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Großmacht-Sehnsucht als Kriegstreiber

Die Annahme, die Menschen in Russland könnten gegen Wladimir Putin auf die Straße gehen, wenn es ihnen wirtschaftlich schlechter geht, war falsch. Stattdessen richtet sich die Aggression nach außen. Der Soziologe Lew Gudkow erklärt in der neuen Zeitschrift Gorby, wie das Regime die Menschen mit Großmacht-Gesten von ihrem ärmlichen Alltag ablenkt.

Quelle Gorby

Das Bewußtsein, einer „Weltmacht“ anzugehören, spielt für die arme und vom Staat abhängige Bevölkerung Russlands ohne Zweifel eine wichtige kompensatorische Rolle. Der Stolz auf das eigene Land ist untrennbar verbunden mit einer schwer zu unterdrückenden Scham und dem beklemmenden Gefühl, hinter besser entwickelten Ländern zurückzubleiben („… so ein tüchtiges Volk, so ein reiches Land, und dann leben wir in ewiger Armut und Instabilität“).

Diese beiden Bilder – von sich selbst und vom eigenen Land – ergeben zusammen einen Komplex aus Gefühlen, die in ihrer Intensität vergleichbar sind: Von „Stolz“ sprachen bei Umfragen des Lewada-Zentrums in unterschiedlichen Jahren zwischen 49 (1994) und 83 Prozent (2017), von „Scham und Bitterkeit“ beim Gedanken an das eigene Land und dessen Geschichte zwischen 78 (1989) und 48 Prozent (2021). Stolz und Scham – diese beiden Motive sind in der kollektiven Identifikation der Russen dominierend. Im Schnitt antworteten in den vergangenen 30 Jahren 73 Prozent beziehungsweise 60 Prozent der Befragten so. Anders gesagt, die überwiegende Mehrheit hatte und hat extrem widersprüchliche Gefühle bezüglich ihres Landes. 

Das Gefühl von Stolz erreicht stets nach Militäreinsätzen einen Höhepunkt, während es in Jahren von Krisen und sinkendem Wohlstand auf ein Minimum fällt. 

Die Verbitterung über den Zerfall der UdSSR und den Verlust des Großmachtstatus’ ist in der gesamten postsowjetischen Zeit das zweitstärkste Gefühl der Befragten (nach dem Empfinden, in Armut und ständiger „Krise“ zu leben). Mehr als 80 Prozent der Russen, also die absolute Mehrheit, war und ist bis heute der Meinung, Russland solle „seinen Großmachtstatus zurückerlangen und verteidigen“ (dieser Anteil schwankt zwischen 72 Prozent im Jahr 1992 und 88 Prozent 2018). 1998 erwarteten die Russen von Jelzins Nachfolger als Präsident vor allem zwei Dinge für ihr Land: die Überwindung der Wirtschaftskrise und die Erlangung jener Autorität als Weltmacht, über die die UdSSR bis zu ihrem Untergang verfügte. Hier stellt sich die Frage: Was ist das überhaupt, eine Weltmacht, was stellen sich die Menschen darunter vor? (Grafik 1)

 

 

Wie man sieht, assoziieren die Menschen mit diesem Begriff das, was sie sich am meisten wünschen. Das Hauptmerkmal einer „Weltmacht“ ist demnach der Wohlstand des Volkes, ein Lebensstandard wie in „normalen Ländern“ (sprich: „wie im Westen“). Dieser Wunsch wurde in den letzten 20 Jahren nur stärker. Etwas zurückgegangen ist derweil die noch aus Sowjetzeiten stammende Idee einer starken Industrienation (die sich vor allem an staatlichen Interessen, an der Rüstungsindustrie und der Armee orientierte und nicht am Bedarf gewöhnlicher Menschen). Da jedoch der Lebensstandard nicht einfach so auf ein Handzeichen der Chefs steigt, nehmen im Bewusstsein der Massen andere symbolische Komponenten mehr Raum ein. Und zwar vor allem Dinge, die andere Staaten fürchten sollen: militärische Stärke und Atomwaffen (dieser Wert ist von 30 auf 46 bis 51 Prozent gestiegen, also auf das Eineinhalbfache). Im gleichen Maße wächst das Streben nach Isolationismus: Die Bedeutung des „Respekts anderer Länder“, also eigentlich des Ansehens Russlands in der internationalen Arena, ist von 35 auf 13 bis 16 Prozent gesunken und somit um mehr als die Hälfte. (Ich möchte betonen, dass diese Entwicklung bereits vor Beginn der „militärischen Spezialoperation“ eingesetzt hat. Das bedeutet, dass die russische Gesellschaft gut darauf vorbereitet war, die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die bevorstehenden Aktionen zu ignorieren.) Weder Fortschritte in Wissenschaft und Kultur noch die „heroische Vergangenheit“ (ideelle Traditionen und geistige Klammern), weder die gigantischen geografischen Dimensionen des Landes noch die Bevölkerungszahl oder der Reichtum an natürlichen Ressourcen gehören dem Verständnis der Russen nach zu den primären Eigenschaften einer Weltmacht.   

Wenn es sein muss, kann man sich auch mit dem wenigen, was man hat, zu den „Großen“ zählen. Die Identifikation der Russen mit Russland als „Weltmacht“ ist (mit einer Verzögerung um ein Jahr) immer dann am höchsten, wenn es einen Militäreinsatz gab, die Propaganda drastisch hochgefahren und die Stimmung in Richtung Revanche und Dominanz im postsowjetischen Raum angeheizt wird: während des zweiten Tschetschenienkriegs (2000), während des Georgienkriegs (2009), bei der Annexion der Krim (2015) und in der aktuellen „Spezialoperation“.

 

 

Im Vergleich dazu fällt die Kurve zweimal deutlich ab: Als 2005 die Privilegien für ausgewählte Gruppen wie Rentnerinnen und Rentner oder Veteranen gestrichen und durch Geldzahlungen ersetzt wurden. Und während der Massenproteste der Mittelschicht 2011 bis 2013. In der Folge dieser Ereignisse nimmt das Bewusstsein, zu einer Großmacht zu gehören, stark ab.

Gleichwohl waren die Bemühungen der Ideologen des heutigen Regimes, die Akzente in der Vorstellung von einer Großmacht zu verschieben – weg vom Wohlstand und hin zu Phantomen traditioneller Werte und Militarismus, zur Mystik eines tausendjährigen Russlands – nur teilweise von Erfolg gekrönt. Trotz aller Bemühungen um patriotische Mobilisierung würde die Mehrheit der Russen lieber in einem Land leben, das militärisch vielleicht nicht das Stärkste und nicht unbedingt eine Weltmacht ist, dafür mit hohem Lebensstandard und guter Lebensqualität, selbst wenn es nur ein kleines, dafür aber sauberes, gemütliches und ruhiges Land wäre (Grafik 3). Nur eine kleine Minderheit ist bereit, für territoriale Größe zu bezahlen, die durch militärische Überlegenheit und Bedrohung anderer Länder aufrechterhalten wird. Im Schnitt würden es in den letzten 25 Jahren 76 Prozent der Befragten „bevorzugen, wenn der russische Staat sich in erster Linie um einen höheren Wohlstand der Bevölkerung kümmern würde“ und nicht „um die Ausweitung der militärischen Stärke Russlands“ (was nur 16 Prozent der Befragten gern hätten).

 

 

Für den kleinen Mann hat die Vorstellung von „Russland als Weltmacht“ nicht nur die Funktion, ihn zu beruhigen und ihn in seinen eigenen Augen zu glorifizieren. Sie lenkt seine Aufmerksamkeit auch weg von seinem beschwerlichen Alltag auf eine virtuelle Bühne der geopolitischen Rivalität. Manifestationen imperialer Hybris und Erklärungen über die Bedrohung der nationalen Sicherheit interessieren die Russen in ihrem realen Alltagsleben, also als gewöhnliche Menschen, die sich um das eigene Wohlergehen und das ihrer Familien kümmern, kaum. Das heißt aber nicht, dass ihnen diese Themen gleichgültig sind. In ihrer Rolle als Untergebene, also als kollektive Subjekte sind sie stolz auf Russlands militärische Macht, auf seinen „mit Blut gekauften Ruhm“ und das riesige Territorium, das es erobert und dessen Völker es sich untertan gemacht hat.        

Die Angst, diesen Stolz zu verlieren, lähmt das Potenzial der zivilen Selbstorganisation, da für die Menschen ihr Gefühl von Würde keine andere Basis hat als ihre Zugehörigkeit zu einem Imperium. 

Die derzeit verschärft geführten Debatten über den imperialistischen Geist der russischen Kultur und die genetische Veranlagung der Russen zu Expansion und Dominanz tragen spekulative und dogmatische Züge, denn sie gehen einem natürlichen „Großmachtstreben und Hang zum Imperialismus“ aus, als handelte es sich um eine unveränderliche und metaphysische Wesensart. Es wäre dumm, die Bedeutung solcher Konzepte für die russische Gesellschaft zu leugnen, genauso wie die Überzeugung, Russland sei anderen Ländern und Völkern historisch überlegen, und die daraus resultierende Bereitschaft, Gewalt und Herrschaft über diese zu rechtfertigen. Das Problem liegt jedoch woanders, nämlich im Verständnis dessen, welche Rolle diese Vorstellungen in der Gesellschaft spielen (oder wie man in der Soziologie sagt, was ihre Funktion bei der Integration der Gesellschaft ist), wie weit sie in der Masse der Bevölkerung verbreitet sind und welche Gruppen sie für ihre Interessen und Zwecke einsetzen.   

Für die absolute Mehrheit der Bevölkerung (62 bis 66 Prozent) umfasst die Idee des „Imperiums“ vor allem anmaßende und hochtrabende Vorstellungen von Russland als Weltmacht, aber keine militärische Expansion oder die Ausübung von Druck und Gewalt auf andere Länder. Ihre Funktion ist die Aufrechterhaltung der kollektiven Identität (des Nationalstolzes) und die Legitimierung der Staatsmacht, die in den Augen der Bevölkerung dieses Image gewährleistet. Ein Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung (je nach Jahr, durchschnittlich 27 Prozent) ist jedoch für militärischen Expansionismus, obwohl sich nur eine Minderheit – drei bis neun Prozent – entschieden dafür ausspricht, dass die Regierung ihre Macht anderen Völkern und Ländern aufzwingen soll.

 

 

Allerdings ist Widerstand gegen eine solche Politik von der großen Masse der Bevölkerung auch nicht zu erwarten: Die Identifikation mit einem Staat, der den Anspruch erhebt, Autorität und „Weltmachtstatus“ zu haben, geht mit passivem Konformismus und Opportunismus einher. Und das erst recht, wenn jegliche Ausformung der Zivilgesellschaft polizeilich ausgemerzt wird. 

Was bleibt, ist eine schwache Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Teil der Russen hat in den letzten 20 Jahren begonnen, bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte, also die Würde des Menschen und des Landes insgesamt als Grundlage einer Weltmacht anzusehen. Dieser Parameter erreichte nach der Annexion der Krim seinen niedrigsten Wert (13 Prozent). Am höchsten (27 Prozent) lag er bei der letzten Messung vor der „Spezialoperation“ in den Jahren 2018 bis 2021.

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Lewada-Zentrum

In der Sowjetunion gab es keine soziologische Meinungsforschung. Erst mit der Gründung des Zentrums für Studien der Öffentlichen Meinung (WZIOM) im Jahr 1987 begann man, wissenschaftlich fundierte Bevölkerungsumfragen durchzuführen und Meinungsbilder zu erstellen. 1988 kam der Professor für Soziologie Juri Lewada an das Institut, unter dessen Leitung es ab 1992 zum führenden Meinungsforschungsinstitut Russlands wurde. Nach einer staatlichen Einmischung in die Zusammensetzung des Direktoriums verließ die gesamte Belegschaft 2003 das WZIOM und gründete das Analytische Zentrum Juri Lewada, kurz Lewada-Zentrum, mit Hauptsitz in Moskau. Dass auch das neue Institut regelmäßig die politischen Fehlentwicklungen in Russland kritisierte, sorgte für Unmut bei staatlichen Behörden. Bereits 2013 wurde es aufgefordert, sich freiwillig als ausländischer Agent zu registrieren. Das Institut wehrte sich, im September 2016 hat das Justizministerium es jedoch in das Agenten-Register aufgenommen. Damit befindet sich das Zentrum nun unter circa 140 stigmatisierten Organisationen. Wie vielen von ihnen droht nun auch dem Lewada-Zentrum das Ende.

Neben Umfrageergebnissen veröffentlicht das Lewada-Zentrum regelmäßig Analysen und Dossiers zum Zustand der russischen Gesellschaft. Zu den zentralen Publikationen zählt das Jahrbuch Öffentliche Meinung, das über längere Zeiträume Umfragedaten zu den Bereichen Politik, Wahlen und Wirtschaft, aber auch zu kulturellen und sozialen Themen erfasst. Für die Soziologie ist das Jahrbuch das Standardwerk zur öffentlichen Meinung.

Im Gegensatz zu den anderen großen russischen Meinungsforschungsinstituten, dem WZIOM und der Stiftung Öffentliche Meinung (FOM), gilt das Lewada-Zentrum nicht nur als unabhängig1, sondern auch als höchst professionell. Juri Lewada zählte zu den Begründern der modernen Soziologie Russlands, das Institut führt sein wissenschaftliches Vermächtnis soziologisch-sattelfest fort und bietet weitgehend ausgewogene und gut recherchierte Erkenntnisse über den Staat und die Gesellschaft Russlands.

Vor allem der langjährige Leiter des Zentrums Lew Gudkow kritisiert regelmäßig und in einer sehr pointierten Weise die politischen und gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen in Russland.2 Dies brachte dem Institut in jüngerer Vergangenheit Probleme mit staatlichen Behörden ein. Da das Lewada-Zentrum auch für ausländische Auftraggeber Studien durchführt und dafür Honorare erhält, wurde es im Mai 2013 vom Justizministerium aufgefordert, sich in das Register ausländischer Agenten einzutragen. Das Zentrum lehnte dies mit der Begründung ab, es gehe keiner politischen Tätigkeit nach, sondern erforsche lediglich die öffentliche Meinung.

Aufgrund der Befürchtung, das Lewada-Zentrum könnte geschlossen werden, kam es im Sommer 2013 zu einer internationalen Protestwelle zahlreicher namhafter Wissenschaftler, die sich mit dem Institut solidarisierten. Ihr Druck konnte nicht lange aufrechterhalten werden: Kurz vor der Dumawahl verkündete das Justizministerium am 5. September 2016 in einem Fünfzeiler den Eintrag des Instituts in das Agenten-Register.4

Der damalige Leiter des Zentrums Lew Gudkow nahm die Nachricht mit einer Mischung aus „Verstimmung und Wut“ auf. Die Entscheidung bedeute das Ende unabhängiger soziologischer Forschung in Russland, so Gudkow. Das Zentrum habe nämlich keine anderen Möglichkeiten, als sich aus ausländischen Marktforschungsaufträgen zu finanzieren.5

Derzeit ist die Zukunft des Instituts komplett offen.


1.taz: Opposition in Russland. Kreml will Soziologen kaltstellen. Siehe auch Sputnik: Ungenehme Umfragen: Lewada-Zentrum vor dem Aus  
2.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Leiter des Lewada-Zentrums.„Russland bewegt sich in Richtung Diktatur“  
3.Bundeszentrale für politische Bildung: Dokumentation: Die "Verwarnung" an das Lewada-Zentrum  
4.Ministerstvo Justicii Rossijskoj Federacii: Avtonomnaja nekommerčeskaja organisacija «Analitičeskij Centr Jurija Levady» vključena v reestr nekommerčeskich organisacij, vypolnjajuščich funkcii inostrannogo agenta  
5.Novaja Gazeta: Lev Gudkov – o priznanii «Levada-centra» inostrannym agentom: «Ja v bešenstve i v rasstrojstve»  
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AGORA

AGORA ist eine bekannte russische Menschenrechtsorganisation, die sich juristisch für die Rechte von Aktivisten, Journalisten, Bloggern und Künstlern einsetzt. In jüngster Zeit geriet die Organisation in die Schlagzeilen, da sie vom Justizministerium als sog. ausländischer Agent registriert wurde.

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Jewgeni Jasin

Jewgeni Jasin (1934–2023) war ein liberaler russischer Ökonom, der zunächst als Berater von Boris Jelzin und von 1994 bis 1997 dann als Wirtschaftsminister die Wirtschaftsreformen der Jelzinzeit entscheidend mitprägte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war er weiterhin gesellschaftspolitisch aktiv: Jasin war Forschungsdirektor der Higher School of Economics, leitete die Stiftung Liberale Mission und war Kolumnist beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Elite kritisierte er die zunehmende Autokratisierung in Putins Regime und forderte mehr Rechtsstaatlichkeit ein.

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Das Umfrageinstitut WZIOM

Das Meinungsforschungsinstitut WZIOM veröffentlicht regelmäßig umfangreiche Umfragen zu politischen und sozialen Themen. Im Jahr 2003 wurde es von einem Forschungsinstitut in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die zu 100 Prozent dem Staat gehört. Inwieweit dies und die finanzielle Abhängigkeit von Regierungsaufträgen sich auf die Methoden und Ergebnisse der Studien auswirken, ist umstritten, insgesamt gilt das WZIOM aber als regierungsnah. Uneinigkeit herrscht auch darüber, ob Umfragen im gegenwärtigen politischen Klima überhaupt die Stimmung in der Bevölkerung repräsentativ abbilden können.

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