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WM: Potemkinsche Städte

Alles dreht sich im Kreis und nicht um den Fußball: Die WM-Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett für die WM umgegraben wurden. Und auch über andere Dinge wird geschwiegen. Aber Andrej Archangelski hat’s aufgeschrieben und so erfahren sie’s nun doch.

Quelle Republic

„Ein Deutscher“, sagte sich Berlioz. „Ein Engländer“, dachte Besdomny. „Boah, dass dem nicht zu heiß wird mit seinen Handschuhen!“

Es war Frühling, eine ungewöhnlich heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich … und Bulgakow betrachtet Moskau, wie wir uns erinnern, durch die Augen eines ausländischen Konsultanten – eines Ausländers. Diese Projektion kommt nicht von ungefähr: So sieht man Moskau besser.

Auch jetzt, kurz vor der Weltmeisterschaft, ist die Stadt, wenn man sie durch die Augen eines ausländischen Besuchers betrachtet, ungewöhnlich schön. Ohne die jahrelang aufgerissenen Straßen, die dann ganz plötzlich, innerhalb von nur zwei Wochen nigelnagelneu aussahen, wie von Zauberhand ... Die Gäste werden natürlich nichts davon erfahren, wie ganz Moskau drei Jahre lang brav im Stau gestanden hat, während die Innenstadt und die Ausfallstraßen einmal komplett umgegraben wurden – „wir bitten um Geduld für die WM“. Wie es in all den anderen Städten ausgesehen hat, in denen die Fußballsause ausgetragen wird, kann man nur erahnen.

Wir bitten um Geduld für die WM

Eine der Absonderlichkeiten an jenem Frühlingsabend, mit dessen Schilderung Meister und Margarita beginnt, ist die folgende: „Nicht nur am Büdchen, nein, auf der gesamten Allee […] war nicht ein einziger Mensch zu sehen.“ Und auch jetzt wirkt Moskau halbleer – nur dass diesmal niemandes teuflischer Plan dahintersteckt. Ja, stimmt, laut Gerüchten gab es in manchen Ecken der Hauptstadt hier und da Säuberungsaktionen gegen Migranten, aber wesentlich für die Leere Moskaus ist heute etwas ganz anderes: seine städtebauliche Struktur.

Die Stadt, in der wir heute leben und wie wir sie kennen, wurde noch unter Stalin erdacht. Aus dieser Zeit stammen ihre Hochhäuser und Prospekte, damals wurde ihr die totalitäre Logik aufgeprägt. Eine solche Stadt entsprach, wie man heute sagen würde, dem Geist der totalen Repräsentation: Alles war ausgerichtet auf die Durchführung von Fest- und Arbeiterkundgebungen, Ehrenformationen und Pionierparaden – all das sollte der Welt den Sieg des Sozialismus demonstrieren. Der Sozialismus ist längst Geschichte, aber das Schaufenster, zu dem die ganze Stadt gemacht wurde, ist noch da. Nur dass man sie jetzt Podium nennt.

Moskauer Menschenleere

Der Abriss der Verkaufspavillons, aber auch die Verbreiterung der Gehwege waren Teil einer „Vermenschlichungsstrategie“, die die Stadt den Menschen zurückgeben sollte, doch sie brachte den entgegengesetzten Effekt. In ihrem Alltag brauchen die Leute keine derart breiten Gehwege mehr; der moderne Städter flaniert und lustwandelt nicht mehr wie im 19. Jahrhundert. Vor allem abends wird das allzu deutlich – die breiten Trottoirs unterstreichen nur die Moskauer Menschenleere.

Im Endeffekt hat Sobjanin nur die Idee des stalinistischen Moskaus, die einer anderen Gesellschaft galt, verewigt und neu verputzt. Leuchtende Beispiele sind der Gorki-Park oder das WDNCh, die zum Denkmal des Stalinismus, seiner Geometrie und Totalität geworden sind. Die totalitäre Infrastruktur zwingt den heutigen Stadtbewohner, entgegen seinen Bedürfnissen, Gewohnheiten und Wünschen zu leben, sie nimmt ihm die Alternative, zwingt ihn wieder und wieder, sich im Kreis zu bewegen. Die Menschen stimmen unbewusst mit ihren Füßen ab – gegen diese Logik; und weil die Weltmeisterschaft mit zusätzlichen Einschränkungen droht, halten sie sich naturgemäß ganz von selbst aus der Stadt fern.

Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster

Das ist das paradoxe Ergebnis der Umgestaltung: Moskau ist nun zugeschnitten für den Blick aus dem Busfenster – und der fällt genau auf diese Leere, die Menschenlosigkeit, dem unkontrollierbaren, aber bestimmenden Merkmal der Stadt. Genau so wird sich die Stadt den WM-Besuchern präsentieren. Und das offenbart die unbewusste Aufgabe, die mit dem Umbau einhergeht: Das ganze Land in die Vergangenheit zurückzuversetzen, sagen wir, in die 1980er Jahre, um dann die Zeit für immer anzuhalten.

1980 reloaded

Moskau wird sich genauso präsentieren, wie es 1980 war. Die Gäste der Hauptstadt bekommen die einmalige Gelegenheit zu einer Reise in die fortgesetzte Vergangenheit. Das äußere Beiwerk ändert dabei nichts am Grundprinzip der Existenz: Was zählt, sind die Wünsche des Staates, nicht die der Menschen.
Wie es der Zufall will, kommt ausgerechnet in diesen Tagen Kirill Serebrennikows neuer Film Sommer in die Kinos – während der Regisseur selbst seit einem Jahr unter Hausarrest steht.

Sein Film spielt ebenfalls in den 1980ern. Auch dort herrscht eben jenes Gefühl von Endlosigkeit – es scheint, als würde alles für immer so bleiben; nur die Rockmusik überschwemmt von Zeit zu Zeit das von allen Seiten abgedichtete Gebäude namens UdSSR. Schließlich beschließt der Staat, dies zu kanalisieren – in Form des Leningrader Rock-Klubs. Die Freiheit des Menschen, seine Emotionen, sein Tatendrang gepaart mit staatlicher Kontrolle – das ist noch ein Geheimrezept der späten Sowjetunion.

Auch heute wird jede menschliche Regung, jedes Verlangen kontrolliert. Du kannst zum Beispiel dein Fußballteam anfeuern, aber halte deine Gefühle bitte im Zaum, denn die Rostower Kosaken werden „alle Männer, die sich während der WM 2018 küssen, der Polizei melden“.

Das Grundprinzip der Existenz ist und bleibt: Jeder, der leben will, muss eine Erlaubnis für dieses Leben einholen. 

Freiwillig unfrei

Den Zustand freiwilliger Unfreiheit können Ausländer nur schwer nachvollziehen. Allein die Existenz dieser menschlichen Maschine ist auf ihre Art einzigartig – es braucht dafür gleichzeitig millionenfache Selbstzensur. Nur eine Minderheit empfindet die Abwesenheit von Freiheit als Problem; die Erfahrung der individuellen Freiheit hat es nicht bis in den kollektiven Erfahrungsschatz geschafft, Freiheit ist nie zu einem Wert geworden.

„Im Sport sind alle Länder vereint!“ verkündet fröhlich ein Werbespot im Propagandaradio, das noch gestern fast Funken sprühte vor antiwestlicher Rhetorik. Und auch das spiegelt nur einen Wunsch der obersten Führung wider: Solange wir das Sportfest zelebrieren, sollen „alle alles vergessen“ – weil es ihr, der Führung, gerade so passt. Genau das ist das totalitäre Bewusstsein, von dem Orwell schreibt: Es will alles vergessen, wenn es gerade bequem ist, und erwartet von allen, dass sie dasselbe tun.

Aber die Welt funktioniert anders, und dort wird man nichts vergessen, auch nicht für die Dauer der Weltmeisterschaft: Weder die Ukraine, noch Senzow, noch Serebrennikow. Und dann, wenn die WM vorbei ist, wird alles wieder von vorne beginnen – immer im Kreis, immer im Kreis.

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Stalin-Hochhäuser

Blickt man auf die Silhouette von Moskau, so werden die bunten Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale und die goldenen Kuppeln des Kreml überragt von den aufstrebenden Turmspitzen der Hochhäuser aus der Stalinära. Mit der Errichtung der Sieben Schwestern, wie diese im Stil eines eklektizistischen Neoklassizismus errichteten vielgeschossigen Gebäude im Ausland auch häufig genannt werden, wurde zwischen dem Ende des Großen Vaterländischen Kriegs und Stalins Tod 1953 begonnen. Sie sind sprechende Zeugnisse des Zeitgeschmacks, mehr aber noch eines politischen Systems, das auf Einschüchterung und Ausbeutung der Bevölkerung einerseits und staatlich verordneter Verherrlichung des woshd („Führers“) andererseits abzielte.

„Wir sind nicht gegen Schönheit, wir sind nur gegen sinnlose Dinge!“ So fiel 1954 das diskreditierende Urteil Nikita Chruschtschows über das architektonische Erbe seines Amtsvorgängers Josef Stalin aus. Damit zielte Chruschtschow auch gegen die ins Megalomane strebenden und mit verschwenderischem Baudekor überzogenen Moskauer Wolkenkratzer dieses Stalinski Ampir („Stalinsches Empire“). Im Westen verächtlich Zuckerbäckerbauten genannt, erscheinen sie wie die sozialistische Antwort auf die amerikanischen Skyscraper der 1930er Jahre. Zu den Stalin-Hochhäusern zählen neben zwei Wohngebäuden das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen, der Sitz des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten unweit des Alten Arbats, die Hotels Ukraina und Leningradskaja sowie das Haus am Roten Tor. Ein geplantes achtes Gebäude wurde nicht realisiert. Die Hochhäuser stehen an repräsentativen Orten im Stadtensemble und sollten sich ursprünglich um den – letztlich nie errichteten – Palast der Sowjets am Moskwa-Ufer gruppieren.

Zwar wurden die Stalin-Hochhäuser von unterschiedlichen Architekten ausgeführt, sie sprechen aber dennoch eine einheitliche architektonische Sprache: Sie alle sind als geschlossene axiale Baukörper über rechteckigem Grundriss errichtet und weisen eine Betonung der Mittelachse auf. Die aufstrebenden Turmspitzen erheben sich auf den getreppten Gebäudeteilen mit repräsentativen, häufig an antike Portiken erinnernden Eingangssituationen. Überhaupt stand die antike Tempelarchitektur mit ihren Säulenstellungen Pate für die bauliche Erscheinung. Allerdings wurde die für die Antike so wichtige Verbindung von Architektur und menschlicher Proportion durch die „unmenschlichen“ Bemessungen der Bauwerke bewusst vermieden. Auch beim Baudekor berief man  sich auf die Antike; so entstand eine krude Mischung von Friesen, Gesimsen, und Pflanzenfestons, in die Symbole der Sowjetherrschaft wie der Stern oder Hammer und Sichel eingefügt sind. Aber auch andere Bauepochen wie die Gotik wurden – entleert von ihrer inhaltlichen Aussage – zitiert.

Die „Sieben Schwestern“ vermittelten den Eindruck eines glanzvollen, prosperierenden Sozialismus – Foto © Michail Egorov/Wikipedia CC BY 3.0

Der Rückgriff auf Baudekor und architektonische Repräsentationsformen der Vergangenheit ist im Kontext der Doktrin des Sozialistischen Realismus zu begreifen, die spätestens seit 1934 das Kunstschaffen in der Sowjetunion bestimmte. Diese Doktrin war der staatlich verordnete Frontalangriff auf die dynamischen Formexperimente der Avantgardekunst und -architektur. Während in der Malerei die Rückkehr zur figurativen Darstellungsweise gefordert wurde, sollte die Architektur – statisch und unverrückbar – die Machtverhältnisse ausdrücken, an deren Spitze Stalin stand. Durch den Rekurs auf die Vergangenheit wurde eine historische Kontinuität konstruiert, die gleichzeitig auch eine Legitimation der herrschenden Verhältnisse behauptete.

Der Begriff „Realismus“ erscheint irreführend, denn es ging beim Sozialistischen Realismus weniger darum, den realen Status quo wiederzugeben: Vielmehr sollte der angestrebte Sollzustand, das Morgen im Heute abgebildet werden. So vermittelten die Stalin-Hochhäuser an die eigene Bevölkerung, aber auch an das Ausland, den Eindruck eines glanzvollen, prosperierenden Sozialismus mit geradezu imperialer Strahlkraft. Die Wirklichkeit hingegen sah anders aus: Die skrupellose Industrialisierung des ersten Fünfjahrplans, der stalinistische Terror der 1930er Jahre und die grausamen Folgen des Großen Vaterländischen Kriegs hatten das Land mit unbeschreiblichem Leid überzogen, angesichts dessen die Sieben Schwestern als geradezu höhnische Prestigeobjekte erscheinen, die noch dazu erst durch den Einsatz von Zwangsarbeitern errichtet werden konnten. Den meisten Moskowitern blieb denn auch nur, die Hochhäuser von außen zu bestaunen, denn selbst die Wohngebäude an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße und am Kudrinskaja-Platz waren den Eliten vorbehalten.

Wie politisch die Architektur der Stalinära verstanden werden muss, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Zuckerbäcker-Stil in den 1950er Jahren auch in die Bruderländer der Sowjetunion exportiert wurde. Prägnantes Beispiel ist der von Lew Rudnew geplante Kulturpalast in Warschau, der große Übereinstimmungen mit Rudnews Hauptgebäude für die Lomonossow-Universität aufweist. In Berlin erinnert die Karl-Marx-Allee an diese architektonische Machtbekundung und territoriale Markierung des Großen Bruders Moskau.


Zum Weiterlesen:
Rüthers, Monica (2007): Moskau bauen von Lenin bis Chruschtschow: Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien [u. a.]
Paperny, Vladimir (2002): Architecture in the Age of Stalin: Culture two, Cambridge
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