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Nawalnys misslungener Spagat

Ob mit den landesweiten Protestaktionen im März und im Juni oder durch die jüngsten Razzien in seinen Wahlkampfbüros – der erklärte Präsidentschaftsanwärter Alexej Nawalny schafft es derzeit immer wieder in die Schlagzeilen. Für weitere Furore sorgte nun eine öffentliche Diskussion mit Igor Strelkow, bei der die beiden über Korruption, Russlands Verhältnis zum Westen und über die Ukraine sprachen.

Viele waren bereits irritiert, dass es überhaupt zu einer solchen Debatte kam: Schließlich ist der bekennende Nationalist Igor Girkin alias Strelkow nicht irgendwer – durch seine Rolle während der Krim-Angliederung und als Separatistenführer im Donbass wird er von Kritikern nicht selten als Kriegsverbrecher bezeichnet.

Warum wollte Nawalny diese Diskussion? Kirill Martynow kommentiert in der Novaya Gazeta, welche Spekulationen es im Vorfeld gab und was sich davon letztlich bewahrheitet hat.

Quelle Novaya Gazeta

Als Nawalny einwilligte, mit Girkin zu debattieren, wurde das vom Publikum unterschiedlich erklärt. Die erste Erklärung besagte, Nawalny versuche, seine Wählerschaft und seine Bekanntheit landesweit zu vergrößern – nach Daten der Soziologen wachse letztere aktuell nicht mehr so stark, trotz der Protestaktionen im Juni. Die zweite Erklärung ging davon aus, dass Nawalny einfach alle dazu bewegen wolle, über ihn zu sprechen, und er in der politisch toten Feriensaison um Aufmerksamkeit werbe. Die dritte Erklärung schließlich besagte, Nawalny wolle aus dem Gespräch mit dem einstigen „Chef der Volksmilizen von Noworossija“ eine Art Verhör machen und ihn in einer Live-Sendung als Verbrecher entlarven.

Erreicht hat Nawalny wohl letztlich das zweite Ziel: Das nach Politik und unzensiertem Aufeinanderprallen politischer Programme dürstende Publikum warf sich gierig auf die Debatte. Auf dem Kanal von Nawalnys Anhängern schauten die Sendung fast 100.000 Menschen, weitere 50.000 folgten dem Spektakel auf dem YouTube-Kanal von Doshd. Das Interesse war definitiv hoch, trotz fehlenden Werbebudgets. 

Zugeschaut haben hauptsächlich die eigenen Anhänger

Dennoch konnte Nawalny seine Bekanntheit wohl kaum ernsthaft vergrößern. Es scheint, als habe man Girkin bereits etwas vergessen, und wegen Nawalny haben hauptsächlich seine eigenen Anhänger eingeschaltet. Ähnlich viele Leute – 100.000 bis 200.000 – beteiligten sich in diesem Jahr aktiv an Nawalnys politischer Kampagne. Über die Zusammensetzung der Zuschauer geben auch Umfragen in den Sozialen Medien indirekt Aufschluss: Für Nawalny stimmten dort über 80 Prozent (übrigens eine vertraute Zahl).

Beim Versuch, die ,imperial-nationalistische‘ Wählerschaft auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt

Bei dem Versuch, die „imperial-nationalistische“ Wählerschaft, den typischen Sawtra-Leser oder Zargrad-Zuschauer, mit dieser Debatte auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt.

Er gab keine wesentlich bessere Figur als sein Gegner ab, war lange in der Defensive, rechtfertigte sich ein paar Mal und rollte die Augen. Girkin ist gewiss kein glänzender Rhetoriker, aber er blieb ruhig, warf Nawalny vor, dass dieser „kein echter Nationalist“ sei. Nawalny konnte dem weder zustimmen, noch konnte er widersprechen – die Frage, welche Art von Nationalist er sei, umging er behutsam. Girkin versteckte sich in kritischen Momenten nicht besonders überzeugend hinter dem „Militärgeheimnis“ und seiner „Ehre als Offizier“ – zwei Dinge, die in Russland durchaus geschätzt werden, und auf die Nawalny sich nicht beziehen kann.

Girkin wird nach der Debatte neue Anhänger finden – was man von Nawalny nicht unbedingt behaupten kann. In diesem Sinne hat Letzterer die Debatte verloren.

Kein „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“

Bitter enttäuscht wurde die Hoffnung auf einen „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“, von dem viele liberale Aktivisten vor der Diskussion träumten. Im Studio erklärte Nawalny, dass ausschließlich Gerichte klären sollten, ob Girkin ein Verbrecher sei oder nicht, und er folglich als Politiker keine Meinung dazu habe.

Im Verlauf der Debatte machte Nawalny zwei Fehler, die wiederum durch eine Schlüsselentscheidung bereits vorbestimmt waren: nämlich der Einwilligung zu der Debatte selbst, die viele aus ethischen Erwägungen bereits kategorisch abgelehnt hatten (dabei geht es nicht um Girkins Überzeugungen, sondern um seine Handlungen als Kriegführender – nach dem Motto: Erst der Prozess um mögliche Kriegsverbrechen, dann die Debatte).

Ein gravierenderer Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte

Der erste Fehler hängt damit zusammen, dass Nawalny offenbar eine falsche Vorstellung davon hatte, mit wem er diskutiert. Er betrachtete Girkin als Botschafter der nicht anerkannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken. Doch Girkin antwortete ihm, dass sich die gegenwärtigen Machthaber dort in keinster Weise unterschieden von den Kompradoren-Eliten Russlands und oligarchischen Statthaltern des Westens, die das russische Volk durch das Minsker Abkommen an ukrainische Nationalisten ausgeliefert hätten. Eins ist ziemlich sinnlos: Girkin, dem fanatischen Geheimdienstler und Freiwilligen in allen postsowjetischen Kriegen, vorzuwerfen, er habe sich angedient oder sich gar mit russischen Korruptionären am Diebstahl beteiligt. Er ist natürlich ein Mensch der Ideen, auch wenn diese – zum Beispiel die von der Unvermeidlichkeit eines Krieges mit dem Westen – ziemlich monströs sind.

Der zweite und gravierendere Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte. Er ist für das russische Volk, aber gegen Irredentismus. Ein Nationalist, der aber nicht bereit ist, die Nation um jeden Preis zu retten. Ein Liberaler, der aber meint, dass man die Krim nicht einfach so zurückgeben kann. Die Klammer, die all das im Programm Nawalnys zusammenhalten soll, ist natürlich der Kampf gegen Korruption – gegen ebenjene Kompradoren-Eliten und für ein Aufblühen der Nation.

Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt

Und da beginnt Girkin plötzlich ganz ruhig von „politischer Philosophie“ und Marx, von Basis und Überbau zu sprechen. Der Kampf gegen Korruption ist nicht möglich, urteilt der einstige Geheimdienstler, ohne eine Änderung der gegenwärtigen Weltordnung im Ganzen – ohne eine Absage an Russlands Rolle in der globalisierten Welt, an die vom Westen diktierte wirtschaftliche Zusammenarbeit, was wiederum auf friedlichem Wege nicht zu erreichen sei und so weiter. Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt. Der Kampf gegen Korruption führe zu nichts, solange wir in dieser wirtschaftlichen Ordnung leben, schließt Girkin seine Rede ab – das Thema bleibt offen. Darauf hatte sich Nawalny, der von seinem Wahlprogramm erzählen und Girkin mit Fragen zu Putin und dem abgeschossenen MH17-Flugzeug attackieren wollte, nicht vorbereitet.

Nawalny hat versucht, zwischen einer nationalistischen Agenda und liberalen Werten zu balancieren – in etwa der Cocktail, der in postsozialistischen Ländern von Polen bis Georgien als Treibstoff für den demokratischen Wandel diente. Doch dagegen wirkt eine gigantische Maschinerie des imperialen Ressentiments: Die Kränkungen seitens der ganzen Welt, welche Millionen von Menschen nach dem Zerfall der UdSSR real erlebt haben. Schließlich erlangten die Russen, im Unterschied zu den Bürgern anderer postsowjetischer Staaten, 1991 keine Unabhängigkeit von einem fremden und feindlichen Imperium, sondern sie verloren ihr eigenes. Und die Rezepte für den Übergang zu einer Demokratie sollten in dieser Situation andere sein.

Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei

Für die gegenwärtige Position Girkins ist die Analogie verständlich. Versetzen wir uns ins 20. Jahrhundert, in einen gewissen Staat, der eine Niederlage erlitten hat und in Teile zerfallen ist. Die Bühne bekommt ein Veteran, der an allen Kriegen teilgenommen hat und wieder bereit ist, die Feinde seiner großen Nation zu töten. Dieser ideologische Soldat redet von Feinden im Westen, die seine Heimat zergliedert haben, von der Notwendigkeit, die Großmacht wiederherzustellen, selbst auf kriegerischem Wege. Schließlich leiden die Vertreter unseres Volkes unter der Besatzung benachbarter, verfeindeter Staaten et cetera. Wer im Streit mit so jemandem auf den Kampf gegen Korruption pocht, schießt offenkundig am Ziel vorbei.

Eine politische Niederlage für Nawalny

Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei. Auch wenn man dabei erklärt, dass derzeit nicht die richtige Zeit für einen Krieg um die Einheit des russischen Volkes sei, weil das Land wegen der Korruption so verarmt sei.

https://www.youtube.com/watch?v=kT40xRKpEaU

Das ganze Format der Debatte, Nawalnys Büro als Drehort, das loyale Publikum während der Live-Übertragung, der bestens vertraute Michail Sygar als Moderator – all das war ein Vorteil für den demokratischen Politiker. Aber es ist ihm nicht gelungen, diesen zu nutzen. Zeitweise konnte man den Eindruck gewinnen, Nawalny diskutiere aus reiner Gewohnheit. Dass er die imaginierten Wahlen gewonnen hat und das Land bereits mehrere Jahre regiert. Und dass er äußerst müde ist, ein und dieselben Schablonen-Sätze zu wiederholen, wo anstelle der Mai-Dekrete der Kampf gegen Korruption steht.

Die Debatte mit Girkin wurde zu einer politischen Niederlage für Alexej Nawalny.

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Sachar Prilepin

Vom nonkonformistischen Oppositionellen zum patriotischen Medienliebling: Schriftsteller Sachar Prilepin polarisiert. Er kämpfte als Major im Donbass (Puschkin habe ihn dazu motiviert) und ist nun stellvertretender Leiter des Gorki Künstlertheaters in Moskau. Nina Frieß und Konstantin Kaminskij über den politisch-literarischen Dichterkrieger.

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Alexej Nawalny

„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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