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Einfache Momente – Alltag der Perestroika

Gennady Bodrov wurde 1957 nahe Kursk geboren. Und in Kursk hat er auch fotografiert, bis ans Ende seines Lebens 1999. In der Anthologie der russischen Fotografie im 20. Jahrhundert, an der das Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere in Moskau arbeitet, ist Bodrov der Künstler, der die 1980er und 1990er Jahre repräsentiert.
Dabei wird er erst posthum allmählich entdeckt. Er arbeitete als Pressefotograf, seine Kunst brachte ihm dennoch zu Lebzeiten zahlreiche Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben und vier Einzelausstellungen auch im Ausland ein. Es war vor allem der befreundete Moskauer Fotograf und Kurator Alexander Lapin, der Bodrov mit der inoffiziellen Szene der russischen Fotografie vernetzte. 

Quelle dekoder
Linkes Foto – Freundinnen (Arbeiterinnen), 1983 | Rechtes Foto – ohne Titel, 1980er Jahre / Fotos © Gennady Bodrov
Linkes Foto – Uhr, 1989 | Rechtes Foto – ohne Titel, 1993 / Fotos © Gennady Bodrov
Linkes Foto – Ferien, 1980er Jahre | Rechtes Foto – Alte Treppe, 1978 / Fotos © Gennady Bodrov
Fleisch, 1991 / Foto © Gennady Bodrov

Einfache Motive, der Titel der aktuellen Ausstellung im Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere in Moskau, könnte über fast jeder der Alltagsszenen stehen, die Bodrov fotografierte. In schwarz-weiß wirken sie wie aus der Zeit gefallen. Das Jahr und der Ort (meist war es Kursk) der Szenerie sind schwer auszumachen, ja, unwichtig. Bodrov fängt Stimmungen und Atmosphäre ein. In der Tradition von Henri Cartier-Bresson sucht er nach dem decisive moment, dem entscheidenden Augenblick. Und so wird er doch zum fotografischen Chronisten der 1980er und 1990er Jahre, er, der sich immer als „sozialer Fotograf“ verstand. 

Serien wie 1000-letije kreschtschenije Rusi (dt. Tausendjährige Taufe der Rus) zeigen, wie religiöse Traditionen während der Perestroika in den 1980er Jahren allmählich wiederbelebt werden, ein Karkassen-Haufen erzählt vom aufreibenden Alltag in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und des gesellschaftlichen und ideologischen Umbruchs.

 

Selbstgedreht, 1987 / Foto © Gennady Bodrov
Aus der Serie „Schlangestehen für importierte Stiefel“, 1990/1991 / Foto © Gennady Bodrov
Linkes Foto – Baum, 1996, aus der Sammlung des Staatlichen Museums für Bildende Kunst (Moskau) | Rechtes Foto – ohne Titel, 1980er Jahre / Fotos © Gennady Bodrov
Ohne Titel, 1993 / Foto © Gennady Bodrov
Aus der Serie „Tausendjährige Taufe der Rus“, 1988 / Foto © Gennady Bodrov

Gennady Bodrov zeigt in seinen Fotografien, dass die Perestroika auch, aber nicht nur von Aufbruch und Chaos geprägt war. Und fiel den Auswüchsen der Zeit in den sogenannten Wilden 1990ern selbst zum Opfer: Vor 20 Jahren, am 14. Februar 1999, wurde er bei einem Raubüberfall erschossen. Die Moskauer Ausstellung im Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere, die seinem Werk gewidmet ist, läuft noch bis zum 22. September 2019.

 

Aus der Serie „Tausendjährige Taufe der Rus“, 1988 / Foto © Gennady Bodrov
Aus der Serie „Alte Russen“, 1980er Jahre / Foto © Gennady Bodrov
Neugierig, aus der Serie „Tausendjährige Taufe der Rus“, 1988 / Foto © Gennady Bodrov
Gennady Bodrov, 1957–1999 / Foto © unbekannter Autor

Fotos: Gennady Bodrov, mit freundlicher Genehmigung des The Lumiere Brothers Center for Photography
Bildredaktion: Andy Heller
Text: dekoder-Redaktion
veröffentlicht am 13.08.2019

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

Brot oder Freiheit? Um was ging es den Menschen in der Sowjetunion, als sie die Reformpolitik Gorbatschows begrüßten? Und warum wurde aus dem „Wind of Change“ letztlich ein Hurrikan, der eine Großmacht hinwegfegte?

Es hat sich eingebürgert, von der Zeit der Perestroika (deutsch: Umbau, Umgestaltung) zu sprechen und damit die gesamte Umbruchphase vom sowjetischen System zum neuen russischen Staat zu meinen. Enger gefasst handelte es sich um die Reformpolitik des letzten Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow, die 1986/87 begann und mit der offiziellen Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 endete.

Michail Gorbatschow wurde am 11. März 1985 im Alter von 54 Jahren zum Generalsekretär gewählt und erlöste das Land von der Herrschaft der alten Männer. Er gehörte zu jenem Teil der sowjetischen Parteiführung, der deutlich erkannte, dass das Land sich in einer schwierigen innen- und außenpolitischen Situation befand. Besonders im Bereich der Wirtschaft waren Reformen nötig. Durch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (uskorenie) und eine verschärfte Disziplin sollte die Produktivität gesteigert werden. Dies griff zu kurz. Im Januar 1987 kündigte Gorbatschow mit den Schlagworten Perestroika und Glasnost (Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) eine deutlich entschlossenere Umgestaltung an. Die Mitsprache der Bürger sollte erhöht, die Rechtsordnung gestärkt und die Gesetzgebung verbessert werden. Neue Gesetze erlaubten privatwirtschaftliche Unternehmungen, um Impulse für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben und die Bevölkerung besser mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern versorgen zu können. Im Frühjahr 1989 fanden die Wahlen zu einem Kongress der Volksdeputierten statt, die den Durchbruch für eine demokratische Entwicklung bedeuteten.

Briefmarke zu Glasnost und Perestroika aus dem Jahr 1988

Zunächst noch „von oben“ gesteuerte Medienkampagnen gegen Missstände schufen Raum, immer offener über Probleme des politischen Systems zu sprechen. Dieser Prozess entfaltete eine ungeheure Dynamik und konnte bald nicht mehr kontrolliert oder gebremst werden. Umweltprobleme und ihr verantwortungsloser Umgang damit – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war nur ein Beispiel dafür - konnten nun ebenso diskutiert werden wie die Verbrechen der Stalinzeit, Misswirtschaft, Amtsmissbrauch, Korruption und Schwarzmarkt. In den Mittelpunkt der Kritik gerieten zunehmend die Parteiherrschaft und das Machtmonopol der Kommunistischen Partei.

Besonders in den kaukasischen und baltischen Republiken setzten sich Gruppen durch, die stärkere Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit von der UdSSR anstrebten. Es kam zu Unruhen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Nationalitäten, wie zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Konflikt um die Enklave Nagorny Karabach. Die Balten forderten die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und eine Erklärung über dessen Unrechtmäßigkeit. Schnell stellten die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen die Staatlichkeit der UdSSR insgesamt in Frage.

Zu Beginn der Reformen herrschte Euphorie und die Illusion, die Zukunft brächte bürgerliche Freiheiten und westlichen Wohlstand und bewahre gleichzeitig die gewohnten Sicherheiten des Lebens im Sozialismus. Schon 1990 machte sich Enttäuschung breit. Die Versorgungslage verschlechterte sich dramatisch und die Kriminalität stieg spürbar an. Die Popularität Gorbatschows in der Bevölkerung sank. Konservative Kräfte in der Kommunistischen Partei versuchten, den Reformprozess zu bremsen und entschieden sich im August 1991 zu einem Putsch. Dieser scheiterte am Unvermögen der Putschisten, vor allem aber am Widerstand der demokratischen Kräfte und der russischen Regierung unter der Führung von Boris Jelzin.

In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft bemühte sich Gorbatschow um die Erneuerung des Unionsvertrages. Die Unabhängigkeitserklärungen eines Teils der sowjetischen Republiken und die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kamen dem allerdings zuvor. Am 25. Dezember wurde die rote Fahne der Sowjetunion im Kreml eingeholt und stattdessen die Trikolore des Nachfolgestaates Russland gehisst. Die Sowjetunion existierte nicht mehr. Das Gesellschaftsprojekt Kommunismus fand damit in Osteuropa ein Ende.


Weiterführende Literatur:
Altrichter, Helmut (2009): Russland 1989: Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München
Brown, Archie (2009): Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin
Gorbatschow, Michail (1995): Erinnerungen, Berlin
Kappeler, Andreas (Hrsg.) (1989): Umbau des Sowjetsystems: Sieben Aspekte eines Experiments, Stuttgart/Bonn
Kuhr-Korolev, Corinna (2015): Gerechtigkeit und Herrschaft: Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn
Mommsen, Margareta / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.) (1987): Gorbatschows Revolution von oben: Dynamik und Widerstände im Reformprozeß der UdSSR, Frankfurt a.M./Berlin 
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