Den für den 1. März 2015 geplanten Anti-Krisen-Marsch nahm der Satiriker, Drehbuchautor und Putin-Kritiker Viktor Schenderowitsch zum Anlass, eine grundlegende Kluft in der jungen Bevölkerung auszuloten: zwischen den Verfechtern oppositioneller Demonstrationen und denen, die den Straßenprotest für unnötig halten. Als sehr erhellend dafür erwies sich eine Unterhaltung auf Facebook.
Mitja Aleschkowski wurde am Abend der Nawalny-Kundgebung am 30. Dezember 2014 auf dem Manegen-Platz verhaftet, verbrachte die Nacht mit anderen Festgenommenen in einer kalten Zelle des Bullenreviers und berichtete nach seiner Freilassung kurz auf Facebook: „Meine Zellengenossen und ich sind wieder frei. Verhandlung ist am 12. Auf dem Boden geschlafen. Kein Essen, kein Trinken, kein Telefon. Verhaftung ohne jeden Anlass, nicht gebrüllt, keine Sprechchöre, keinen Widerstand geleistet ...“
Schrieb es – und erntete als Kommentar umgehend Unverständnis von Seiten einer freundlichen Elena: „Mitja, warum sind Sie denn dorthin gegangen? Was genau wollten Sie bewirken?“
Die freundliche Elena, so ist aus ihrem Profil ersichtlich, arbeitet als Produzentin bei der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK. Sie war früher Korrespondentin des Nachrichten-Fernsehsenders Rossija 24. Ist also eine Art Journalistin. Und weitere Fragen hatte sie nicht: Warum wurde Aleschkowski plötzlich verhaftet, warum sperrte man ihn ein, ohne Essen und Trinken, ohne Erlaubnis, seinen Anwalt anzurufen ... Wer verweigerte es ihm? Warum verbrachten die Verhafteten die Nacht auf einem kalten Zellenboden? Tja: Hätte diese Elena ein bisschen auf Facebook herumgeklickt, hätte sie leicht eine Antwort auf all diese leider nicht gestellten Fragen gefunden: Die Bullen erklärten dem bald eintreffenden Anwalt gegenüber arglos, dass sie speziell harte Order von oben hätten ... Woher genau „von oben“? Oh, das hätte ein Thema für einen wunderbaren journalistischen Beitrag auf WGTRK sein können.
Kleiner Scherz.
Es geht hier nicht um die Pflichten von Journalisten und nicht einmal darum, was aus dem staatlichen Journalismus geworden ist – es geht um einen mentalen Riss. Um ein Verständnisloch, das, so scheint es, durch keinen Dialog mehr zu schließen ist.
Denn nach allem, was wir wissen, ist Elena kein schlechter Mensch. Nun, zumindest mit Abstand nicht der schlechteste, nicht mal in den Weiten von Mitjas Facebook. Allerdings gelten für sie staatliche Handlungen stillschweigend als Norm, Aleschkowskis Verhalten hingegen erscheint ihr sehr merkwürdig! Sie hat nichts gegen ihn; beschimpft ihn und die anderen, die mit ihm auf den Platz gegangen sind, nicht (das findet man in benachbarten Einträgen des Kommentar-Verlaufs). Elena versucht aufrichtig, ihn und unsere Logik zu verstehen.
Und kann es nicht!
Und wir können es nicht erklären (weder ihr noch den Millionen ihrer mentalen Brüder und Schwestern), was uns geritten hat, was uns damals in dieser Hundekälte auf die Manege drängte, nachdem die Richter des Samoskworetschjer Gerichts Oleg Nawalny hinter Gitter geschickt und Alexej Nawalny die soundsovielte Bewährungsstrafe verpasst hatten. Wir bleiben beim Offensichtlichen stecken, besser gesagt bei dem, was offensichtlich scheint, und zwar uns. Und lassen bei den ersten Worten hilflos die Arme hängen.
Denn das ist so ein Fall, von dem man sagen kann: Wenn es eine Erklärung braucht, braucht man es gar nicht erst zu erklären.
Und zum hundertsten Mal heißt es, sich an Montaigne zu erinnern: Nicht die Dinge quälen uns, sondern unsere Vorstellung von ihnen. Darin besteht der ganze Kern und das ganze Grauen der Hoffnungslosigkeit. Die Gesetzlosigkeit im eigenen Land quält Mitja Aleschkowski, nicht aber Elena, das war’s! Und Mitjas gibt es weitaus weniger als Elenas.
Für Aleschkowski (Gandlewski, Bykow, Rubinstein, Tschudakowa und einige Tausend weniger bekannte Menschen, die auf dem Manegen-Platz waren) bedeuteten die Ereignisse im Gericht von Samoskworetschje an jenem Tag eine persönliche Ohrfeige. Für Elena waren sie kein Anlass, sich vom Leben ablenken zu lassen. Und daran ist nichts zu ändern.
In beiden Fällen ist es zu spät.
Denn das Verständnis und die Vorstellungen der Menschen von sozialen Verhaltensregeln, von Pflichten und Scham – all das wird in der Kindheit geprägt, und danach, wie bei analogen Fotografien, nur noch entwickelt und allmählich zum Vorschein gebracht. Im Alter von 30–40 wird es in der Lösung der Biographie fixiert.
Das entstandene Bild zu ändern, ist nicht mehr möglich.
Deswegen ist es genauso unmöglich, Elena angesichts der willkürlichen Verurteilung ihres Landsmanns ein Empfinden von Scham aufzuzwingen, wie es unmöglich ist, Mitja patriotische Freude angesichts der Angliederung der Krim aufzuzwingen. Das liegt in beiden Fällen jenseits der Grenzen persönlicher mentaler Erfahrung.
So knallen im engen Kosmos von Facebook zwei einander fremde Zivilisationen aufeinander und senden sich in gegenseitigem Unverständnis Signale: Piep, piep ....
Vielmehr sendet Mitja nicht einmal ein Piep ... er kreist einfach auf seiner merkwürdigen Umlaufbahn. Und Elena, die ach so anständige, normale, vom Allrussischen Sender WGTRK, zeigt sich interessiert: Was macht denn der da bloß?