnitts aus.11

Dazu gehören auch Sozialausgaben: So sind die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln für Moskauer Rentner seit dem 1. August 2018 kostenlos. Die Stadtverwaltung erweitert daneben auch das Freizeitangebot für Rentner, und mit Inkrafttreten der unliebsamen Rentenreform erhalten auch Menschen im Vorrentenalter (Steuer-)Vergünstigungen und diverse Ermäßigungen für städtische Dienstleistungen.

Urbanisierung und Zentralisierung

Die Ausgabenflut erklärt für viele Beobachter auch den Wahlerfolg Sobjanins im September 2018. Finanziert wurde sie vor allem durch fortschreitende Zentralisierung von Ressourcen in Moskau.

Das  vielerorts gemutmaßte Kalkül ging offenbar auf: Ein Wiederaufflammen der Bolotnaja-Bewegung ist derzeit nicht vorstellbar. Doch lebt die Hauptstadt gewissermaßen noch mehr auf Kosten anderer Regionen als vor dem Umbau. Das Realeinkommen sinkt landesweit schon seit vier Jahren in Folge, und es stellt sich vermehrt die Frage, ob die restlichen 82 Föderationssubjekte mit dieser Art des Länderfinanzausgleichs weiterleben können, ohne Sozialproteste zu riskieren.

Parallel dazu kommt auf Russland möglicherweise ein anderes Problem zu: Je lebenswerter das Zentrum empfunden wird und je schwieriger das Leben in der Peripherie, desto mehr Menschen kommen ins Zentrum. Diese Entwicklung setzt eine zweifache Abwärtsspirale in Gang: Die Peripherie verarmt noch mehr, das Zentrum wird mit zunehmenden ökologischen und sozialen Problemen konfrontiert. Stadtsoziologische Studien zeigen, dass eine solche Binnenmigration zur Ghettoisierung von Großstadträndern führen kann. So wächst auch die Bevölkerungsdichte in Moskauer Banlieues schon seit vielen Jahren, vor allem Vororte wie Mytischtschi kämpfen mit gravierenden sozialen Problemen.12

Während der Corona-Krise macht sich die Journalistin Tatjana Jurassowa dorthin auf. In ihrer Reportage13 für die Novaya Gazeta stellt sie fest, dass in Mytischtschi nur 13 bis 15 einsatzbereite Rettungswagen gibt – also mindestens zehn weniger, als gesetzlich vorgeschrieben. So kommt es, dass Patienten mit Herzinfarkt oder in anderen lebensbedrohlichen Situationen durchschnittlich drei Stunden auf den Notarzt warten müssen, obwohl das Gesetz 20 Minuten verlangt. 
Das Krankenhaus von Mytischtschi ist chronisch unterversorgt, schreibt Jurassowa: Es gibt nicht genug Krankenhausbetten, elementare Hygienestandards werden nicht eingehalten, viele Ärzte und Pfleger sind nach den Gehaltskürzungen der vergangenen Jahre weggegangen – nach Moskau.

Krisenmanager

Dessen Bürgermeister Sobjanin ist der erste hochrangige Politiker Russlands, der sich während der Pandemie mit einer Gesichtsmaske zeigt. Insgesamt scheint es vielen Beobachtern in Russland, dass Sobjanin in der Corona-Krise das Ruder an sich reißt: Während Putin sich kaum über konkrete Maßnahmen äußert, ist Sobjanin der erste Politiker Russlands, der den Wahrheitsgehalt offizieller Infektions-Statistiken anzweifelt. Er ist auch der erste Politiker des Landes, der eine allgemeine Ausgangssperre verhängt und ein „smartes“ Kontrollsystem einführt: Jeder Gang vor die Tür erfordert in Moskau einen Antrag, man bekommt daraufhin einen QR-Code, mit dem man sich bei Polizeikontrollen ausweisen kann. Verstöße gegen die Ausgangssperre werden mit Geldstrafen von bis zu 40.000 Rubel (März 2020: rund 460 Euro) geahndet. 

Laut einer Modellrechnung wären in Moskau 117.000 Menschen an Corona gestorben, wenn man keine Maßnahmen gegen die Ausbreitung getroffen hätte.14 Vielleicht hatte Sobjanin solche Zahlen vor Augen, als er solch drastische Schritte einleitete. Und vielleicht hat der Journalist Iwan Dawydow also Recht, wenn er schreibt, dass Sobjanin nicht zum Sündenbock gemacht werden will, wenn sich auch in Russland alles nach italienischem Szenario entwickelt.

Auf jeden Fall könnte das „smarte“ Kontrollsystem dem Moskauer Bürgermeister aber auch nach Corona nützlich sein: Schon vor der Krise hat er in der Stadt ein engmaschiges Überwachungssystem mit Gesichtserkennung aufbauen lassen. Da manche Verstöße gegen die Ausgangssperre damit nachgewiesen werden konnten, wissen die Behörden nun offenbar, wie Massenüberwachung funktioniert. Sie wissen nun auch, wo die Moskauer tatsächlich leben – früher hatte die Regierung nur Zugang zu Meldeadressen. Aus solchen Gründen befürchten manche Menschenrechtler, dass Sobjanin die Kontrollsysteme nach Corona beibehalten wird, auch um neue Bolotnaja-Proteste zu verhindern. 

Aktualisiert am 02.04.2020


1.vgl. lenta.ru: Na razogreve u Sjutkina 
2.zitiert nach: republic.ru: Pobednyj Konzert Sobjanina 
3.zitiert nach: vedomosti.ru: Sobjanin: Vybory pokazali, čto ljudi chotjat peremen 
4.vgl. noodleremover.news: Kul’t ličnosti Sergeja Sobjanina, kto ego obsluživaet, kto i skol’ko za ėto platit 
5.vgl. republic.ru: Tri Sobjanina v edinyj den’ golosovanija 
6.vgl. kmartynov.com: Samozvanez sobjanin 
7.vgl. mos.ru: Sobjanin Sergej Semjonovič. Biografija 
8.vgl. economist.com: What a campaign to revive Russia’s urban spaces means for civil society 
9.vgl. rbc.ru: Rassledovanie RBK: Kto zarabatyvaet na rekonstrukzii Moskvy 
10.vgl. budget.mos.ru: Struktura i dinamika raschodov 
11.vgl. republic.ru: Stoličnaja lovuška: Čego stoit bojat’sja vlasti posle pobedy Sergeja Sobjanina na vyborach? 
12.vgl. novayagazeta.ru: Korotišči berut stolizu v kol’zo 
13. Novaya Gazeta: Vračam govorjat: «Šejte maski sami!» 
14.Meduza: V Moskve vveli žestkie karantinnya mery 
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