Ob mit den landesweiten Protestaktionen im MärzDebattenschau № 49: Nawalny und die Macht der Straße Tausende in ganz Russland folgten am Sonntag dem Aufruf des Oppositionspolitikers Nawalny und gingen auf die Straße. Nawalny, der Retter Russlands? Frühlingserwachen der russischen Zivilgesellschaft? Was wird bleiben von den Protesten? Ausschnitte aus russischen Medien.
und im JuniDebattenschau № 52: Proteste vom 12. Juni Oppositionpolitiker Nawalny bringt am Tag Russlands erneut Tausende auf die Straßen. Die Proteste vom 12. Juni: Zeichen des zunehmenden Bürger-Unmuts? Oder nur mehr Machtkampf eines Einzelnen, während die Protestbewegung an Kraft verliert? dekoder bringt Ausschnitte aus Medien-Debatten.
oder durch die jüngsten RazzienNawalny vor dem Aus? „Bis dato hatte die Staatsmacht Nawalny nicht an seiner Expansion in die Regionen gehindert, und auf einmal tut sie es mit einem Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt“ – eine Analyse von Oleg Kaschin.
in seinen Wahlkampfbüros – der erklärte Präsidentschaftsanwärter Alexej NawalnyAlexej Nawalny ist einer der bekanntesten Oppositionspolitiker und Aktivisten Russlands, der die staatliche Elite in seinen Veröffentlichungen regelmäßig mit schwerwiegenden Vorwürfen zu Korruption und Machtmissbrauch konfrontiert. Er gilt als einer der schärfsten Kritiker Wladimir Putins. Mehr dazu in unserer Gnose schafft es derzeit immer wieder in die Schlagzeilen. Für weitere Furore sorgte nun eine öffentliche Diskussion mit Igor StrelkowIgor Strelkow diente bei der russischen Armee und im Geheimdienst und war einer der Anführer der ostukrainischen Separatisten im Sommer 2014. Seit August 2014 nimmt er nicht mehr aktiv an den Kampfhandlungen teil, ist jedoch Berater der Separatisten und gilt als ideologischer Verfechter ihrer Interessen in Russland. Der Name Strelkow ist ein Pseudonym, sein wirklicher Name lautet Igor Girkin. Mehr dazu in unserer Gnose , bei der die beiden über Korruption, Russlands Verhältnis zum Westen und über die Ukraine sprachen.
Viele waren bereits irritiert, dass es überhaupt zu einer solchen Debatte kam: Schließlich ist der bekennende Nationalist Igor Girkin alias Strelkow nicht irgendwer – durch seine Rolle während der Krim-AngliederungAls Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Mehr dazu in unserer Gnose und als Separatistenführer im DonbassDer Krieg im Osten der Ukraine ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Ukraine wirft dem Nachbarland Russland vor, die Rebellen mit Personal und Waffen zu unterstützen, was Russland bestreitet. Der Krieg kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Eine anhaltende Waffenruhe konnte trotz internationaler Vermittlungsbemühungen bisher nicht erreicht werden. Mehr dazu in unserer Gnose wird er von Kritikern nicht selten als Kriegsverbrecher bezeichnet.
Warum wollte Nawalny diese Diskussion? Kirill Martynow kommentiert in der Novaya Gazeta, welche Spekulationen es im Vorfeld gab und was sich davon letztlich bewahrheitet hat.
Als Nawalny einwilligte, mit Girkin zu debattieren, wurde das vom Publikum unterschiedlich erklärt. Die erste Erklärung besagte, Nawalny versuche, seine Wählerschaft und seine Bekanntheit landesweitNawalny obenauf? Nach den Protesten vom 26. März nennt das Lewada-Institut erste Zustimmungswerte. Vedomosti bringt die Zahlen und deren unterschiedliche Interpretationen. zu vergrößern – nach Daten der Soziologen wachse letztere aktuell nicht mehr so stark, trotz der Protestaktionen im Juni. Die zweite Erklärung ging davon aus, dass Nawalny einfach alle dazu bewegen wolle, über ihn zu sprechen, und er in der politisch toten Feriensaison um Aufmerksamkeit werbe. Die dritte Erklärung schließlich besagte, Nawalny wolle aus dem Gespräch mit dem einstigen „Chef der VolksmilizenAls Volksmilizen (russ. opoltschenzy) bezeichnen sich die pro-russischen Truppen und Milizen, die in den selbsternannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken gegen die Ukraine im Osten des Landes kämpfen. Mehr dazu in unserer Gnose von NoworossijaAls Noworossija (dt. Neurussland) wird derzeit von russischer Seite häufig der Südosten der Ukraine bezeichnet. Der Begriff wird auf unterschiedliche Gebiete angewendet, meistens werden aber darunter Territorien verstanden, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Katharina der Großen durch Russland erobert wurden. Im Zuge der Ukraine-Krise begannen die russischen Unterstützer der Separatisten diesen Begriff zu benutzen, um die sich abspaltenden Gebiete zu bezeichnen und diesen eine stärkere russische Identität zu verleihen. Mehr dazu in unserer Gnose “ eine Art Verhör machen und ihn in einer Live-Sendung als Verbrecher entlarven.
Erreicht hat Nawalny wohl letztlich das zweite Ziel: Das nach Politik und unzensiertem Aufeinanderprallen politischer Programme dürstende Publikum warf sich gierig auf die Debatte. Auf dem Kanal von Nawalnys Anhängern schauten die Sendung fast 100.000 Menschen, weitere 50.000 folgten dem Spektakel auf dem YouTube-Kanal von DoshdDoshd (TV Rain) ist ein unabhängiger TV-Sender, der zur gleichnamigen Medien-Holding mit Sitz in Moskau gehört. Die Doshd-Holding umfasst außerdem die Online-Zeitschriften Bolschoi Gorod und Republic. Im Vorfeld des 70. Jahrestags der Leningrader Blockade durch die Wehrmacht stellte Doshd 2014 seinen Zuschauern die Frage, ob „es notwendig war, Leningrad aufzugeben, um hunderttausende Leben zu retten“ (während der Leningrader Blockade kamen über eine Million Menschen um). Die Frage löste einen landesweiten Skandal aus, die meisten Kabelnetzbetreiber sowie Provider von Satelliten-Fernsehen stellten daraufhin ihre Zusammenarbeit mit Doshd ein. Seitdem kann der kremlkritische Bezahlsender in großen Teilen des Landes nur noch über Internet empfangen werden. . Das Interesse war definitiv hoch, trotz fehlenden Werbebudgets.
Zugeschaut haben hauptsächlich die eigenen Anhänger
Dennoch konnte Nawalny seine Bekanntheit wohl kaum ernsthaft vergrößern. Es scheint, als habe man Girkin bereits etwas vergessen, und wegen Nawalny haben hauptsächlich seine eigenen Anhänger eingeschaltet. Ähnlich viele Leute – 100.000 bis 200.000 – beteiligten sich in diesem Jahr aktiv an Nawalnys politischer Kampagne. Über die Zusammensetzung der Zuschauer geben auch Umfragen in den Sozialen Medien indirekt Aufschluss: Für Nawalny stimmten dort über 80 Prozent (übrigens eine vertraute ZahlGemeint ist der Zustimmungswert für Präsident Putin, der sich nach der Angliederung der Krim in Meinungsumfragen abzeichnete und bis zur Ankündigung der Rentenreform im Juni 2018 weitgehend unverändert blieb. ).
Beim Versuch, die ,imperial-nationalistische‘ Wählerschaft auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt
Bei dem Versuch, die „imperial-nationalistischeIn der Nationalismusforschung werden die Begriffe nationalistisch und imperial häufig als Gegensätze behandelt. Nationalistisch bedeutet dabei meistens ethno-nationalistisch, der Begriff korrespondiert stark mit der Losung „Russland für Russen“. Demgegenüber betont das imperiale Denkschema vor allem die Führungsrolle Russlands auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und den multiethnischen Charakter Russlands. Die Rolle der russischen Ethnie ist hier strittig, einige imperial-nationalistische Konzepte sehen sie beispielsweise als „staatskonstituierend“ – ähnlich wie in der Sowjetunion, in der alle Ethnien offiziell als „Bruder-Völker“ galten und die russische Ethnie faktisch die Rolle des „ältesten Bruders“ spielte. “ Wählerschaft, den typischen SawtraSawtra (dt. Morgen) ist eine Moskauer Zeitung, die insbesondere für ihre antiwestlichen und antiliberalen Positionen bekannt ist. Von Wissenschaftlern wird die Zeitung als rechts bis rechtsextremistisch eingeschätzt. Chefredakteur ist der umstrittene Schriftsteller und Journalist Alexander Prochanow, der sich selbst als „sozialistischen Patrioten“ bezeichnet. In jüngerer Vergangenheit fiel die Zeitung vor allem durch die ideologische Unterstützung separatistischer Kräfte im Ukraine-Krieg auf.-Leser oder ZargradZargrad ist ein russischer Fernsehkanal mit einer streng konservativen und religiös-orthodoxen Ausrichtung. Er wurde 2014 als Online-Sender gegründet und erlangte nach eigener Angabe binnen weniger Wochen eine Reichweite von über vier Millionen Zuschauern. Leiter und Mäzen des Senders ist der russische Oligarch Konstantin Malofejew (geb. 1974). Er bezeichnet sich als „orthodoxen Monarchisten“ und Anhänger einer „neurussischen“ Expansion Russlands. Dabei bezieht er sich auf das ehemalige Zarenreich. Bei dem Namen Zargrad handelt es sich um eine ältere Bezeichnung der Stadt Konstantinopel – der Heimat des russisch-orthodoxen Glaubens. -Zuschauer, mit dieser Debatte auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt.
Er gab keine wesentlich bessere Figur als sein Gegner ab, war lange in der Defensive, rechtfertigte sich ein paar Mal und rollte die Augen. Girkin ist gewiss kein glänzender Rhetoriker, aber er blieb ruhig, warf Nawalny vor, dass dieser „kein echter Nationalist“ sei. Nawalny konnte dem weder zustimmen, noch konnte er widersprechen – die Frage, welche Art von Nationalist er sei, umging er behutsam. Girkin versteckte sich in kritischen Momenten nicht besonders überzeugend hinter dem „Militärgeheimnis“ und seiner „Ehre als Offizier“ – zwei Dinge, die in Russland durchaus geschätzt werden, und auf die Nawalny sich nicht beziehen kann.
Girkin wird nach der Debatte neue Anhänger finden – was man von Nawalny nicht unbedingt behaupten kann. In diesem Sinne hat Letzterer die Debatte verloren.
Kein „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“
Bitter enttäuscht wurde die Hoffnung auf einen „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“, von dem viele liberale„Liberal“ kann in der russischen Sprache heute vieles bedeuten. Der Begriff hat mehrere Wandlungen durchgemacht und ist nun zumeist negativ besetzt. Oft wird er verwendet, um Menschen vorzuwerfen, sie seien unfähig, schwach und widersetzten sich dem Staat nur, weil sie zu nichts anderem in der Lage seien. Das liberale Credo vom Schutz der Menschen- und Eigentumsrechte, so heißt es oft, lenke davon ab, dass unter liberaler Führung der Staat zugrunde gehen würde. Mehr dazu in unserer Gnose Aktivisten vor der Diskussion träumten. Im Studio erklärte Nawalny, dass ausschließlich Gerichte klären sollten, ob Girkin ein Verbrecher sei oder nicht, und er folglich als Politiker keine Meinung dazu habe.
Im Verlauf der Debatte machte Nawalny zwei Fehler, die wiederum durch eine Schlüsselentscheidung bereits vorbestimmt waren: nämlich der Einwilligung zu der Debatte selbst, die viele aus ethischen Erwägungen bereits kategorisch abgelehnt hatten (dabei geht es nicht um Girkins Überzeugungen„Das jetzige Regime ist todgeweiht“ Igor Strelkow, Ex-Separatistenführer in der Ostukraine und Chef der „Noworossija“-Bewegung, übt scharfe Kritik an Putins Regierung. Wie er Russland retten will, erklärt er im Interview mit Znak. , sondern um seine Handlungen als Kriegführender – nach dem Motto: Erst der Prozess um mögliche Kriegsverbrechen, dann die Debatte).
Ein gravierenderer Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte
Der erste Fehler hängt damit zusammen, dass Nawalny offenbar eine falsche Vorstellung davon hatte, mit wem er diskutiert. Er betrachtete Girkin als Botschafter der nicht anerkannten DonezkerDie Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee. Mehr dazu in unserer Gnose und Luhansker VolksrepublikenDie Volksrepublik Luhansk wurde wie auch die Volksrepublik Donezk im Frühjahr 2014 nach dem Machtwechsel in Kiew infolge des Euromaidans von bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine ausgerufen. Die Regionen sind international als Staaten nicht anerkannt. Der im Zuge ihrer Entstehung entbrannte Krieg mit der ukrainischen Armee dauert noch immer an.. Doch Girkin antwortete ihm, dass sich die gegenwärtigen Machthaber dort in keinster Weise unterschieden von den Kompradoren-ElitenAnspielung auf den Begriff der Kompradoren-Bourgeoisie. In der marxistischen Theorie wird darunter eine Klasse verstanden, die die Ausbeutung des eigenen Landes durch koloniale Mächte von außen zum Zwecke der persönlichen Bereicherung billigt. Russlands und oligarchischen Statthaltern des Westens, die das russische Volk durch das Minsker AbkommenUnterzeichnet am 12. Februar 2015 von Vertretern der OSZE, Russlands, der Ukraine sowie der Separatisten aus Donezk und Lugansk, sieht das zweite Abkommen von Minsk unter anderem einen sofortigen Waffenstillstand sowie den Abzug schwerer Waffen von der Frontlinie vor. Es verpflichtet die Ukraine auch zu einer Verfassungsreform, die einigen Regionen im Donbass einen Sonderstatus einräumt, und sichert der Ukraine die Kontrolle über ihre Grenze nach Russland zu. Weite Teile des Abkommens sind bisher nicht umgesetzt. an ukrainische Nationalisten ausgeliefert hätten. Eins ist ziemlich sinnlos: Girkin, dem fanatischen Geheimdienstler und Freiwilligen in allen postsowjetischen Kriegen, vorzuwerfen, er habe sich angedient oder sich gar mit russischen Korruptionären am Diebstahl beteiligt. Er ist natürlich ein Mensch der Ideen, auch wenn diese – zum Beispiel die von der Unvermeidlichkeit eines Krieges mit dem Westen – ziemlich monströs sind.
Der zweite und gravierendere Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte. Er ist für das russische Volk, aber gegen IrredentismusDas klassische Konzept des Irredentismus betont in Russland die Notwendigkeit vom „Schutz der Landsleute“ (sootetschestwenniki) im Ausland. Das Denkschema diente unter anderem als Legitimationsgrundlage für die Angliederung der Krim: Da die russische Ethnie auf der Halbinsel von einer „faschistischen Junta“ bedroht sei, müsse Russland eingreifen, um sie zu schützen, so die Argumentation.. Ein Nationalist, der aber nicht bereit ist, die Nation um jeden Preis zu retten. Ein Liberaler, der aber meint, dass man die KrimDie Krim ist eine Halbinsel im nördlichen Schwarzen Meer. Sie stand lange Zeit unter osmanischem Einfluss und wurde Ende des 18. Jh. von Russland erobert. In der Sowjetunion fiel die strategisch und kulturell wichtige und als Urlaubsdomizil beliebte Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik zu. Die 2014 erfolgte Angliederung an Russland löste eine internationale Krise aus. Mehr dazu in unserer Gnose nicht einfach so zurückgeben kann. Die Klammer, die all das im Programm Nawalnys zusammenhalten soll, ist natürlich der Kampf gegen KorruptionKafkas Schloss und Medwedews Villen Oppositionspolitiker Nawalny beschuldigt Medwedew: Unzählige Reichtümer habe der Premier über ein Netz von Stiftungen angehäuft. Diese wollte sich Anna Baidakowa von der Novaya Gazeta mal genauer ansehen. – gegen ebenjene Kompradoren-Eliten und für ein Aufblühen der Nation.
Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt
Und da beginnt Girkin plötzlich ganz ruhig von „politischer Philosophie“ und MarxEnde des 19. Jahrhunderts wurde Karl Marx in Russland zu einem der einflussreichsten Philosophen. Schon bald nach der deutschen Erstausgabe von 1867 gab es sein Kapital auch auf Russisch. Das Werk fand in Russland ein weitaus lebhafteres Echo als in Deutschland oder irgendwo sonst in Europa. Nach der Oktoberrevolution wurde ein vermeintlich texttreuer, dogmatischer Marxismus zu einer dominierenden und schließlich sogar absolut gesetzten Ideologie. Mehr dazu in unserer Gnose , von Basis und Überbau zu sprechen. Der Kampf gegen Korruption ist nicht möglich, urteilt der einstige Geheimdienstler, ohne eine Änderung der gegenwärtigen Weltordnung im Ganzen – ohne eine Absage an Russlands Rolle in der globalisierten Welt, an die vom Westen diktierte wirtschaftliche Zusammenarbeit, was wiederum auf friedlichem Wege nicht zu erreichen sei und so weiter. Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt. Der Kampf gegen Korruption führe zu nichts, solange wir in dieser wirtschaftlichen Ordnung leben, schließt Girkin seine Rede ab – das Thema bleibt offen. Darauf hatte sich Nawalny, der von seinem Wahlprogramm erzählen und Girkin mit Fragen zu Putin und dem abgeschossenen MH17-FlugzeugFlug MH17 war ein Linienflug des Unternehmens Malaysia-Airlines von Amsterdam nach Kuala-Lumpur, der am 17. Juli 2014 auf dem Separatistengebiet im Osten der Ukraine abgestürzt ist. Alle 298 Passagiere kamen dabei ums Leben. Laut Untersuchungsbericht ist das Flugzeug von einer BUK-Luftabwehrrakete aus russischer Produktion abgeschossen worden. Während die Ukraine und der Westen die prorussischen Seperatistenmilizen für die Tat verantwortlich machen, beschuldigt Russland die Ukraine und leugnet die Lieferung von entsprechender Technik an die Aufständischen. Die Einrichtung eines internationalen UN-Sondertribunals zur Klärung dieser Frage scheiterte im Juli 2015 am Veto Russlands. attackieren wollte, nicht vorbereitet.
Nawalny hat versucht, zwischen einer nationalistischen Agenda und liberalen Werten zu balancieren – in etwa der Cocktail, der in postsozialistischen Ländern von Polen bis Georgien als Treibstoff für den demokratischen Wandel diente. Doch dagegen wirkt eine gigantische Maschinerie des imperialen Ressentiments: Die KränkungenDas oft als Weimarer Komplex beschriebene sozialpsychologische Phänomen beschreibt die Analogie von Russland in den 1990er Jahren und der Situation in der Weimarer Republik. Demnach sahen sich beide Länder mit verlorener Größe ihrer Imperien konfrontiert, fühlten sich gedemütigt und kompensierten den Machtverlust durch Schuldzuschreibungen – vor allem ans Ausland und an „illoyale“ Minderheiten im Inneren. seitens der ganzen Welt, welche Millionen von Menschen nach dem Zerfall der UdSSRDer Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Mehr dazu in unserer Gnose real erlebt haben. Schließlich erlangten die Russen, im Unterschied zu den Bürgern anderer postsowjetischer Staaten, 1991 keine Unabhängigkeit von einem fremden und feindlichen Imperium, sondern sie verloren ihr eigenes. Und die Rezepte für den Übergang zu einer Demokratie sollten in dieser Situation andere sein.
Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei
Für die gegenwärtige Position Girkins ist die Analogie verständlich. Versetzen wir uns ins 20. Jahrhundert, in einen gewissen Staat, der eine Niederlage erlitten hat und in Teile zerfallen ist. Die Bühne bekommt ein Veteran, der an allen Kriegen teilgenommen hat und wieder bereit ist, die Feinde seiner großen Nation zu töten. Dieser ideologische Soldat redet von Feinden im Westen, die seine Heimat zergliedert haben, von der Notwendigkeit, die Großmacht wiederherzustellen, selbst auf kriegerischem Wege. Schließlich leiden die Vertreter unseres Volkes unter der Besatzung benachbarter, verfeindeter Staaten et cetera. Wer im Streit mit so jemandem auf den Kampf gegen Korruption pocht, schießt offenkundig am Ziel vorbei.
Eine politische Niederlage für Nawalny
Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei. Auch wenn man dabei erklärt, dass derzeit nicht die richtige Zeit für einen Krieg um die Einheit des russischen Volkes sei, weil das Land wegen der Korruption so verarmt sei.
https://www.youtube.com/watch?v=kT40xRKpEaU
Das ganze Format der Debatte, Nawalnys Büro als Drehort, das loyale Publikum während der Live-Übertragung, der bestens vertraute Michail SygarMichail Sygar (geb. 1981) ist ein russischer Journalist und Schriftsteller. In den Jahren 2010 bis 2015 war er Chefredakteur des TV-Kanals Doshd. 2015 brachte er ein aufsehenerregendes Buch über das Herrschaftssystem Russlands heraus, das unter dem Titel Endspiel: Die Metamorphosen des Wladimir Putin auch ins Deutsche übersetzt wurde. als Moderator – all das war ein Vorteil für den demokratischen Politiker. Aber es ist ihm nicht gelungen, diesen zu nutzen. Zeitweise konnte man den Eindruck gewinnen, Nawalny diskutiere aus reiner Gewohnheit. Dass er die imaginierten Wahlen gewonnen hat und das Land bereits mehrere Jahre regiert. Und dass er äußerst müde ist, ein und dieselben Schablonen-Sätze zu wiederholen, wo anstelle der Mai-DekreteEine Serie von Dekreten, die Wladimir Putin beim Antritt seiner dritten Amtszeit im Mai 2012 erließ. Sie sehen zahlreiche makroökonomische Entwicklungsziele vor, zum Beispiel die Schaffung von Millionen von Arbeitsplätzen und den Ausbau von Investitionen. Außerdem sollen die Gehälter von Staatsangestellten in sozialen Berufen bis zum Jahr 2020 deutlich angehoben werden. der Kampf gegen Korruption steht.
Die Debatte mit Girkin wurde zu einer politischen Niederlage für Alexej Nawalny.