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„Hinter den Vergiftungen gibt es ein System“

Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny war kein Einzelfall. Hinter den (versuchten) politischen Morden steckt laut Recherchenetzwerk Bellingcat System. Es gebe zahlreiche Hinweise auf die Beteiligung des FSB, die Fäden für die Auftragsmorde führten jedoch ganz nach oben – und nur der erste Mann im Staat zahle den Preis für deren Erfolg oder Misserfolg.

Zu diesen Erkenntnissen kommt der Investigativjournalist und Recherche-Leiter von Bellingcat Christo Grozev. Er ist der Mann hinter den Untersuchungen zum Abschuss von Flug MH17 und zu den Giftanschlägen auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa und Dimitri Bykow. Jede Recherche liefert neue Hinweise, legt Verbindungen zu älteren Fällen offen und zeigt Ähnlichkeiten in der Arbeit von FSB und seinem sowjetischen Vorgänger KGB auf.

Wie ist das System der politischen Morde in Russland aufgebaut? Warum stehen nicht nur oppositionelle Politiker wie Nawalny, sondern auch Schriftsteller wie Bykow auf der Abschussliste? Wie hängen die verschiedenen Fälle zusammen? Und warum bindet dieses System Wladimir Putin nur noch fester ans Präsidentenamt?

Auf diese Fragen antwortet Christo Grozev im Interview mit Yevgenia Albats – Chefredakteurin des Online-Mediums The New Times und Kennerin der FSB-Geschichte.

Quelle The New Times

Jewgenija Albats: Viele kennen Ihren Namen und wissen, dass Sie Teil des Recherchenetzwerks Bellingcat sind und unmittelbar an der Aufklärung von Morden und Mordversuchen arbeiten, die die Politische Polizei in Russland verübt. Sie untersuchten unter anderem die Anschläge auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa, Dimitri Bykow. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen zu diesem Thema, aber vielleicht erzählen Sie mir zuerst: Wer sind Sie, Christo Grozev? Die russische Propaganda behauptet, dass Sie bei der CIA sind, oder dem britischen Geheimdienst MI-6 oder MI-5, vielleicht auch beim israelischen Mossad … Also, wer sind Sie?

Christo Grozev: Die Behauptung, ich würde für westliche Geheimdienste arbeiten, gab es schon, bevor ich in Russland als Journalist bekannt wurde. Aber die Antwort ist ziemlich einfach: Ich wurde in Bulgarien geboren, bin gleich nach der Schule für eine Weile nach Europa gegangen – ich wollte Musikradio machen, das war gegen Ende des Kommunismus. Dann bin ich nach Bulgarien zurück, wollte dort den ersten Musiksender gründen. Das war damals noch verboten, also betrieb ich einen Piratensender. Danach habe ich in den USA Journalismus studiert. Gleich nach der Uni bekam ich einen Job: Ich sollte die ersten kommerziellen Rundfunksender in Russland aufbauen. Ein amerikanisches Unternehmen, das seine Erfahrung aus den USA nach Russland und Osteuropa bringen wollte. Dort machte ich Karriere, wurde zunächst Regionaldirektor, dann geschäftsführender Direktor der ganzen Radiogruppe. Dann habe ich in den Niederlanden investiert – das ist alles. Das war ein Selbstläufer, ich musste mich nicht jeden Tag darum kümmern. Und dann begann der Krieg. Der Dritte Weltkrieg, wie ich ihn nenne, der 2014 begann. Und ich fing an, meinen Blog zu führen …

Heute ist es ein globaler Krieg mit dem Einsatz von Informationen als Waffe

Sie meinen die Annexion der Krim? Und die Truppen im Donbass?

Ja, das war der Anfang. Aber danach veränderte sich alles. Heute ist es ein globaler Krieg … Weder ein kalter noch ein bewaffneter, aber dennoch ein Krieg, an dem alle Seiten irgendwie beteiligt sind. Mein Blog widmete sich zunächst dem, was man „weaponization of information“ nennt, also dem Einsatz von Information als Waffe, damals durch Russland, aber nicht nur – zu Beginn des Krieges auch durch die Ukraine. Dann kam MH17, und das wurde mein Hauptthema, dadurch bin ich zu Bellingcat gekommen. Nach ein paar Untersuchungen übernahm ich die Recherche-Leitung.

Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie mit dem Radiosender viel Geld gemacht.

Nicht viel nach russischen, also Oligarchen-Maßstäben. Aber für bulgarische Verhältnisse schon. Ich kann gut davon leben und meinem Hobby nachgehen. Ich kann sogar in mein Hobby investieren, was ich seit vier Jahren tue.

Diese Recherchen bezahle ich

Bellingcat zahlt Ihnen also kein Gehalt?

Nein. Ich bestehe immer noch darauf, dass sie mich nicht bezahlen, damit die Frage, woher das Geld für die Recherchen kommt, ganz klar beantwortet werden kann. Bei Bellingcat ist zwar auch alles transparent, aber für mich ist es einfacher zu sagen: „Ich. Ich bezahle diese Recherchen.“ Deshalb garantiere ich mit meinem Namen: Niemand hat für mich diese Recherchen bezahlt, weder die Amerikaner noch die Briten noch sonst wer. Meine Finanzen lassen sich leicht überprüfen: Das sind die Dividenden aus dem kommerziellen Musiksender, mehr gibt es nicht.

Sie investieren Ihr Geld, Ihre Zeit und Ihre Sicherheit – denn es ist klar, dass diese Arbeit gefährlich ist – in Untersuchungen, die mit Russland und russischen Politikern zu tun haben. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Das ist nichts, was ich vorher geplant hätte. Untersuchungen werden dort gemacht, wo Verbrechen verübt werden. Es gibt einen Krieg, das ist Fakt, und Russland ist eine der Kriegsparteien. Die offensichtlichsten grenzüberschreitenden Verbrechen, hinter denen der Staat steht, sind die russischen Verbrechen. Auch das ist ein Fakt.

Als wir anfingen, die Katastrophe um den Flug MH17 zu untersuchen, wusste ich nicht, dass Russland für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich ist. In den ersten Stunden nach dem Vorfall hielt ich es für wahrscheinlicher, dass die Ukraine es versehentlich abgeschossen hatte. Ich hielt die Mitschnitte abgefangener Telefonate, die der SBU [Inlandsgeheimdienst der Ukraine – dek] im Internet veröffentlicht hatte, für eine Fälschung. Erst später dann verstand ich, dass sie nicht gefälscht waren. Wissen Sie, wie? Weil sie damals auch die Telefonnummern veröffentlicht haben, von denen diese Mitschnitte stammten. Ich fing an, diese Nummern anzurufen, und hatte tatsächlich Separatisten am Apparat, die mir alles erzählten. 

Sie haben gezeigt, dass es ein System hinter den Vergiftungen gibt

Aber nun zu Ihrer jüngsten Untersuchung, bei der mir das Wichtigste zu sein scheint, dass Sie gezeigt haben, dass es ein System gibt: nämlich die Kooperation zwischen der 2. Abteilung des FSB und dem NII 2 [Institut für Kriminalistik des FSB – dek]. Zur 2. Abteilung des FSB gehört der Verfassungsschutz, die sogenannte Dienststelle „S“. Sie ist die Nachfolgerin der 5. Hauptverwaltung des sowjetischen KGB, die gegen Dissidenten und Andersdenkende kämpfte, die Kirche, Profisportler, NGOs und so weiter überwachte. Wir wissen, dass es in der Geschichte der Politischen Polizei in der Sowjetunion immer Abteilungen gab, die für politischen Terror und Morde verantwortlich waren. So war es früher, vor den Verbrechen, die Sie jetzt untersuchen. Woher wissen Sie, dass es tatsächlich eine Kollaboration zwischen der politischen, ideologischen Spionageabwehr und einem Institut gibt, das sich auf Vergiftungen spezialisiert?

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass wir das nicht objektiv wissen. Das werden wir tun, sobald wir irgendein Dokument finden, das uns zeigt, wie alles organisiert ist. Im Moment können wir lediglich auf analytischem Wege Hypothesen aufstellen. Ich stelle alle Fakten zur Verfügung, die wir haben, und dann können Sie, wenn Sie möchten, eine Gegenhypothese aufstellen. Was wir sehen, ist, dass an jeder Vergiftungsoperation Menschen aus unterschiedlichen Abteilungen beteiligt sind. Wir haben lange gerätselt, aus welchen Abteilungen sie kommen. Wir hatten gedacht, das wären Ad-hoc-Gruppen, Brigaden aus Fachleuten mit unterschiedlichem Background. Aber dann wurde uns klar, dass es offenbar doch eine klare Arbeitsteilung gibt. Und der erste Teil – die Beschattung, während der die Entscheidung vorbereitet wird – wird ausschließlich von Leuten aus der 2. Abteilung des FSB übernommen, die General Sedow untersteht.

Jede neue Untersuchung liefert uns auch zu älteren Fällen neue Erkenntnisse. Bei dem aktuellen Fall haben wir zum Beispiel gesehen, dass die Leute, die sowohl Nawalny als auch Bykow und Kara-Mursa beschattet hatten, alle aus Sedows Abteilung kommen. Aus seiner Abteilung kommen auch diejenigen, die im Ausland Menschen erschießen, wie zum Beispiel im Fall Khangoshvili.

Der erste Teil wird vom FSB ausgeführt. Dann werden Chemiker, Ärzte eingeschaltet

Das ist ein wichtiger Punkt. Sie sagen also, die Beschattung wird von Mitarbeitern der 2. Abteilung des FSB durchgeführt?

Ja. Aber das ist keine „einfache“ Beschattung, über die alle Bescheid wissen. Diese Beschattung hat das Ziel, eine Handlung herbeizuführen. Anders als bei einer einfachen Beschattung wird hier nie etwas an die örtlichen Strukturen delegiert. Weder weiß der lokale FSB, dass diese Menschen kommen, noch sprechen sie mit jemandem vor Ort, mit Ausnahme der Region Stawropol und Tschetschenien.

Der erste Teil des Auftrags wird also ausschließlich von Menschen aus der 2. Abteilung ausgeführt. Und dann, ab einem bestimmten Zeitpunkt, werden Spezialisten aus dem NII 2 eingeschaltet. Das sind dann Chemiker, Ärzte oder Fachleute für Chemiewaffen oder Chromatographie-Spezialisten, es gibt auch Fachleute, die wissen, wie man Spuren verschiedener Chemikalien findet, und so weiter und so fort. Aber die kommen erst in der letzten Phase dazu.

So wurde uns die Arbeitsteilung klar. Und auch, dass die Beteiligten sich gegenseitig nicht unbedingt gut kennen. Kudrjawzew, zum Beispiel, der „Spurenbeseitiger“ aus dem NII 2, mit dem Nawalny telefoniert hat, kannte die Namen seiner Kollegen nicht … Er wusste zum Beispiel nicht, wie der Kollege aus der 2. Abteilung heißt, mit dem seine direkten Kollegen aus dem NII 2, Ossipow und Alexandrow, zusammen den Anschlag auf Nawalny verübten.

Wer sind Ossipow und Alexandrow?

Ossipow und Alexandrow sind zwei Chemiker und Ärzte, zwei Schlüsselfiguren aus dem NII 2. Sie arbeiten seit 2008 in diesem Dienst. Dem Vergiftungsdienst. Nach unserem Kenntnisstand sieht die Rangordnung folgendermaßen aus: Diese Ärzte führen Aufgaben aus, die ihnen die 2. Abteilung überträgt. Die 2. Abteilung wiederum steht in Kontakt zur politischen Führung.

Das heißt, der Auftrag kommt von oben …

Man könnte es so formulieren: Die Listen führt die 2. Abteilung des FSB.

Haben Sie diese Listen jemals gesehen?

Nein, wir selbst nicht. Ich habe schon vor langer Zeit von der Existenz dieser Listen gehört, schon 2014/2015. Von Menschen, die früher beim FSB oder in den Machtstrukturen tätig waren. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, falls es sie gibt, dann eher im Wirtschaftsbereich, dass jemand [privat] Abschusslisten führt. Aber jetzt weiß ich, dass diese Listen doch über die 2. Abteilung erlassen werden. In der letzten Phase, wenn der Anschlag verübt wird, ist immer jemand aus der 2. Abteilung und ein oder zwei Vertreter der Chemiebrigade aus dem NII 2 involviert.

Vielleicht wählen sie einen Kriminellen, der tut, was man ihm sagt

Das heißt, das NII 2 ist eine rein ausführende Instanz.

Sie sind Dienstleister. Und hier ist wichtig zu verstehen, dass die Leute aus der 2. Abteilung, die die Operation vorbereiten, sie nicht zwangsläufig mit den Händen des NII 2 zu Ende bringen. Vielleicht wählen sie auch ein anderes Mittel, eine Pistole zum Beispiel und einen Kriminellen, der einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und tut, was man ihm sagt.

Das war eine sehr beliebte Methode des KGB.

Ja. Und einige von unseren zukünftigen Recherchen werden vermutlich zeigen, wie das gemacht wird. Das heißt, durch die 2. Abteilung des FSB, aber mit anderen Händen.

Der KGB entließ für die Ausführung eines Auftrags gewöhnlich einen Häftling mit lebenslanger Haftstrafe aus dem Lager, oder jemanden, der in den Uranminen seine Strafe verbüßte.

Etwas Ähnliches konnten wir in der Ukraine beobachten, als ein Oberst der ukrainischen Militäraufklärung eliminiert werden sollte, der offenbar russische Militärinteressen im Osten der Ukraine verletzt hatte. Der Mann, den sie dort hinschickten, reiste mit einem gefälschten Pass ein, einem tadschikischen oder kirgisischen. Aber der Anschlag missglückte, die Autobombe tötete ihn selbst. Wir haben uns daraufhin angeschaut, wer er war, welchen Background er hatte, wir konnten ihn identifizieren. Wie sich zeigte, war er ein ehemaliger Polizist, Ermittler beim Drogendezernat in Moskau. Er war der Erpressung einer sehr großen Bestechungssumme überführt und zu einer hohen Haft- und einer riesigen Geldstrafe verurteilt worden, fast eine Million Dollar. Und vier, fünf Monate nach der Verurteilung tauchte er plötzlich in Kiew auf – offenbar hatte man ihm angeboten, seine Probleme loszuwerden …

Es gibt eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des Militärnachrichtendienstes

Warum hat man mit der Beseitigung Litwinenkos in London Lugowoi beauftragt – der doch beim KGB gearbeitet hat, für die Nomenklatura zuständig war, zu Gaidars Personenschutz gehörte und so weiter?

Ich habe diesen Fall nicht untersucht, aber logisch kann ich es mir so erklären, dass sie jemanden gebraucht haben, dem Litwinenko vertraute und den er treffen würde, obwohl er Angst vor einem Anschlag hatte. Übrigens erinnere ich mich, dass es wohl auch gegen Lugowoi zu jener Zeit oder schon früher ein Strafverfahren gab.

Ja stimmt, Lugowoi hatte ebenfalls große Probleme mit den russischen Behörden. Und das Attentat auf Skripal und seine Tochter in Salisbury – da gilt es doch als bewiesen, dass die Killer aus dem Militärnachrichtendienst GRU kamen.

Da gibt es eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des GRU. Nur die Morde an Tschetschenen übernimmt normalerweise der FSB. Das gilt als dessen Territorium, da werden die Grenzen Russlands sozusagen virtuell ausgeweitet. Deshalb war auch die Ermordung Khangoshvilis in Berlin 2019 Sache des FSB. Genau wie der Mord an einigen anderen Islamisten und Terroristen (die sie in deren Augen sind) 2014, 2015 und noch 2016 in der Türkei. Aber der Anschlag in Salisbury war ganz sicher Sache des GRU. Nicht nur, weil es das Ausland war, sondern auch, weil das Opfer ein Kollege war, jemand vom Militärgeheimdienst.

Nur sehr wenige Leute sind in die politischen Morde eingeweiht

Das sind also die Ausführenden. Und die Auftraggeber beziehungsweise diejenigen, die den Auftrag für die oberste Führung Russlands ausarbeiten, das sind die 2. Abteilung und der ihm zugehörige Verfassungsschutz. Die 2. Abteilung wird von General Sedow geleitet. Wo genau verorten Sie seine Rolle?

Wir sehen nur eine Hierarchieebene zwischen General Sedow und dem ranghöchsten Mitarbeiter, der konkret an diesen Attentaten beteiligt war: Roman Mesenzew aus der 2. Abteilung, der Kara-Mursa bis zu dessen Vergiftung beschattet hat. Er steht in der Rangordnung ziemlich weit oben, ist entweder Oberst oder General. Dieser Roman Mesenzew steht in direktem Kontakt zu General Sedow, das heißt, seinem direkten Vorgesetzten. Deshalb glaube ich, dass der Weg vom Chef der 2. Abteilung zu den Todesschwadronen, wie man sie bezeichnen kann, recht kurz ist.
 
Es ist doch aber erstaunlich, dass ein Oberst oder General die Beschattung übernimmt, da stimmt doch etwas nicht.

Noch einmal: Das ist keine Beschattung, verstehen Sie? Das ist eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Nur sehr wenige Leute sind eingeweiht. Dieser Kreis darf nicht erweitert werden, sonst hätten wir das, was wir jetzt wissen, schon vor fünf bis zehn Jahren gewusst. Diese Art von Arbeit ist nicht nur illegal, sondern auch illegitim. Und nur Leute, die das bereits verinnerlicht haben, bleiben weiterhin eingeweiht. Sonst könnte es jemanden geben, auch innerhalb des FSB, der davon erfährt, dass sie politische Gegner beschatten, und der sich dann einfach besäuft, es seiner Frau erzählt und so weiter, und dann würde alles ins Rollen kommen. Deshalb wissen nur sehr wenige von der Existenz dieser Unter-Unter-Unterabteilung der Dienststelle S [Verfassungsschutz – dek]. Und das macht es manchmal erforderlich, dass auch jemand aus der Führungsebene mitarbeitet.

Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt der erste Mann im Staat

[Bellingcats Auswertungen von Passagierlisten russischer Linienflüge haben Bewegungsprofile von FSB-Mitarbeitern offengelegt und zahlreiche Hinweise auf Nawalnys Vergifter geliefert. – dek] Wohin ist General Sedow denn geflogen?

Sedow ist recht viel geflogen, doch eine konkrete Überschneidung sehen wir mit Oberst Eduard Bernezki, der beispielsweise das Attentat auf Khangoshvili in Berlin unmittelbar koordinierte und überwachte. In Russland sind sie mehrmals zusammen geflogen, General Sedow und dieser Eduard Bernezki. Und einige Zeit später koordinierte Bernezki das Attentat auf eine der Zielpersonen. Daher ist Sedow mit Sicherheit eingeweiht, anders kann es nicht sein. Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt nämlich der erste Mann im Staat. Deshalb würde es dieser erste Mann niemals zulassen, dass jemand anderes die Entscheidungen fällt und absegnet.


 
Ehemalige KGBler sagen Folgendes: Niemand lässt sich auf einen politischen Mord ein, wenn es keine Garantie gibt, dass er am Ende nicht der Dumme ist. Und der Einzige, der deinem Vorgesetzten diese Garantie geben kann, der wiederum dir einen solchen Befehl erteilt, ist der erste Mann im Staate – der Generalsekretär oder der Präsident.

Aber glauben diese Leute – hier geht es um die Giftmischer und die Leute aus der 2. Abteilung –, glauben die ihrem General Sedow aufs Wort, dass diese Entscheidung auf höchster Ebene getroffen wurde? Ich würde an deren Stelle nicht darauf vertrauen, dass mich jemand im Falle des Falles rettet … 

Da können wir nur Vermutungen anstellen. Jedoch wissen wir etwas durch die Aussagen von Sudoplatow und dessen Stellvertreter Eitington, die nicht an der Spitze des NKWD, der OGPU, des NKGB et cetera standen, sondern Abteilungsleiter waren. Sie wussten nämlich, dass der Befehl zur Beseitigung eines politischen Widersachers unmittelbar von Stalin oder von Stalin und Molotow kam. Sudoplatows Aufzeichnungen zufolge konnte es anders gar nicht sein.

Der Fall Bykow: ‚Es gab eine Vergiftung, das haben Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie nicht wussten, womit.‘

Da ist noch eine wichtige Frage. Beim Fall Nawalny konnten Sie nicht nur aufdecken, dass er von Leuten des NII 2 beschattet wurde, es ist ihnen auch gelungen, einen der „Spurenbeseitiger“ zu kontaktieren: Kudrjawzjew, der in eben diesem NII 2 arbeitet. Wir haben keine Zweifel, wer den Mord mit dem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe in Auftrag gegeben hat. Was aber die Mordversuche an Kara-Mursa und Bykow angeht … Wir sehen, dass in beide Fälle Ossipow vom NII 2 verwickelt war. Woher wissen wir aber, dass Bykow vergiftet wurde? Dmitri Muratow, der seinerzeit unmittelbar Bykows Abtransport aus Ufa organisiert hatte, erzählte mir, dass Bykow sehr hohe Blutzuckerwerte hatte, und er starke Zweifel hat, dass es eine Vergiftung war. Welche Beweise haben Sie?

Zum einen gab es eine Beschattung, und zwar eine vorbereitende, nach demselben Prinzip, das wir bei Nawalny gesehen haben. Zuerst war es nur die Dienststelle S, dann wurde ein Chemiker und Arzt hinzugeholt, Ossipow. Der verbringt einen Großteil seiner Arbeitszeit im NII 2. Eine Analyse seiner Telefon- und Verbindungsdaten zeigt, dass er ausgerechnet mit Fachleuten für Nowitschok zu tun hat. Das heißt, er steht im Wesentlichen in Kontakt mit Leuten aus dem ehemaligen 33. Institut [33. Zentrales Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums – dek] und mit jenen, die jetzt im Wissenschaftszentrums Signal tätig sind und dort an einer Weiterentwicklung des Nervengifts Nowitschok arbeiten. Das heißt, er ist nicht irgendein beliebiger Beschatter. Er machte sich unter falschem Namen auf, auch das ist wichtig. Denn die Beschattung wird oft unter dem Klarnamen durchgeführt. Wenn sie sich aber entscheiden aktiv zu werden, nehmen sie die zweiten Pässe, um keine Spuren zu hinterlassen (wobei sie damit meiner Ansicht nach nur noch mehr Spuren hinterlassen).

Deshalb ist Ossipow unter dem Namen Spiridonow ausgerechnet nach Nowosibirsk geflogen, ohne Rückflugticket und mit einer zweiten Person, die am Tag der Vergiftung Nawalnys ebenfalls mit Nawalny in Tomsk war. Ihr Vorgesetzter Sucharew fliegt zur gleichen Zeit nach Sotschi, ebenfalls ohne Rückflugticket. 

Und in der Nacht, nachdem Bykows Hotelzimmer ungefähr sechs Stunden lang leergestanden hatte (der ideale Zeitpunkt, um dort reinzugehen), da kauften sie sofort Tickets und kehrten am nächsten Tag nach Moskau zurück. Zwei Tage später fällt Bykow ins Koma.

Es bleibt die Frage, ob das Koma durch eine Vergiftung ausgelöst wurde. Und als Antwort sollte man nicht die Worte oder Versionen von Herrn Muratow übernehmen, der Bykow seinerzeit sehr geholfen hat, der ihm wohl wirklich das Leben gerettet hat. Weil die Ärzte in ihrer Diagnose „Vergiftung durch unbekannte Substanz“ geschrieben hatten. Was von erhöhtem Blutzucker begleitet wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach, weil er in einem prädiabetischen Zustand war. Man muss aber wissen: Eine Vergiftung mit organischen Phosphaten wird stets von einem erhöhten Glukosespiegel begleitet.

Also, es gab eine Vergiftung, das haben die Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie damals nicht wussten, womit. Der Giftmörder war ganz in der Nähe. Welche harmlose Erklärung wollen Sie mir da geben?

Bykow glaubte aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde

Es gab den Anschlag auf Wladimir Kara-Mursa, die Gründe sind mehr oder weniger klar. Er ist ein Politiker, der ganz direkt den Magnitsky-Act vorantreibt, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in anderen Ländern. Es liegt auf der Hand, wer sich warum an ihm rächen will. Bei Alexej Nawalny ist es noch offensichtlicher. Er ist Putins persönlicher Feind. Dann gibt es noch den Fall Pjotr Wersilow, bei dem man in der Charité keine giftigen Substanzen gefunden hat. Allerdings vermuten Angehörige, dass er ebenfalls mit etwas vergiftet wurde.

Aber nun zurück zu Bykow. Er ist zweifellos sehr talentiert und hat hervorragende Romane geschrieben; einige seiner Vorlesungen sind einfach genial. Ein Dichter! Warum hätte man ihn vergiften wollen?

Zu den Motiven weiß ich keine Antwort. Und der Umstand, dass es keine offensichtlichen Motive gab, hat mir noch mehr innere Überzeugung abgefordert, dass es sich um einen Vergiftungsanschlag handelte. Denn es ist sehr viel einfacher, den Leser zu überzeugen, dass jemand vergiftet wurde, wenn es ein offensichtliches Motiv gibt. Fehlt das, ist die Unsicherheit viel größer. Deswegen haben wir so lange für diesen Bericht recherchiert.

Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich habe Bykow einen Tag vor der Veröffentlichung gefragt. Er wusste auch keine Antwort, glaubte aber aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde.

Sie reden mit Pseudowissenschaftlern. Das ist die Art Berater, die sie haben

Wir wissen nicht, wie es in ihren Köpfen aussieht, wie sie denken. Vielleicht haben sie irgendein Labor, in dem sie Risikomodelle erstellen. Ich weiß, dass diese Leute Pseudowissenschaft betreiben. Das sieht man an ihren Telefongesprächen, aus den Verbindungsdaten, den Gesprächen mit diversen Wahrsagern und Hellsehern.

Sie reden mit Pseudowissenschaftlern … Das ist die Art Berater, die sie haben ... Daher ist es durchaus möglich, dass sie irgendein virtuelles Labor haben, in dem ihnen jemand etwas prophezeit, wie in Minority Report, falls sie den Film gesehen haben …

Könnte es sein, dass sie getestet haben, welche Dosis tödlich ist, welche nicht, bei Menschen mit unterschiedlicher Statur, mit unterschiedlichen Begleiterkrankungen?

Das wäre zu grausam, sogar für sie. Kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre zu viel.

Ich denke, das Risiko, dass eine solche Operation scheitert, wäre zu groß, als dass sie an so zentralen Persönlichkeiten herumprobieren würden. Sie würden das bei irgendwelchen unbekannten Leuten machen.

Mörder heranzuziehen ist ein besonderer Prozess

In einem der Videoclips sagen Sie zurecht, dass wir von Fällen wissen, in denen ein Giftanschlag misslungen ist, dass wir aber nicht wissen, wie viele Menschen ermordet wurden. Rätselhafte Todesfälle hat es sowohl in London als auch in Moskau gegeben, und wohl auch an anderen Orten. Sie haben mir in einem der Interviews gesagt, dass es, wenn man all die Daten bei Gericht vorlegen würde, sehr schwierig wäre, sie zu leugnen, dass das Gericht genug Beweise hätte, um ein Verfahren wegen versuchten Mordes oder Mordes zu verhandeln. Was meinen Sie, würde so etwas die russische Staatsführung davon abhalten, mit dieser Praxis fortzufahren oder nicht?

Ich denke, das würde den Staat nicht aufhalten. Es würde aber sehr viel schwieriger werden, diese Strukturen schnell zu regenerieren, sie überhaupt wiederherzustellen. Mörder heranzuziehen ist nämlich ein besonderer Prozess. Es gibt ein recht großes Kontingent an Leuten, die zu den Sicherheitsdiensten gehen, um ihre Heimat zu verteidigen. Im weiteren Verlauf sind sie bereit, sich ein recht breites Verständnis, eine weit gefasste Definition von Feind eigen zu machen. In keine dieser Definitionen passt für einen frischgebackenen FSBler aber ein Feind wie Nawalny, ein Feind wie Bykow.

Am Anfang ist der Feind ein Terrorist, der während des Musicals Nord-Ost oder in einer Schule Geiseln nimmt oder Unschuldige mit einer Bombe umbringt und so weiter. Darauf sind sie vorbereitet, verstehen sogar, dass man einiges jenseits des Gesetzes machen muss, allerdings im Namen einer guten Sache. Aber nach einer Weile entfernen sich die Ziele von diesem Verständnis, es kommen Feinde hinzu, die nicht mehr ganz so offensichtlich Feinde sind – und das geht so weit, dass sie aufhören, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und schließlich zu Geiseln ihrer eigenen Arbeit werden. Dieser Prozess braucht nach unseren Beobachtungen allerdings mindestens fünf, sechs, sieben Jahre.
 
Das heißt also, die Todesbrigaden bestehen aus auserwählten Menschen, die sich längst nicht alle zu direkten politischen Morden bereiterklären, selbst auf Befehl nicht. Müssen General Sedow und die Führungsriege des NII 2 jetzt, wo viele von diesen Leuten durch Ihre Recherchen im Rampenlicht stehen, intensiv an den Personalressourcen arbeiten, um neue Todesbrigaden aufzubauen?

Absolut richtig. Umso mehr, als es sehr viel schwieriger sein wird, neue Leute für etwas zu rekrutieren, bei dem es nicht mehr wie früher die Garantie gibt, dass alles auf immer geheim bleibt. Wie es aussieht, haben ein paar nichtsnutzige Journalisten es offenbar geschafft, sie zu enttarnen und ihr Privatleben zu zerstören, weil sie bereits von ihren Nachbarn gehasst werden, verstehen Sie? Und von ihren Verwandten. Ich denke, es wird sehr viel schwieriger werden, neue Leute zu rekrutieren.

Nach dem, was er getan hat, kann er nicht von dieser Macht zurückzutreten

Da wäre noch ein Punkt. Wir alle erinnern uns, wie US-Präsident Joe Biden die Frage eines amerikanischen Journalisten bejahte, ob er Putin für einen Mörder halte. Der Sender NBC, der Putin vor dem Treffen der beiden Präsidenten [in Genf] interviewte, fragte ihn ganz direkt: „Sind sie ein Mörder?“ Putin wird zum Gefangenen einer aus seiner Sicht schlecht erledigten Arbeit (aus unserer Sicht: Danke, dass sie nicht mal fähig sind zu morden). Wäre ich an Putins Stelle, würde ich mich fragen: Was nützen mir Vollstrecker, die nichts sauber hinkriegen und mich in eine so heikle Lage bringen? Umso mehr, wenn dann sogar die Kinder fragen: „Papa, hast du wirklich Morde genehmigt?“ Oder der engste Kreis sagt: Wie können wir einen Präsidenten akzeptieren, von dem die ganze Welt sagt, dass er ein Mörder ist? Da entstehen doch für Putin, was sein Überleben betrifft, ganz erhebliche Risiken, oder nicht?

Ja. Ich denke, er ist Gefangener seiner eigenen Vergangenheit. Ich sage das nicht als investigativer Journalist. Das ist meine persönliche Analyse. Nach dem, was er getan hat oder aus guter alter Tradition weiterhin tat, obwohl es nicht mehr angebracht war, kann er es sich nicht erlauben, von dieser Macht zurückzutreten. Und garantieren, dass er nicht geht oder zumindest nicht auf normale Weise geht, kann er nur, wenn er diese Strukturen aufrechterhält. Weil sonst niemand weiß, was in ein, zwei Jahren bei den Wahlen passieren wird. Es ist unmöglich, sich auf sanfte Art von solchen Entscheidungen, von einem solchen Arsenal zu lösen.

Er ist nicht mehr so sehr der Verteidiger und Förderer der Interessen der herrschenden Nomenklatura, sondern stellt für deren Kapital ein gewisses zusätzliches Risiko dar. Ich würde sagen: das ist ein Gefangenendilemma.

Ich denke aber, was in diesem Dilemma überwiegen wird … Vermutlich wird sich eher die Elite von ihm lossagen als er sich von der Elite. Weil die Elite dann ihr Gesicht wahren kann, und sei es um der eigenen Verwandten und Kinder willen, indem sie erklärt: Ich habe ja nicht gewusst, dass er das getan hat.

Es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und dem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast

Umso mehr, als dass niemand in der Elite sicher sein kann, dass er nicht morgen auch auf einer solchen Liste landen könnte, wie unter Genosse Stalin. Meine letzte Frage, Christo. Sie sind wohlhabend, Sie leben in Europa, Sie kommen aus Bulgarien, und nicht aus Russland. Wozu machen Sie das alles?

Nun, das ist doch alles sehr ungerecht, und ich sehe, dass man es ans Tageslicht befördern und beweisen muss … Haben Sie mal den Film über diesen amerikanischen Chemielehrer gesehen, der zum Drogenhersteller wurde, Breaking Bad? Ich habe diesen Film vor anderthalb, zwei Jahren gesehen und dachte, dass ich diese Motivation zum Teil auch habe. Das heißt, du fängst an, etwas zu tun, was überhaupt nicht deine Aufgabe ist, und plötzlich stellt sich heraus, dass du es besser machst als die Geheimdienste. Und es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und diesem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast … Es ist sehr schwer aufzuhören, wenn du das erstmal erkannt hast.

Vielen Dank für Ihre Arbeit.

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Im Dezember 2018 holte den russischen Präsidenten Wladimir Putin seine Vergangenheit ein: Der Mann, der in Russland seit nunmehr fast 20 Jahren die Fäden zieht, begann seine Karriere 1985 in Dresden, beim sowjetischen Geheimdienst KGB (Komitet gossurdarstwennoi besopasnosti, dt. Komitee für Staatssicherheit). Und nun tauchte der Ausweis auf, mit dem KGB-Major Putin Zugang zu allen Dienststellen seiner ostdeutschen Kollegen hatte.1

Als 1989 aufgebrachte DDR-Bürger das KGB-Büro in der Dresdner Angelikastraße belagerten, gab sich Putin als Dolmetscher aus. Dabei war er zu der Zeit wohl mindestens stellvertretender Abteilungsleiter und unter anderem Verbindungsglied des KGB zur DDR-Staatssicherheit.

Der Karriere des jungen Silowik tat diese Episode keinen Abbruch, im postsozialistischen Russland stieg Putin über Stationen als Hochschulrektor, stellvertretender Bürgermeister, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung 1998 zum Chef des damals schon umbenannten Inlandsgeheimdienstes FSB (Federalnaja slushba besopasnosti, dt. Föderaler Sicherheitsdienst) auf. Das war nur ein Jahr bevor ihn der scheidende Präsident Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten und Ende 1999 zum Interimspräsidenten machte.

Unauflöslich ist der Name Putin mit den gefürchteten russischen Geheimdiensten verbunden. Besonders seine alten Kollegen vom FSB – so die landläufige Meinung – hätten dabei nicht nur Putins Hausmacht gebildet, sondern seien auch seine besonderen Günstlinge. Doch diese Annahme ist nicht haltbar, wenn man sich die Geschichte des FSB nach 1990 genauer anschaut.

Gründung, Erbe und Aufgaben des FSB

Eine der wesentlichen demokratischen Reformen im ehemaligen sowjetischen Machtbereich nach 1990 war die Zerschlagung der nahezu allmächtigen Staatssicherheitsapparate. Der sowjetische KGB war ein gigantischer Apparat mit über 700.000 Mitarbeitern.2 Diese enorme Anzahl erklärt sich durch die Akkumulation verschiedener Aufgabengebiete über die Jahrzehnte. Neben typischen Funktionen wie der Auslandsspionage, Spionageabwehr und der von der kommunistischen Partei auferlegten Bekämpfung jeglicher politischer und gesellschaftlicher „Feinde“, gehörten zum KGB auch verschiedene bewaffnete Truppen, die Grenztruppen der Sowjetunion sowie Personenschutz und Versorgung der Systemträger.

Mit dem Ende der Sowjetunion wurde dieser Machtapparat zerschlagen und seine Aufgaben wurden auf eigenständige Behörden übertragen: Der Auslandsgeheimdienst (Slushba wneschnei raswedki – SWR) wurde zu einer separaten Behörde, genauso wie der Personen- und Objektschutz, die Telekommunikationsüberwachung und zunächst auch die Grenztruppen. Damit sollte die enorme Machtkonzentration aufgelöst und ein System von Checks and Balances geschaffen werden.

Die Inlandsaufgaben, die vormals der KGB ausgeführt hatte, also Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, aber auch organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität, waren von nun an das Arbeitsgebiet des FSB. Dieser wurde offiziell am 3. April 1995 gegründet, in den vier Jahren zuvor hatte er wechselnde Bezeichnungen getragen.

In gewisser Hinsicht erlosch das sowjetische Erbe tatsächlich nie, auch heute findet man klare Anklänge und Kontinuitäten zur sowjetischen Geheimpolizei: vor allem wenn es um politische Verfolgung geht. Genau wie zu Sowjetzeiten verläuft die Grenze zwischen typischen Sicherheitsfunktionen, die auch in liberalen Demokratien von Geheimdiensten ausgeführt werden, und Repressionen gegen Andersdenkende immer noch fließend. Zwar wurden viele KGB-Abteilungen in den 1990er Jahren aufgelöst und zahlreiches Personal entlassen, viele Traditionsmuster, Ausbildung, kulturelle und soziale Prägungen sowie die Mentalitäten der Mitarbeiter, blieben jedoch weitgehend erhalten. Seine Wurzeln sieht der FSB auch heute in der revolutionären Tscheka, der Geheimpolizei der Bolschewiki nach der russischen Revolution.

Der FSB im politischen System

Eine Konstante erhielt sich der FSB auch bei seinem Leitungspersonal. In den letzten 20 Jahren hatte die Behörde gerade einmal drei Direktoren: Auf Wladimir Putin folgte bis 2008 Nikolaj Patruschew, der dann als enger Vertrauter Putins Chef des Nationalen Sicherheitsrates wurde. Seitdem ist Alexander Bortnikow im Amt.

Allerdings gibt es heute einen großen Unterschied: Ganz anders als zu Sowjetzeiten ist der FSB heute in eine vielschichtige Sicherheitsarchitektur eingebunden. Er ist zwar der größte russische Geheimdienst, nichtsdestoweniger jedoch nur noch ein Akteur unter mehreren. Neben dem Militärgeheimdienst GRU und dem Auslandsgeheimdienst SWR gehören dazu auch das Innenministerium, das Verteidigungsministerium, die Nationalgarde, der Ermittlungsdienst des Generalstaatsanwalts und der Föderale Dienst für Bewachung FSO. Zusammengefasst sind alle Sicherheitsdienste und Ministerien im Nationalen Sicherheitsrat, wobei die drei klassischen Geheimdienste FSB, SWR und GRU sich zudem gegenüber der Präsidialadministration verantworten müssen. Beide – Sicherheitsrat und Präsidialadministration – fungieren damit als Gatekeeper: sowohl Hürde als auch Schnittstelle zwischen den Diensten und der Politik.

Alleine deshalb wird die heutige Stellung des FSB in der russischen Sicherheitsarchitektur nicht selten überschätzt. Neben den bewusst geschürten Reminiszenzen an die Allmacht des sowjetischen KGB kommen diese Fehleinschätzungen nicht von ungefähr: Tatsächlich stammt Putin aus dem KGB-/FSB-Apparat. Tatsächlich tritt der FSB aggressiv auf, sowohl in der Öffentlichkeit als auch hinter den Kulissen: Dies reicht von martialischer Rhetorik bis hin zu oftmals dem FSB zugeschriebenen Auftragsmorden, wie jener am ehemaligen FSB-Offizier Alexander Litwinenko. Hinzu kommt tatsächlich auch, dass der FSB in den letzten 15 Jahren systematisch seine Aufgabengebiete auf Kosten anderer Stellen erweiterte. So unterstehen ihm auch heute wieder die Grenztruppen, auch Kommunikationsüberwachung und Anti-Drogen-Kampf kamen im Laufe der Zeit dazu. Inklusive der Grenztruppen hat die Mitarbeiterstärke dadurch wieder enorme Ausmaße angenommen: Der bundesdeutsche Verfassungsschutz geht von mindestens 350.000 FSB-Mitarbeitern aus.3

Systemische Schwächen

Doch aus diesen äußeren Umständen darf man nicht die falschen Schlüsse ziehen: So beruht die Ausweitung der Aufgaben nicht auf einer vermeintlichen Machtposition des FSB, sondern ist vor allem eine Folge der ständigen Konkurrenzkämpfe zwischen den Sicherheitsbehörden. Geschickt spielen der Präsident und seine Administration die Silowiki gegeneinander aus und halten einen ständigen Wettbewerb um die Gunst des Präsidenten und die staatlichen Pfründe am Leben. Nicht umsonst werden die Geheimdienstmitarbeiter als „Russlands neuer Adel“ bezeichnet.4

Ab und an verschiebt sich das Pendel der Präsidentengunst zwischen den einzelnen Diensten. Dies führt regelmäßig zu Aufgabenüberschneidungen zwischen FSB, SWR und GRU und damit auch zu Kompetenzgerangel. Putin und die Präsidialverwaltung scheinen diesen Wettbewerb gezielt zu fördern – auch, um sich daraus immer wieder die Legitimität für die eigene Schiedsrichterrolle zu verschaffen.5 Außerdem erhofft man sich vom Wettbewerb offensichtlich auch eine Belebung des geheimdienstlichen Geschäfts und somit wirksamere Mittel zur Politikgestaltung.

Zwar hat Präsident Putin im Laufe seiner Amtszeiten immer wieder führende Geheimdienstler aus dem FSB in staatliche Führungspositionen gehoben. Die Informationen des FSB selbst hingegen haben es nicht immer einfach, den Präsidenten zu erreichen.6 Keineswegs übt also der FSB einen besonders hohen Einfluss auf das System Putin aus. Genauso wenig konnte sich Putins Herrschaft aber auch vom FSB loslösen. Dasselbe gilt auch für die Neigung, die Kreml-Politik durch ein Prisma von Verschwörungen und Freund-Feind-Unterteilungen zu erklären. Denn beides, so zahlreiche Beobachter, entspricht der Einstellung sowohl des Präsidenten als auch des FSB. Ob der Präsident dabei seine alte KGB- und FSB-Denkschule auslebt oder aber der FSB Putin nach dem Munde redet, ist letztlich kaum aufzulösen.7


1.Spiegel Online: Russischer Präsident: Putins Stasi-Ausweis in Dresdner Archiv gefunden 
2.Hilger, Andreas (2009): Sowjetunion (1945-1991), in: Kaminski, Lukasz /Persak, Krysztof /Gieske, Jens (Hrsg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944-1991, Göttingen, S. 81 
3.BfV-Themenreihe (2008): Spionage gegen Deutschland: Aktuelle Entwicklungen, S. 5f 
4.vgl. Soldatov, Andrei/Borogan, Irina (2010): The new nobility: The restoration of Russia's security state and the enduring legacy of the KGB, New York; Walter, Ulf (2014): Russlands „neuer Adel“: Die Macht des Geheimdienstes von Gorbatschow bis Putin, Berlin 
5.vgl. Kryschtanowskaja, Olga (2005): Anatomie der russischen Elite, Köln 
6.Galeotti, Mark (2016): Putin’s Hydra: Inside Russia’s Intelligence Services, in: CFR Policy Brief Nr. 169, European Council on Foreign Relations 
7.vgl. Rochlitz, Michael (2018): Die Macht der Silowiki: Kontrollieren Russlands Sicherheitsdienste Putin, oder kontrolliert er sie?, in: Russland-Analysen Nr. 363, S. 2-8 
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